Hallihallo.
Gerade lese ich ein Buch über die Familienkrankheit Alkoholismus. Ich bin verwirrt davon, wieviel mir da nah geht.
Jeden Tag scheine ich etwas Neues über mich zu lernen, oder eine neue Lesart von etwas an mir, das ich schon genau zu kennen geglaubt habe. Ich dachte immer, ich kenne mich gut. Ich dachte, ich verdränge nichts, ich trage keine Masken, ich kann gut für mich sorgen. Und dann muß ich meinen Blickwinkel nur ein ganz klein wenig verschieben, und nichts davon stimmt mehr. Oder?
Alles was ich über mich weiß löst sich in Puzzleteile auf.
Ich hab die konkreten Beispiele im Kopf schon formuliert, jetzt sind sie verschwunden.
Meine Stimmung bewegt sich in Wellen. Manchmal ganz gut, manchmal nicht. An den schlechteren Tagen lodert es in mir, ich bin dann nur WÜTEND. Bevorzugt auf meine Exfreundin, aber es geht nicht in Wirklichkeit um sie, sie ist nur ein Symbol oder ein Sündenbock. Nichts was sie mir getan hat könnte eine solch gewaltige Gefühlsintensität rechtfertigen.
Ich habe immer gesagt, ich weiß gar nicht, wie Haß ist, das Gefühl verstehe ich gar nicht. Warum sollte ich je jemanden hassen? Nur einmal habe ich wen gehaßt, der meinen Freund bedroht hat, für einen kurzen Moment, um in Verteidigungsstellung zu gehen.
Diese Wut in mir, die ich gar nicht so kenne, könnte man auch mit Haß beschreiben. Einfach nur wildwuchernd, extrem.
Und dann heute bin ich völlig ausgeflippt, allein im Haus meiner Eltern, als ich in die Stadt gehen wollte und meine Kette und meine Stulpen nicht finden konnte. Kennt ihr dieses ganz entsetzliche Hilflosigkeitsgefühl, das von der tatsächlichen Situation abgekoppelt ist?
Ich fange dann an, mich schrecklich zu hassen dafür, daß ich nichts kann und die Kontrolle mir weggefallen ist, daß ich diese Sachen nicht finden kann! Wie kann das überhaupt sein, sie MÜSSEN DOCH DA SEIN!
Ich wußte das gar nicht, daß ich mich dann hasse.
Aber heute erkannte ich auf einmal das Gefühl wieder.
Dasselbe Gefühl wie an meinen schlechten Tagen, auf die Exfreundin gerichtet.
Wenn es nach außen gerichtet ist, fällt es mir auf. Dann ist es mir ja fremd, neu.
Wenn es auf mich gerichtet ist, dann ist es mir so vertraut, daß ich es nicht zuordnen kann, etwas das zu mir gehört wie mein Arm oder meine Augen.
Aha, Haß ist das also.
Ich hasse mich also, manchmal.
Wow.
Das finde ich gar nicht so einfach, das in mein Selbstbild zu integrieren.
Mhm, aber ich wußte das doch? Es ist mir vorher schon begegnet.
Ja, aber nicht so drastisch, so explizit, mit der Legende dazu, die mir den Namen gibt das Gefühl zu bezeichnen.
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Alles ist gerade tendenziell sehr extrem.
Normalerweise kann ich --
-- ha, das denke ich oft zur Zeit!
Ich denke, aber normalerweise bin ich X, und dann kann ich Y, und normalerweise kann ich doch soundso mit dieser Situation umgehen?
Aber wann oder wo ist dieser Normalzustand? Woher hab ich diese Idee, wer ich normalerweise bin? Was ist normal? Meine Beispiele sind alle lange her.
Also ich denke z.B., normalerweise kann ich gut meine Gedanken und Gefühle ordnen und auch beurteilen, ob dies oder jenes Gefühl jetzt der Situation angemessen ist, oder ob es vllt woanders herkommt.
Aber zur Zeit ist alles durcheinander, ich kann meine Gefühle kaum mehr ordnen, die Gedanken verschwimmen.
Angemessenheit oder Normalität sind keine eindeutigen Kriterien mehr, ich weiß es alles nicht.
Meine Urteilskraft ist in einem Strudel verschwunden. Das fing letztes Jahr an, Werte infrage gestellt, ein Stück weit anhand meiner Intuition neu orientiert. und jetzt, in der zweiten Phase sozusagen, muß wohl die Intuition auch generalüberholt werden?
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Im Übrigen würde ich mir wünschen, daß mein Vater ein gesundes Trinkverhalten hätte. Gerade wohne ich bei den Eltern; ich mag ihn nicht gegen Mittag mit nem Glas Schorle sehen.
Kürzlich sprach ich mit ihm über sein Trinkverhalten. Er anerkennt, daß es ein süchtiges Verhalten ist, aber es beeinträchtige ihn nicht, er habe einen Blick darauf und habe seine tägliche Alkoholdosis in 20 Jahren eher verringert als vergrößert.
Das kann ich alles aus Beobachtungen bestätigen.
Er sagt, wenn er beeinträchtigt würde durch den Alkohol oder er mehr trinken würde, dann würde er ne Therapie machen und aufhören, aber solange das nicht so ist, mag er sich nicht ändern.
Versteh ich, macht irgendwie Sinn.
Es fuchst mich gebranntes Kind aber trotzdem, wenn ich ihn mit dem Glas in der Hand am Mittagstisch sehe, ganz egal, ob da fast kein Wein drin ist. Und ich hab das Gefühl, ich würde das nicht sagen können, er würde sauer werden, sich bevormundet fühlen.
Da fühle ich mich bedroht.
Mhm.
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So viel Chaosworte.
Morgen ne Therapiestunde, mal sehen, wie ich mich da ordnen kann.
Liebe Grüße!
Margo