Teil 3 - der Beginn des trockenen Lebens
Der Beginn meiner Abstinenz, sowohl was Alkohol als auch Nikotin betrifft, war wie bereits beschrieben nicht ganz freiwillig bzw. ich hatte keinen Einfluss mehr auf das Geschehen. Ich selbst erinnere mich bruchstückhaft an die ersten Stunden in der Notaufnahme. Ich muss wohl noch meinen Vater angerufen haben, der will mit mir über meine Verlagerung auf die Intensivstation und ins künstliche Koma gesprochen haben. Ich erinnere mich nicht, beim besten Willen.
Man sagte mir später: am gleichen Tag, an dem ich aufgenommen wurde, musste man mich ins künstliche Koma versetzen, die Bauchspeicheldrüse war so entzündet, dass Teile nekrotisierten, also abstarben, die Galle war entzündet, die Milz, ich hatte eine Bauchfellentzündung sowie eine Sepsis, eine Lungenentzündung und was weiß ich noch alles. Und ich muss wohl im Bett randaliert haben, da ich offensichtlich schwer enzügig war, nicht nur wegen des fehlenden Alkohols, sondern auch, weil man mir meine Medikamente nicht geben konnte. Allesamt machen eben auch abhängig, darum ist es absolut gefährlich im Entzug nur auf Medis zu setzen. Den Entzug von Medikamenten schafft man, wenn man Pech hat, niemals.
Beim künstlichen Koma ist man im Prinzip in einer intensiven langen Narkose. Das Problem bei langjährig Alkoholkranken ist, dass der Stoffwechsel völlig verändert ist und die Medikamente, die einen sedieren und narkotisieren sollen nicht wirken. Es ist sehr schwer für die Ärzte, eine Dosierung zu finden, die auf der einen Seite ihren Zweck erfüllt und den Patienten auf der anderen Seite nicht umbringt. Das letztere war bei mir der Fall, deswegen wurde ich reanimiert. Insgesamt kämpften die Ärzte drei Wochen um mein Leben, bis ich einigermaßen aus der Gefahr heraus war.
Für mich waren die insgesamt 6 Wochen im künstlichen Koma eine endlose Reise in eine grauenhafte Traumwelt, in der meine übelsten Urängste ausgelebt wurden. Da man es nicht immer schaffte, mich richtig zu sedieren, hatte ich mitten in Operationen am offenen Bauch lichte Momente, ich sah Ärzte in ihren grünen Schutzkleidern, sah Blut, hörte Kreischen und bestialische Schreien. Ich sah in anderen Momenten Ärzte und Schwestern von oben, sah mich im Bett liegen, ich sah grauenhaft aus. Man quälte mich, sperrte mich ein, schoss auf mich. Ich arbeite diese ganzen Träume und Halluzinationen derzeit auf, ich will hier nicht mehr schreiben. Dennoch wollte ich euch zumindest ganz grob skizzieren, dass man nicht einfach schläft, sondern das Gehirn und die Sinne arbeiten natürlich weiter.
Auf jeden Fall habe ich in dieser Zeit kein Gefühl mehr für Zeiträume gehabt. Alles kam mir endlos vor. Ich erlebte Ärzte und Schwestern, obwohl ich weggeschossen war. Als ich später langsam zu mir kam erschrak ich oft, wenn ich Personal aus meinen Träumen wieder erkannte und mit ihnen Schlimmes verband.
Sehr schlimm war für mich, dass ich plötzlich sah, dass im Bett neben mir mein Vater lag und ich sah, wie sich sein Brustkorb unter künstlicher Beatmung hob und senkte. Irgend jemand erklärte ihn für tot, ich weinte und war unendlich traurig. Dann sagte ich, solange sich sein Brustkorb bewegt atmet er, dann lebt er. Dennoch war ein (orthodoxer) Priester des und es waren Ikonen aufgebaut. Plötzlich erschrak ich bis ins Mark, denn mein Vater stand plötzlich an meinem Bett, es war halbdunkel, ich erkannte seine typische Jacke und er erzählte mir etwas. Ich gewöhnte mich daran, dass er jeden Tag für tot erklärt wurde und abends wieder lebendig war. Ich habe letztes Jahr erfahren, dass neben mir ein alter Mann lag, der künstlich beatmet wurde. Den habe ich gesehen, weil man davon ausging, dass ich von den Medis weggeballert sei, daher verzichtete man auf die sonst übliche Trennwand aus Stoff. Er war aus Russland und seine Angehörigen hatten Ikonen aufgestellt. Zudem war tatsächlich einmal ein Priester anwesend, weil jemand verstorben ist. Die Schwester, die mir das alles verraten hat, war wirklich erschrocken, was ich alles mitbekommen habe. Ich werde ihr und einer Ärztin die damals dabei war ausführlich berichten, vielleicht hilft es, dass man mit den Patienten anders umgeht.
