"als ich meinen vater gehaßt habe, war es leichter abzuschalten." Stimt Shirley, so gings mir auch. Ich hatte die Verbindung schon einmal völlig gekappt - und es ging mir wirklich gut damit. Bis ... aber dahin komm ich noch.
Heute gehts erstmal weiter in der Geschichte.
Wo war ich stehen geblieben? Ich versuchte mich umzubringen und aus dem Fenster zu springen und sie stand lallend vor mir - "Mach doch, traust Dich eh nicht" - passt, das hat gesessen, gereicht, das Fass zum überlaufen gebracht. Die Schnur war gekappt, die Frau vor mir nicht mehr meine Mutter. Ich hatte keine Mutter mehr. Und ich fühlte mich befreit!
Da ich nach und nach meine Stadt kennenlernte, fand ich mich bald in einer fremden und aufregenden Welt wieder: Die Welt der Straßenkünstler und -musikanten. Ich kannte sie bald alle beim Namen, fand mich als Teil ihrer Welt wieder. Es klingt so unendlich naiv, aber allein die Erkenntnis, dass es darunter Menschen gab, die von ganz anderen Teilen der Erde kamen, traf mich wie ein Blitzschlag. Meine Neugier war geweckt: Wie weit ist eigentlich das andere Ende der Welt entfernt? Schön langsam bekam ich ein Gespür dafür, wie weit das Zentrum von meinem peripheren Stadtghetto weg war, doch wie weit war Afrika, Südamerika, Australien? Kurzum: Ich war unendlich fasziniert! Wie wächst man dort auf, wie fühlt sich das Leben dort an? Zu dieser Faszination kam noch eine andere Erkenntnis: Ich wurde anerkannt, gemocht, fraglos in ihrem Kreis akzeptiert. Das warf mich um - wieso soll ICH gemocht werden? Ich bin doch nichts, niemand. Ich bin doch transparent! Doch diese zum einen Teil positiven Erfahrungen hatten ach ihre Schattenseiten: Schnell wurde ich, damals 16, zum Spielball für viele Männer. Es reichte mir ein paar süße Worte ins Ohr zu flüstern und ich war auch schon vor lauter Dankbarkeit bereit mit ihm ins Bett zu steigen. Jeder war dabei der Einzige, der Richtige, bis halt der nächste Richtige kam. Der Wirbelwind der Gefühle schleuderte mich von einem zum anderen und bald fühlte ich mich kein bisschen gut mehr dabei. Ich fühlte mich benutzt, missbraucht, schmutzig und fremdgesteuert. Ich wurde von vielen gewählt und habe ihre Wahl stets staunend akzeptiert - doch nie kam mir auch nur der Hauch der Idee, dass ICH einmal wählen könnte. Dass es nicht darauf ankommt, wem ich gefalle, sondern wer mir gefällt. Das zu lernen war noch einmal ein sehr langer Weg.
Männer haben mir also gezeigt, dass ich als Individuum wahrgenommen werde, dass ich existiere. Dieselben Männer haben dieses zarte Erwachen aber auch rüde für sich selbst missbraucht. Drüberfahren, wegwerfen, aufgelesen werden, drüberfahren, wieder wegwerfen ...
Aus diesem Strudel musste ich raus!
Der Platz zu Hause ist zum No-Go geworden. Ich bin mittlerweile auch ausgezogen von daheim und habe bei einer älteren Freundin gewohnt. Das brachte mir Abstand von daheim, doch was mir fehlte war jemand, der mich in dieser ohnehin schwierigen Zeit des pubertären Gefühlschaos leitet, der mir sagt, mach das nicht und das schon. Das hätte mir viele üblen Erfahrungen erspart. Auf der anderen Seite bin ich heute das Ergebnis meiner Erfahrungen, der guten und der schlechten, der Tiefpunkte und der wiedererlangten Höhen. Was ist schon "der richtige Weg"?
In der Schule ging es nun stetig bergab. Ich hab Freiheit geschnuppert und war täglich mit dem völlig irrealen Kontrast Schule und Straße konfrontiert. "Was zum Teufel bringen sie mir da eigentlich bei? Das hat doch Null komma Josef mit dem 'Leben' zu tun!".
