Liebe Liesel,
"Angst fressen Seele auf" fiel mir gerade spontan ein. Es liest sich, als betreibst Du schon sehr lange zuverlässig den Aufwand der Welten, um nicht bei Deinem Thema in Eurem zu landen. Du akzeptierst, zauderst, hinterfragst, fragst hier Dinge, die gar nicht wesentlich sein sollten oder sind - im verzweifelten Bemühen, vielleicht auch unbewusst, Dich nicht konfrontativ mit Deiner Rolle und der Situation Deiner Tochter auseinandersetzen zu müssen - wie es sinnvoll und angemessen wäre. Denn in Teilen machst Du das ja allmählich und das ist gut so, jede Frage wert. Du bekommst hier aber so viel Input und Hinweise, trotzdem läufst Du lieber ausufernd die Abzweigungen über alle möglichen parallelen Felder (MPU, Leberwerte, Tochterverhalten, Beschreibungen von Zuhause, Urlaub, Trennungsthematik, "in guten wie in schlechten) und Strafrunde - wieder von vorne. Bei einem Deutschaufsatz würde man schreiben: Thema verfehlt. Das ist dann leider insbesondere für Deine Tochter auch kein "ausreichend" mehr im realen Leben- für sie eilt es. Du bist bei "ist das so", "ich weiß nicht". Raus aus dem Kükenstatus - Informiere Dich, werde zum Experten in -Deiner- Sache, nicht Leberwerten und ihrer Einordnung.
Ich musste mir das damals erst verinnerlichen (wenn man wirklich am Boden ist, hat man keine Wahl): Veränderung ist nie einfach. Nie. Immer mit Ängsten behaftet. Wir bekommen keinen roten Teppich, keine sanfte Landung, keinen doppelten Boden, keinen zarten Übergang. Wir warten aber geradezu darauf, verhandeln. jedes Schrittchen. So viel wägst Du weder für Urlaubsplanung, noch OPs, noch Hausbau, Heirat oder Kinderkriegen ab.
In den Momenten, wo wir entscheiden müssen, es uns so schlecht geht wie nie und wir genau dann eigentlich mehr Zuwendung bräuchten, kommt sie nicht -im Gegenteil. Es wird noch viel mehr Kraft von Dir erwartet. Wohl dem, der noch Freunde und jemanden aus der Familie hat. Manchmal kämpft man nicht nur mit sich, sondern wird noch von außen bekämpft (Wie kannst Du gehen/verlassen?). Ich finde, es hilft, sich das bewusst zu machen. Es wird meistens massiv schlimmer in Punkto "neue Felder bearbeiten", bevor es besser werden kann. Es gibt ungefähr tausend und ein "ja, aber, geht nicht, weil". Vergiss es. Es geht immer. Ohne Job, ohne Geld, mit Schulden, die entstehen, mit Folgen für alle, mit schlechteren Wohnverhältnissen, mit radikaler Veränderung der Lebensgewohnheiten. Freiheit und persönliches Glück, Frieden ist es immer wert. Gewaltvolle, suchtgewaltige schädigende Strukturen zu verlassen. Wir sind es nur nicht gewohnt, Kontrolle ein Stück weit bewusst abzugeben, nicht genau zu wissen und zu planen, was kommt. Wenn mir jemand vor 20 Jahren gesagt hätte, Dein Konto ist geräumt worden, Dein Job ist weg, hätte mich das früher in Punkto Sicherheit um den Verstand gebracht. Heute nicht mehr. Ich habe mich aus Gewalt, Alkoholismus anderer, der Beziehung dazu, den Kontakten der nahezu gesamten Familie (stehen hinter dem Täter- Alkohol verbündet) mit Kleinkind herausgearbeitet. Aufgrund ungünstiger Umstände manchmal für mich nur mit Nudeln am Tag. Es hat Jahre gebraucht, sich wieder zu stabilisieren, aber es wird. Es ist anstrengend, neue Ängste, Einbrüche mental -aber Frieden! Die wabernde dunkle Fahne im Alltag los. Natürlich zerstört es Deine Träume/Vorstellung eines Lebenskonstrukts mit der Person. Dieser Moment, in halbfertiger Küche, mit überzogenem Konto, alleine, einem Sack voller Briefe und Ansprüche, wenn Du das erste Mal merkst, Du bist frei im Kopf, Du fühlst etwas anderes- unbezahlbar. Auch liebend kann und muss man manchmal loslassen, weil es eben auch Liebe sein kann, dem anderen sein Leben/seine Verantwortung zurückzugeben. Das ist kein Fallenlassen, Eheversprechen brechen, eigene moralische Grundsätze zerstören. Das ist Liebe zu sich selbst. Da ist Liebe zu Dir und zu Deinem Kind. Überlebenstrieb.
Vielleicht hilft Dir wie mir eine Liste, bewusst aufschreiben, was Du willst. (Ohne Umstände zu beachten - phantasiere). Was Du brauchst. Was Dein Kind braucht. Was real davon zu erreichen ist und wie. Durch Dich alleine - nicht ihn. Was Dich zurückhält. Wo Du herum larvierst und Dich windest wie ein Aal, statt einzusehen, dass es ohne Federn lassen nicht geht. Denn das tun wir, wenn wir als "Kinder von" und "Partnerin von" gehen. Wir bezahlen eine Rechnung, umsonst gibt es keine Erfahrung. Oft sind wir selbst beteiligt, wie hoch sie am Ende ausfällt. Ich mag Dir so sehr Mut machen, im Detail auf Dich zu schauen. Hemmungslos, schmerzhaft, schreie, fluche, heule über die Ungerechtigkeit des Lebens - Sucht ist nicht fair zu Liebenden und unserer Idee von Partnerschaft/Lebenslauf. Lass es raus, mache Dich nackig in Deinen Gefühlen. Und dann erstelle Dir einen Plan für Deine Schritte, kein Blick nach links und rechts und zurück. Du wirst schon ohne, dass Du direkt zweifelst, zurückfallen und Dich wieder aufrappeln müssen. Sirenen sitzen am Ufer und singen Dir verlockend: "Lass treiben und lenke Dich mit ihm und seinem Verhalten ab". Ohrenstöpsel helfen. Mache Dir nicht zu viele Gedanken über das, was kommt, wie Deine Tochter damit zurecht kommt, was mit dem Sorgerecht passiert- vergiss es. Verdrängung. Alles Ausreden, bei Sucht ähnlich der Frauen in Gewaltbeziehungen auch ohne Sucht im Haus. Angst. Nimm sie an. Du kannst Dein Gehen nicht kontrollieren. Aber das Leben ist manchmal erstaunlich und liefert Dir neue Wege im Gehen, neue Kontakte, Momente, Ideen, Chancen. Das, was Du hast, kennst Du. Es ist aber nicht gesund, vor allem für Dein Kind nicht. Mir hat sehr geholfen, bewusst und laut neue Glaubenssätze zu üben. Für jedes "er" ein lautes "Stopp - ich". Eine Liste mit Strichen, wie oft man ihn zum Thema am Tag hatte - und dann bewusst reduzieren. Ein reset-Knöpfchen fürs Gehirn. Bei jedem "geht nicht, weil" ein Stopp - ist das wirklich so. Unsere Grenzen setzen wir uns so oft selbst mental. Es tut gut, sie zu sprengen. Von immer gut und sicher dabei fühlen in geordneten Strukturen, war nie die Rede. Manchmal brüllt man sich das Stopp nur noch in tiefer, purer Verzweiflung vor dem Spiegel ins Gesicht. Und wird mit jedem Tag stärker. Ich wünsche Dir Kraft. Alles liebe