Guten Morgen und allen hier ein gutes neues Jahr!
Seit anderthalb Jahren stehe ich vor der Erkenntnis, dass ich alkoholabhängig bin...
Ich bin 56, lebe allein mit meiner 18-jährigen Tochter und Sucht begleitet mich seit meiner Kindheit. Die ersten 30 Jahre in puncto Essen, ich war esssüchtig (seit ich etwa 10 war), konnte mir ein meinem Kummer keine adäquate andere Hilfe suchen und geben. Dann, in zunehmend toxischen Beziehungen, kam Alkohol hinzu, 1998 die erste Depression, seitdem fünf mittelschwere bis schwere Episoden. Alkohol und Essen waren "treue Begleiter", Essen im Übermaß (binge eating), Alkohol regelmäßig, 2-3 Flaschen Bier, meist täglich, aber immer wieder mit längeren abstinenten Phasen und ohne diesen Kontrollverlust.
Ich habe viele Therapien gemacht, in Bezug auf Depressionen und auch meine Essstörung. 2016 mein Leben komplett verändert, Umzug nach 24 Jahren zurück in meine Heimatstadt, 2017 eine Magen-OP, ich dachte, ich hätte es geschafft. Ich war komplett abstinent, Essen hatte eine normale Rolle in meinem Leben angenommen. Dann 2018 Erlebnisse, die mich in meinen Grundfesten erschütterten, Alkohol schlich sich langsam wieder in mein Leben, Essen ging ja nicht mehr und alle meine erlernten Skills reichten nicht aus...
Seitdem rutschte ich wohl Stück für Stück in die Abhängigkeit, weitere schlimme Erlebnisse taten ihr übriges. Ende 2019 eine neue Beziehung mit einem alkoholkranken Partner, schwere Erkrankung meiner Tochter mit monatelangem Klinikaufenthalt, Corona... ich fand keine andere Bewältigungsstrategie als die Flucht in Alkohol. Oktober 2020 Trennung, Januar 2021 mein erster Versuch komplett aufzuhören. Meine Hausärztin, Psychiaterin und Therapeutin habe ich informiert, es hieß, dass bei meinem Konsum keine medikamentöse Unterstützung beim Entzug nötig sei. Ging auch gut, außer Schlaflosigkeit hatte ich keine Symptome. Es war finsterster Corona-Lockdown, keine reale Gruppe hatte offen, ich versuchte es online mit den AA, nach 3 Wochen dann der Rückfall ("Ein Gläschen geht doch..."). Im Suff habe ich mir im März den kleinen Finger gebrochen, auf dem Rückweg gestürzt, nachdem ich kurz vor Ladenschluss zu Fuß noch "Nachschub" geholt hatte. Neustart, gefühlt der absolute Tiefpunkt... denkste, es geht immer noch ein Stückchen tiefer.
Nach ein paar trocknen Wochen (die Sucht ist so ein Arschloch): "Ach, du schaffst es doch, kontrolliert zu trinken". Und die Mengen wurden danach immer mehr. Ich wechselte schon täglich die verschiedenen Filialen wo es "meinen" Cocktail zu kaufen gab, damit die Mengen in einem einzelnen Laden nicht auffielen. Der Vormittag war geprägt von Erholung vom vorabendlichen Suff, Abschwören jeglichen Konsums ("Heute höre ich auf, es reicht!"), ab mittags kam der Saufdruck, spätestens frühen Nachmittag (ich arbeite Teilzeit) Leergut wegbringen, rechtzeitig neuen Vorrat beschaffen, sehnsüchtig auf die selbstgesetzte Grenze achten, ab wann ich trinken durfte (erst ab 18 Uhr, nach 17 Uhr, nicht vor 16 Uhr…), spätestens 21 oder 22 Uhr komatös ins Bett fallen und nach einem besch*** Schlaf aufwachen und sich fragen, wie man den Tag nur überstehen soll.
Bis Juni immer wieder ein On-Off mit nassen und trocknen Phasen, SHG nach wie vor nur online und sporadisch, AA war nicht so meins, halbherzige Versuche, etwas anderes zu finden verliefen im Sande. Dann der nächste Tiefpunkt: nach 4 Flaschen à 0,75 l Cocktail (7% Vol.) im eigenen Wohnzimmer gestürzt, mit dem Hinterkopf irgendwo aufgeknallt.... Gehirnerschütterung. Selbst auskuriert, ich wollte nicht schon wieder auf der Arbeit fehlen, erst am 3. Tag, nach der Arbeit, mit immer noch Riesen-Hämatom am Hinterkopf zur Ärztin, die mich vorsichtshalber ins Krankenhaus schickte, wo die Diagnose bestätigt wurde.
"Jetzt schaffe ich es aber!" Ich begann, Bücher zu dem Thema zu lesen, Beratungstermin geholt in einer Suchberatungsstelle, nach zwei Terminen wurde mir klar: ich hatte irgendwann 2020 eine Grenze überschritten, die unumkehrbar war. Irreversibel. Und ich begann zu begreifen, dass ich es alleine nicht schaffe.
Es dauerte noch bis Mitte Oktober, bis ich über ein Spezialprojekt der Rentenversicherung an einem 2-tägigen "Rehakompass" teilgenommen und danach einen Antrag auf stationäre Suchtreha gestellt habe. Und da bin ich nun, seit 9. Dezember.
Seit 25 Jahren höre ich eine Stimme in mir "Du SOLLTEST wirklich aufhören mit Alkohol". In den letzten anderthalb Jahren die Erkenntnis: "Ich MUSS aufhören, sonst werde ich an dieser Droge frühzeitig sterben!" Und jetzt versuche ich mit Unterstützung der Klinik zu sagen "Ich WILL ohne Alkohol leben!" Für den Rest meines Lebens. Eine Entscheidung für ein Leben ohne Alkohol, selbstbestimmt, so, wie andere sich entscheiden, sich vegan zu ernähren oder auf dem Land zu wohnen.
Der Weg ist noch lang und ich stehe ganz am Anfang. Und ich habe Angst…