Beiträge von Leo Lux

    Der Weg erschliesst sich durch das stetige und fragende Voranschreiten. Du kannst dabei auch hinfallen, aber bilde Dir nicht ein, daß Du zu schwach wärest, wieder aufzustehen. Stehe auf und schreite wieder fragend voran. Du wirst dann sehen, daß Du mit jedem Schritt (selbst)sicherer wirst, entschlossener. Und irgendwann wirst Du für Dich selbst erkennen, daß der Weg an und für sich das Ziel ist.
    So habe ich mir das jedenfalls für mich gesehen.

    Viele Grüße Leo

    Ach - das mit der Motivation kommt schon noch. Fang einfach mit kleinen Dingen an. Ein bißchen Inneren Schweinehund überwinden gehört natürlich schon dazu. Aber wenn es z.B. ums Sport treiben geht: wenn man sich einmal überwunden hat und das wohlige Gefühl danach erfährt - dann fällt einem das nächste Mal leichter. Und das übernächste Mal noch ein Stück leichter und so fort.
    Einfach mal verschiedene Dinge (nicht alles auf einmal - Stress soll es ja nicht sein) ausprobieren, vielleicht verwerfen, wieder was anderes ausprobieren; u.a. dadurch lernt man sich ja selbst neu erfahren, neu kennen.

    Bei meiner Therapie meinte gleich in der ersten Stunde meine Einzeltherapeutin zu mir "im Grunde therapieren Sie sich selber, Herr Lux, ich gebe nur Anleitung und stelle hoffentlich die richtigen Fragen zur richtigen Zeit". ;)

    Viele Grüße Leo

    P.S.: das mit dem Aufraffen zum Schreiben kenne ich - lasse auch gerade meinen Thread etwas sehr ruhen...

    Ich hatte damals meine Suchtberaterin ziemlich schräg angeguckt, als Sie von sich aus etwas von Kontrolliertem Trinken und Programmen dazu und so erzählte. Ich war so geschockt von meinem Klick-Erlebnis, daß ich fest entschlossen war, für eine sehr lange Zeit keinen Alkohol mehr zu trinken. Aber damit hatte Sie mir schon ein paar Tage lang einen Floh ins Ohr gesetzt.

    Einige Wochen später hatte ich durch Selbststudium und Selbstwahrnehmungen meines Körpers und den Austausch mit anderen Betroffenen für mich klar, daß ich Alkoholiker bin und mein Weg die dauerhafte Nüchternheit ist.

    Bei einer der letzten Sitzungen mit meiner Suchtberaterin vor dem Start meiner Ambulanten Suchttherapie, habe ich Sie darauf angesprochen, warum Sie eigentlich am Anfang mit diesem Kontrollierten-Trinken-Ding ankam, obwohl ich doch sagte, daß ich nichts mehr trinken will. Sie meinte (sinngemäß), daß das bei Therapie-/Suchtberatungsneulingen wie mir oft ein Weg sei, damit demjenigen erst einmal für sich selber klar wird, verinnerlicht, daß er alkoholabhängig ist, durch die Mühen (nur ein kleines Glas, aber ständig das Verlangen nach mehr und so) und letztlich das Scheitern (nach einer mehr oder weniger großen Zeitspanne gibt es nur noch Ausnahmen so im Sinne von heute mal fünf, aber morgen...bla, bla) des Versuchs, kontrolliert zu trinken - und dann die Einsicht, daß man dann definitiv kein Genußtrinker ist.

    Keine Ahnung, ob das erfolgversprechend ist. Ich hatte jedenfalls einen anderen Weg beschritten, der für mich der richtige ist. Für mich brauchte es dazu ein Schockerlebnis, daß so nachhaltig war wie nur irgendwas für mich. Wie ein Aufwecken aus dem Alkoholschlaf. Wie sich Neo fühlte, als er die rote Pille geschluckt hat und aus der Matrix geholt wurde.

    Ich hatte in früheren Jahren zwar auch schon Selbstversuche eines reduzierten Trinkens gemacht. Diese waren allerdings unbewußt. Erst nach einigen Monaten der Nüchternheit und des Nachdenkens über mein früheres Trinkverhalten in zurückliegenden Jahren/Jahrzehnten ist mir das bewußt geworden.

    Viele Grüße Leo

    Zitat von cherokee


    Ein Rückfall passiert im Kopf schon eine ganze Weile vorher, darum solltest Du rausfinden was Du gefühlt, gedacht, getan hast, das Dich dann später dazu gebracht hat zu trinken [...]
    Bleib stark und verinnerlich mal was die Anderen Dir schon dazu geschrieben haben.