Meine Exfrau und mein Vater waren jeden Abend da, sie haben an meinem Bett mit mir gesprochen, gesungen, Spass gemacht, als ob ich wach wäre. Ich habe vieles zwar verzerrt in meiner Traumwelt mitbekommen, aber es hat mir geholfen, mich wieder zurück ins Leben zu kämpfen. Denn ich war schon irgendwo im Dunkeln, allein mit all meinen Ängsten und Gedanken, wie in einer endlosen Schleife. Dann merkte ich, dass ich mich immer weiter entfernte. Durch Vater und Frau kam ich zurück. Mir wurde berichtet, dass sich meine Werte schlagartig besserten, nachdem man mich eigentlich aufgegeben hatte.
Sechs lange Wochen war mein Bauch komplett offen, es erfolgten zwölf Operationen, in meinem Rumpf steckten Schläuche, an deren Ende Beutel waren, die das Wundwasser und Eiter aufnahmen. Jedenfalls wusste ich plötzlich, dass meine Frau gleich kommt, als ich sie sah, freute ich mich. Ich bin immer wieder in die Traumwelt gefallen. Aber ich verstand: es ist der 23.12.13 und ich bin im Krankenhaus. Am nächsten Tag, Heiligabend, waren Frau und Tochter da, ich dachte ich hätte gesessen und meine Tochter umarmt, aber ich lag die ganze Zeit. Erst am zweiten Weihnachtstag realisierte ich, dass ich liege, nicht weiß wie ich heiße, unter dem Kehlkopf einen dicken Schlauch stecken habe, ständig Erstickungsanfälle bekomme, dass ich nicht sprechen und nicht richtig hören kann. Dann habe ich irgendwann bemerkt, dass ich gar nichts mehr kann und ich habe meine Arme gesehen. Ich war vollkommen abgemagert, alle Muskeln waren durch das Koma weg. Sechs Wochen vorher wog ich 100 Kilo, nach den sechs Wochen unter 50 Kilo. Ich merkte, dass ich überall, auch im Gesicht, Narben und Verletzungen hatte. In meiner Nase steckte ein Schlauch, durch den ich künstlich ernährt wurde. Ich habe laut den Schwestern mehrfach die Schläuche herausgerissen und mich dabei zum teil schwer verletzt.
Eines war aber gut: ich wußte auch nicht mehr, dass ich mal geraucht und gesoffen habe. Die Erinnerung war zunächst weg. Ich habe auch meine Tochter mit einem falschen Namen angesprochen.
Das Ausmaß der Katastrophe wurde mir nur langsam klar. Durch das langsame Absetzen des Medikamente und das Weaning, also das Entwöhnen von der künstlichen Beatmung, kam es auch zu Halluzinationen, also ich fiel immer wieder in Zustände, die einem Delir ähneln. Das Schlimmste war, dass ich langsam begriff, dass ich nur liegen konnte, nur auf dem Rücken und sonst nichts. Irgendwann kamen dann Krankengymnasten, die rissen an mir herum und versuchten, mich mit zig Kissen hinzusetzen. Dabei sah ich, dass meine Beine und Füße auf das Zigfache angeschwollen waren. Ich wußte teilweise nicht, wie mir geschah, es kamen Ärzte und eine Horde Studenten, die erzählten etwas über mich, was ich so außer Trinken noch so gemacht und auch mal geleistet habe und erzählten etwas von Wunder. Ich konnte zeitweilig immer noch nicht richtig hören, mir war das damals zu viel.
Ich erholte mich kopfmäßig schnell, körperlich nicht. Nun waren die Schmerzen der Narben, den Innern des Bauches, der Beine usw. nicht auszuhalten, ich hatte zudem einen Dekubitus, war also durchgelegen.
Da man auf der Intensivstation nicht richtig schlafen kann, weil grelles Licht und Lärm herrschten, wurde ich langsam ungehalten, je mehr ich klar wurde. nun erinnerte ich mich auch an die Trinkerei, die Probleme und das Rauchen. Die Probleme waren zunächst durch meine Angehöriger unter Kontrolle, Wohnung war geräumt, eine neue Wohnung, die zufällig unter meinen Eltern frei wurde, war für mich vorbereitet. Die katastrophalen Finanzen (man sollte besser nur von Schulden reden) waren ebenfalls vorläufig unter Kontrolle. Zu den Erinnerungen an die Trinkzeit hatte ich kein Verhältnis, es war weit weg und die Erinnerungen widerten mich an. Aber ich hatte zeitweilig das sehr starke Bedürfnis nach Zigaretten. Vor allem roch es auf der Station irgendwie nach Rauch. Aber dieses Verlangen war immer nur sehr wenige Minuten vorhanden.
