Kapitel 3: Die mysteriöse Erkrankung - oder wie vom Verdacht auf ALS nur noch der Alkohol übrig blieb
Eigentlich wollte ich mich in meinen Beiträgen vor allem mir widmen und nicht zu sehr über meinen Papa oder meine Mama schreiben. Aber ich glaube, dass es wahnsinnig vielen da draußen so geht wie mir am Anfang. Da zeigen sich bei einem geliebten Menschen langsam Symptome, ein Verdacht was der Übeltäter sein könnte, ist meist schon da. Der Alkohol könnte es sein, ABER, und das war bei mir der Fall, ich kannte mich zu wenig mit Alkoholismus aus. Ich wusste nicht, welche psychischen und körperlichen Folgen jahrelanger Konsum haben kann. Vieles kommt schleichend und ähnelt leider Symptomen anderer Krankheiten. Ich war verunsichert, wollte nicht voreilig alles auf den Alkohol schieben. Aus Hoffnung, dass mein Papa mich nicht anlügt, es nicht alles an SEINER Entscheidung liegt, etwas zu ändern. Wie doof das jetzt für mich klingt. Als müsste ich den Alkohol vor bösen Anschuldigungen schützen :D. Bis ich sattelfest anderen und vor allem MIR sagen konnte, es ist der Alkohol und nichts anderes, habe ich viele Lektionen lernen müssen.
März 2021: Einlieferung meines Papas ins Krankenhaus mit Rippenbrüchen und Hüftfraktur - Ursache Sturz durch Schwindel. Erste Erkenntniss, es könnte am Alkohol liegen. Keine Woche später, Entlassung meines Vaters auf eigene Faust weil Quote: „die wollen mich hier umbringen! Die machen mit mir Experimente“. Später stellt sich dann raus, dass seine Rippen nie richtig verheilt waren.
April-Juni 2021: Er ist zu Hause, nimmt zwar seine Medikamente, aber sonst passiert nicht viel. Erste, mal zaghaft einsichtige, und dann wieder trotzige Bestätigungen seinerseits, dass er ein Alkoholproblem habe. Und dann wieder keins. Viele Telefonate mit meiner Mama. Thema, fast immer der Zustand meines Vaters. Meine Gedanken kreisten wahlweise darum wie es ihm gerade geht und was er gegen seine Sucht unternimmt. Oder wie es meiner Mama gerade geht und was sie unternimmt. Meine Mama würde es vermutlich abstreiten, aber sie hat sich dankbar auf den Verdacht meines Vater eingelassen, eine mysteriöse Krankheit zu haben. Er hat irgendwann aus seinen körperlichen Symptomen keinen Hehl mehr gemacht, hat sie bemitleidenswert aufgezählt. Ob Absicht dahintergesteckt hat, ich weiß es nicht, denke aber schon, und es hat funktioniert. Wir hatten Mitleid, haben uns Sorgen gemacht und haben das gemacht was er sich wahrscheinlich erhofft hat, den Alkohol in Ruhe gelassen. Der Arme hatte Schwindel, einen nach seiner Aussage völlig unerklärlichen Gewichtsverlust, ständige Schmerzen in den Beinen und Füßen. Wo kommt das nur her? Das MUSSTE was ganz schlimmes sein, aber auf gar keinen Fall wegen dem Alkohol. Irgendwann stand dann die Diagnose ALS im Raum. Ich war völlig von der Rolle. ALS. Què? Fragte meine Mama was der Arzt noch gesagt hat?…….welcher Arzt? Mein Papa war natürlich nie beim Arzt gewesen. Ich hätte es mir nach dem Lesen im Forum denken können. Also einfach nur Selbstdiagnose? Japp. Aha. Ja ne, is klar.
Meine Mama und ich haben uns wochenlang hinhalten lassen, mit der Absichtsbekundung meines Papas zum Neurologen zu gehen. Das betone ich deshalb, weil ich nicht hingehalten werden kann, wenn ich das nicht will. Passiert ist auch hier nie was. Wäre ja viel zu schlimm, wenn er wirklich ALS hätte. Das hat vor allem meine Mama erstmal ruhig gestellt. Ich hatte dann aber irgendwann die Nase voll, weil ich mich wie gesagt parallel hier im Forum immer besser eingelesen hatte und für mich die Lage sortieren wollte.
Bei einem Besuch Anfang Juli, habe ich ihm dann gesagt, dass er ziemlich kaputt aussieht und er jetzt endlich mal zum Arzt gehen soll. Bin dann doch weich geworden und habe versöhnlichere Worte gewählt. Gesagt, wenn es eine schlimme Krankheit wäre, dann wüsste er wenigstens Bescheid. Schlimmer wäre, wenn es gar kein ALS ist und er sich die ganze Zeit verrückt macht. Er stand nur da und hat brav genickt.
Mittlerweile weiß ich, dass er da schon wusste was Phase ist. Im Krankenhaus im März hatte man längst die Alkoholsucht diagnostiziert und auch bei seiner Ärztin war das sicherlich nicht unerkannt geblieben. Davon hat er uns natürlich nichts erzählt. Warum sollte er auch? Er hatte nicht die Absicht dem Alkohol den Rücken zu kehren.
An besagtem Tag war ich extra zu meinen Eltern gefahren um mit meinem Papa zu sprechen. Und zwar über seinen Alkoholkonsum und das wollte ich mir nicht nehmen. Ich war super zuversichtlich, ich kann was bewegen. Schließlich hab ich zwei Jahre Therapie gemacht und jahrelanges Kommunikationstraining hinter mir. Kam mir vor, als würde ich den Teufel austreiben können. Wie unfassbar falsch ich lag. Ich habe gesagt, dass ich mir Sorgen mache, bin vollkommen bei mir geblieben und wie es mir damit geht. Ich dachte, meinem Papa kann es ja nicht egal sein, wie ich mich fühle. Nichts, Null Reaktion. Ein letzter Versuch von mir, ihm zu empfehlen sich Hilfe zu holen. Mit welchem Nachdruck plötzlich die Worte „Ich mach das alleine“ kamen, wahnsinnig. Am meisten verletzt hat mich an dem Tag, dass er meine Liebesbekundung mit einem Scherz und Lachen abgewehrt hat. Er hat sich darüber lustig gemacht. Für mich hat sich damals der Bilderbuch-Alkoholiker gezeigt, von dem hier im Forum so oft berichtet wurde. Ich war desillusioniert, habe angefangen zu weinen. Danach dämmerte mir langsam, ich brauche keine Gespräche mit dem Ziel zu führen zu belehren, zu bekehren oder umstimmen. Es ist seine Entscheidung und ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidung selbst, nur was ich daraus mache. Also was mache ich daraus?……
Nebenkommentar:
während ich diesen Absatz geschrieben habe, sind viele Szenen und Gefühle wieder hochgekommen, ich habe alte Nachrichten aus der Zeit auf meinem Handy gelesen und eine neue Form von Trauer überkam mich. Anders als ich sie in den letzten Wochen erlebt habe. Ich habe das hier mehr gebraucht, als ich geahnt habe.