10 Jahre trocken
Im täglichen Leben spielt meine Alkoholabhängigkeit keine Rolle mehr. Alkohol als solcher auch nur insoweit, als ich mich damit auseinandersetze, wo er in meinem Umfeld auftaucht und ich dazu eine Haltung einnehmen möchte, die sich für mich wahrhaftig anfühlt.
Ich hatte in den letzten Jahren verschiedene schwierige und auch schöne Situationen zu bewältigen, und hatte tatsächlich nie den Impuls/den Gedanken, Alkohol zu trinken. Das könnte mir vorgaukeln, dass ich meine Sucht überwunden habe. Da ich sie - an der Oberfläche - nicht mehr spüre und Alkohol keine Option mehr ist.
Vielleicht ist es so etwas, das länger Trockene in einen Rückfall führen kann.
Ich bin daher tatsächlich dankbar, dass ich mich noch genau erinnern kann, wie es sich anfühlte, Alkohol zu brauchen. Ich spüre, mein Kopf, mein Körper spüren, dass ich sofort wieder im Suchtverhalten drin wäre, wenn ich einmal Alkohol tränke. Insofern bin ich froh darüber, dass ich diese „Körpererinnerung“ habe. Das ist die hilfreiche Seite des Suchtgedächtnisses.
Heute kommt es mir so selbstverständlich vor, dass ich ohne Alkohol lebe. So lange empfinde ich das nun schon nicht mehr als Verzicht auf irgend etwas, sondern als Bereicherung, auch ganz unabhängig von meinem Abhängigkeitssyndrom. Vor zehn Jahren und einem Tag konnte ich mir das nicht vorstellen. Ich hatte so viel Angst davor, ohne das zu leben, was ich dem Alkohol zuschrieb: Beruhigung, Abgrenzung, Wärme, Gelassenheit, Geborgenheit. Aber vor zehn Jahren habe ich - durch irgendeine Gnade - den Punkt in mir gefunden und genutzt, da das, was der Alkohol gleichzeitig - und eigentlich - für mich bedeutete: Selbstverachtung, Scham, Schuld, tiefe Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, Todessehnsucht, schwerer wog, so dass ich trotz der Angst keine Alternative mehr hatte. Mein Tiefpunkt, mein Wendepunkt.
Ich kann mich nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern während meiner Trockenwerdung (und es war wohl auch kein Punkt, sondern ein Prozess), an dem mir klar wurde, dass die positiven Zuschreibungen, die ich dem Alkohol gegeben hatte, null Komma gar nichts mit der Substanz Alkohol zu tun hatten, sondern Ausdruck meiner legitimen Bedürfnisse waren, die nur durch meine Suchterkrankung vom Alkohol „übernommen“ worden waren - usurpiert.
Dadurch konnte ich das dann seither trennen, und wenn ich das Bedürfnis nach Ruhe, Abgrenzung, Geborgenheit … habe, kommt mir zur Erfüllung dieser Bedürfnisse Verschiedenes in den Sinn, aber kein Alkohol mehr.
Ich bin ja nicht gläubig, aber dieses Gefühl der Dankbarkeit fühlt sich schon sehr tief an, eben wie eine Gnade.