    LG

    Hallo Hesse,
    ich glaube auch, daß es bei einem Rückfall erst einmal darum gehen muß, was man dabei gefühlt, gedacht hat. Die Handlung des Bezahlens des Six-Pack, daß Mitnehmen in die Wohnung, das Aufmachen der ersten Flasche - das sind ja alles Momente, Zeit, in der man auch noch anders handeln kann. Meine ad hoc Maßnahmen habe ich Dir ja schon in Deinem persönlichen Thread beschrieben.

    Zu Deiner Frage: ich bin zu drei SHG, bei der dritten bin ich dann hängengeblieben. War Bauchgefühl. Sehr unterschiedliche Charaktere - alle mit ihren Macken. Da ich ja auch ein paar habe, dachte ich mir: das passt schon;-)

    Viele Grüße Leo

    Hi Kerstin,

    das finde ich sehr bemerkenswert, wie Du mit dieser zwischenmenschlichen Auseinandersetzung umgegangen bist! Du hast etwas für Dich getan. Das sieht für mich so aus, daß Du Dich selber wertschätzt! Ich finde das wichtig, mir mangelte es daran am Anfang meines Weges. Die Alkoholabhängigkeit war u.a. bei mir auch Ausdruck von Selbstzerstörung, dem Mangel an sich selbst lieben, wertschätzen zu können. Das kann ich wieder in der Nüchternheit.

    Ich steh mehr auf (feste) Schokoladen, Lakritze oder die superleckeren, selbstgemachten Kuchen vom Deli bei mir um die Ecke, bin also auch ein Schleckermäulchen geworden;-) Sind glaube ich viele trockene AlkoholikerInnen. Vielleicht weil in den alkoholischen Getränken ja auch viel Zucker drin ist, den wir uns nun eben anderswoher beschaffen.

    Liebe Grüße Leo

    Hallo Hesse,

    hatte selber keinen Rückfall (bisher), aber ich kann mir vorstellen, daß Du Dich momentan deswegen schämst. Aber Du bist nicht schwach! Und es ist auch eigentlich kein Grund da, sich dafür zu schämen. Es zeigt Dir vielmehr, wie Sucht funktioniert. Oder kann es zeigen, wenn Du jetzt nicht in eine Art Panik verfällst, so im Sinne von "jetzt ist eh alles egal" oder "bin zu schwach" oder so ähnlich.
    Analysiere die Situation, die diesem Kioskbesuch vorausging. War es ein Kiosk, wo Du sonst immer Deine Biere gekauft hast? Kamen Erinnerungen hoch? Löste das Verlangen, Begehren im Kopf aus? Oder auch körperliche Reaktionen (Bauchgefühl)?
    Ich wünsche Dir sehr, daß Du jetzt ruhig bleibst und nicht in eine Abwärtsspirale/Kopfkino kommst, sondern Deinen Rückfall als Chance begreifst, daraus zu lernen. Stichwort Risikominimierung. Diesen bestimmten Kiosk vermeiden. Oder alle Kioske meiden. Schauen, daß man immer seine Gummibärchen und den Tabak woanders herbekommt.
    Wenn Verlangen/Begehren hochkommt, immer den Notfallkoffer dabeihaben. Die Klassiker sind für mich z.B. viel Wasser auf einmal trinken. Zweimal habe ich auch auf getrocknete Chilischoten zurückgegriffen. Superscharf, ätzen fast die Geschmacksnerven weg, aber man hat erst einmal damit genug zu tun, alle Sinne - da geht das Verlangen auch weg von. Eine Liste mit Telephonnummern von guten FreundInnen oder der Leute Deiner live-SHG. Sofort anrufen, eineR wird schon rangehen. Darüber reden. Du konzentrierst Dich auf etwas anderes, Du lenkst Dich ab. Diese drei praktischen, materiellen Dinge habe ich immer bei mir, sie haben mir in 5 oder 6 Situationen gut geholfen.
    Kopf oben behalten und die Ohren steif!

    Viele Grüße Leo

    Hallo Wolfgang,

    ich wünsche für Dich, daß Du bereit bist, die Hilfe anzunehmen. Man darf hier keine externen links setzen, aber ich hoffe daß es erlaubt ist, Dir über eine website zu erzählen. Ich lese regelmäßig die Artikel von alk-info (Domain .com). Das ist ein österreichisches Portal, wo Du z.B. unter der Rubrik "Anlaufstellen" eine kleine Sammlung zu den Möglichkeiten, die es in Österreich gibt, befindet. Oder Du fragst direkt Deinen Arzt nach Suchtberatungen/-hilfen in Deiner Nähe.
    Mache Deinen Weg!