In diesem Jahr wurde ich dazu verdonnert sitzen zu bleiben und das Jahr zu wiederholen. Eine ungerechte Entscheidung - ich hatte eigentlich alle Prüfungen geschafft, man versuchte mich jedoch für andere Aspekte zu bestrafen. Ich war für den Schulalltag ungemütlich geworden, steckte meine Finger zu oft in tod geschwiegene Wunden und ging zu guter letzt eine Liäson mit dem Assistenten meines Englisch Professor ein. Lauter Tabubrüche, die das Schulsystem nicht hinnehmen wollte. Und die einzige Art, wie sie mich kriegen konnten, war die meine Prüfungsergebnisse kurzerhand zu ignorieren. Wenn ich heute als Mutter daran denke, wie ich damals allein mit dem Rücken zur Wand diesem System der Willkür und des Machtmissbrauchs ausgeliefert war, bekomm ich noch immer die kalte Wut. Und rundum nur obrigkeitshörige Erwachsene. Feige Schisser allesamt.
Nundenn, ich fügte mich in mein Schicksal, scheinbar zumindest. Ich wiederholte das Jahr, begann aber gleichzeitig nebenher zu arbeiten und Geld anzusparen. Mein Ziel war das andere Ende der Welt. Weg, weit weit weg von dem ganzen Schlamassel hier, weg von meiner süchtigen Mutter, weg davon, der Spielball irgendwelcher Typen zu sein. Weg! Ich hatte damals das sehr klare Bild vor mir an einer Weggabelung angelangt zu sein: an dieser Weggabelung ging eine breite asphaltierte Straße weg, der vorbestimmte, der geebnete Weg - Schule, Uni, Beruf. Der andere Weg war schmal und holprig, doch er war MEIN Weg. So hab ich es damals glasklar empfunden. Genauso, wie das bestimmte Gefühl der Sicherheit, dass mich der asphaltierte Weg über kurz oder lang genauso in Sucht und Gosse enden lässt, wie meine Mutter.
Nun, ob die Entscheidung richtig war oder nicht, weiß ich nicht und oft frag ich mich die "was wäre wenn" Frage. Vieles hätte ich mir erspart, wäre ich diesen Schritt nicht gegangen. Es gab einige Situationen, in denen ich eigentlich nur mit viel Glück nicht dabei drauf gegangen wäre. Viele spätere Sch***situationen hätte ich mir erspart, wenn ich meine Ausbildung fertig gemacht hätte. Doch das einzige was zählt war und ist: es war die erste wirklich eigene Entscheidung.
Und ich zog sie auch durch, sagte das halbe Jahr der Planung niemanden ein Wort davon (vor allem, weil ich nicht wollte, dass sich dann irgendwer Vorwürfe macht) und war ohnehin bis zuletzt überzeugt, dass es garnicht möglich ist. Schließlich bin ich minderjährig, da mussten doch gesetzliche Schranken sein, die mich davor bewahren würden einen "Blödsinn" zu machen. War aber nicht - ich kaufte mein Ticket (und niemand fragte nach der Erlaubnis eines Erziehungsberechtigten), das billigste versteht sich - russische Airline mit 5 Zwischenstopps. Allein der Flug dauerte 2 Tage. Und zwei Tage nach den Weihnachtsferien war es dann soweit. Flughafen - Passkontrolle (wieder hielt mich niemand auf), Flugzeug, Abflug. Noch immer hielt mich niemand auf. Zwischenstopp in Moskau - tief verschneit, aus dem Buglochfenster sehe ich eine Gruppe Soldaten mit Pelzmützen und Maschinengewehren. Ich war überzeugt davon: die waren da, um mich zu holen. Ja, was denn sonst? War aber nicht ... und nach zwei Tagen saß ich dann am anderen Ende der Welt, saß auf dem Dach eines Hauses in den Slums einer fremden Stadt, blickte in die Smogwolken, die über den Dächern wabberten und dachte mir: Da sitzt Du nun! Und wie solls weitergehen? Tja, so weit hab ich natürlich nicht gedacht. Zum einen weil ich sicher war, hier überhaupt nicht ankommen zu können, zum anderen, weil mein Ziel ein so unendlich diffuses, naives war: Ich fühlte mich wie ein leeres Gefäß ohne Inhalt - jeder konnte mir seine Meinung zur Welt erklären und ich saß bloß mit offenen Mund da und nickte, und wenn der nächste mir voller Überzeugung das genaue Gegenteil erzählte, saß ich genauso da und nickte. Offenbar hatte jeder eine eigene Meinung. Bloß ich nicht. In mir wars leer. Und so war mein diffuses Ziel bloß jenes, "auszuziehen um die Antworten des Lebens zu finden". Halleluja! Heute muss ich lächeln über so viel kindliche Naivität und den Kopf schütteln über den Wahnsinn, in den ich mich da eingelassen hatte. Und doch - bin ich heute das Ergebnis dieses kindlichen Naivität. Vielleicht hat sie mich sogar gerettet, wahrscheinlich hätte ich es mir aber auch garnicht so schwer machen müssen. Eines jedenfalls hat geklappt: Ich hab meine Antworten gefunden.
So, genug für heute ...