In der ersten Januarwoche 2014 kam ich dann endlich auf eine Normalstation, wo man sich auf Seite des Personals schon das Maul zerriss über den "Säufer" und seine Keime. Als man mich wegbrachte, sah ich, auf was für einer erbärmlichen Sterbestation ich gelegen hatte.
Es folgte eine Zeit von knapp 7 Wochen Einzelhaft. Ich hatte multiresistente Keime und deswegen legte man mich in ein Einzelzimmer. Mein Vater kam jeden zweiten Tag, den freien Tag kam meine Frau sowie zwei alte Freunde. Die Ärzte sah ich jeden Tag 2 Minuten, Schwestern kamen beim klingeln nach einer Stunde und meistens wurde ich angeschrieen. Es ist so: als Alkoholiker hat man menschlich gesehen im Allgemeinkrankenhaus oft schlechtere Karten. Dennoch: wenn an bereits erhebliche körperliche Schäden hat, ist es immer besser, in ein normales Krankenhaus zu gehen. Ist man noch einigermaßen gesund, fährt man auf jeden Fall in der Psychiatrie besser.
Da ich auf Grund meines schlechten Zustandes und Morphinen völlig genervt war, konnte ich den Fernseher nicht ertragen. Statt dessen dachte ich viel nach, über mich, meine Kindheit, das gestörte Verhältnis zu meinen Eltern, meine gescheiterte Ehe, den Alkoholismus und was nun werden soll. Die Klinik stellte fur mich einen Reha Antrag bei der Rentenversicherung, denn das linke Bein blieb gelähmt, die Polyneuropathie war erheblich sowie viele andere Diagnosen.
Nach Durchsicht der Unterlagen entschied die Rentenversicherung, dass ich eine Reha nicht durchstehen würde und schickte mich unbefristet in Rente. Die Reha gab es nicht. Meine Angehörigen bekamen Angst, Angst, dass sie mich pflegen sollen. Pflegen müssen. Nun stellten sie es so dar, dass alkoholismus keine Krankheit ist und ich alleine schuld bin an meiner Situation. Meine Mutter, die in drei Monaten ein Mal zu Besuch kam, nur, weil mein Vater sie gezwungen hat, faselte etwas von "wenn du bei Bier geblieben wärst statt zu Schnaps zu wechseln wäre alles besser". Was soll es, sie hat mir sowieso oft genug gesagt, dass sie meinen Vater heiraten musste, weil ich unterwegs war und ich ihr das Leben zerstört habe.
Ich fühlte mich wir früher, ungeliebt, nichts wert, unerwünscht. Aber eine Sache war anders: früher bekam ich sofort bei diesen Gefühlen den Drang zu trinken, nun war das komplett weg. Im Gegenteil: bis heute halte ich alle Probleme aus und reflektiere sie.
Ich habe im Krankenhaus mit dem Sozialarbeiter, mit dem Seelsorger und einigen wenigen Ärzten, die sich Zeit nahmen, gesprochen. Auch der Sozialarbeiter, der mich vorher während der nassen Zeit betreute, besuchte mich. Ich traf noch im Krankenhaus einige Entscheidungen, die ich als Basis für mein abstinentes Leben betrachte. Das werde ich nächstes Mal darlegen.
Ich denke, um mich zu verstehen, ist diese Vorgeschichte, die ich dargestellt habe bedeutsam. Bedenkt immer eines: Jeder Trinker ist anders, jede Geschichte ist anders. Aber eine Sache haben wir alle gemeinsam, nämlich ein geringes Selbstwertgefühl.
Ich freue mich, wenn Ihr weiter Interesse zeigt. Ich habe morgen zum wiederholten Male einen Gutachter hier, der sich anmaßt, innerhalb von ein paar Minuten urteilen zu können, ob die Pflegeversicherung Geld raushaut, das ich gebrauchen könnte, damit das Badezimmer so umgebaut wird, dass ich duschen kann und viele andere Dinge. Es ist frustrierend, dass man als eine so kleine Wurst sich vor den Behörden und Stellen quasi ständig nackt machen muss, dass diese Leute in den Schränken und im Klo herumschnüffeln. Komisch, wenn die Zocker in den Banken das Geld ihrer Kunden verzocken, dann macht der Staat Milliarden locker. Aber gut, das gehört Bier nicht her.
Manchmal ist es schwer, nüchtern vieles zu ertragen. Umso stolzer kann man sein, wenn man es denn bewältigt hat.
Bis nächstes mal euer Freddy