    Viele Grüße Leo

    Hallo Hesse,

    war bei mir ähnlich, wie bei Neo. Habe es meinen KollegInnen, meinem Arzt, meinen FreundInnen, meinem Fanclub, meiner Familie usw, - jeweils immer dann, wenn sich die Gelegenheit ergab - erzählt, daß ich Alkoholiker bin und meist dies anhand meines Kontrollverlust-Erlebnisses am Vorabend des 14. August 14 (seitdem nüchtern) erklärt. Bei meiner Mutter hat es allerdings auch länger gedauert, bis ich das so in der nüchternen Klarheit erzählen konnte. Ich glaube, so ganz 100%ig hat sie es bis heut nicht begriffen. Aber sie bestärkt mich immer mal wieder in meinem Weg und findet es toll, daß ich nüchtern bin. Wenn ich sie besuche, ist der Alkohol weg aus der Wohnung und getrunken wird er erst recht nicht. So fühle ich mich genauso wohl und sicher, wie in meiner eigenen Wohnung. Finde ich wichtig.

    Viele Grüße Leo

    Kleine Dinge – grosse Wirkungen
    Manchmal sind es die kleinen, für Aussenstehende vielleicht sogar banal wirkenden Dinge, die in einem aber sehr viel auslösen können. Bei meinem Erstkontaktgespräch in der Ambulanten Suchttherapie fragte die Therapeutin u.a. nach meinem Trinkverhalten in früheren Jahren und Jahrzehnten. Resümierend meinte sie, daß ich mir ja viel vorgemacht hätte. Banal, oder? Aber hey – in dieser kurzen, prägnanten Klarheit ausgesprochen, wurde das zum ersten Mal in meinem Leben auch wirklich von mir verstanden, schonungslos und klar, eben nüchtern betrachtet – und ich war erschüttert, es hat so viel und so tief in mir gerührt. Ich fuhr total aufgelöst und immer wieder weinend mit der U-Bahn zur Berufsschule. In der Klasse ging das quasi den ganzen Tag so weiter. Aber es war auch absolut in Ordnung. Meine Gefühle kamen einfach hoch. Die echten Gefühle, nicht vom Alkohol betäubt. So erschreckend und anstrengend, aber auch so wunderbar schön und wahrhaftig!
    Später in der Aufnahmegruppe, in welcher wir dann u.a. auch die praktischen ersten Dinge lernten (Notfallkoffer, abstinentes Umfeld, trockene Umgebung/Zuhause), war ich wieder so erschüttert worden durch eine einfache Frage der Therapeutin, die aber so unglaublich viel berührt hat in meinem innersten Wesen.
    „Lieben Sie sich?“
    Ich stutzte erst, war etwas ratlos ob dieser irgendwie komischen Frage. Aber dann begann etwas in mir zu arbeiten, es begann zu dämmern, Licht in der Dunkelheit. Liebe ich mich? Ehrlich zu mir selbst mußte ich das verneinen, mußte mir selbst zugeben, daß ich im Laufe der vielen Jahre des mir unmerklichen Hineingleitens in die Alkoholabhängigkeit mich immer weniger selbst geliebt habe, mich selbst immer weniger selbst wertgeschätzt hatte. Das war erschütternd und ich habe wieder viel geweint. Gar nicht um die Vergangenheit oder gar aus Selbstmitleid, sondern es waren vielmehr Tränen der Erleichterung, der Reinigung. Irgendwie war eine große Last weg, es wirkte so befreiend, diese Erkenntnis real zu fühlen.

    Überhaupt – die Gefühle. Die Stimmungsschwankungen. Die kamen so im Herbst voll heraus. Plötzlich sich einstellende (oft durch so ein negatives Gedankenrasen, Gedankengrübeln, Spirale nach unten) Traurigkeit, abgrundtiefe Niedergeschlagenheit, Verzweiflung – depressive Verstimmung über mehrere Stunden. Aber auch das wieder sich entspannen, schöne Dinge betrachten, sie in ihrer Schönheit und Vollkommenheit so kristallklar wahrzunehmen. Sei es ein zwitschernder Vogel am Morgen oder atemberaubende Wolkenformationen, durchbrochen von den Sonnenstrahlen des Abends bei einem Dauerlauf auf dem Tempelhofer Feld oder Regen und Wind auf der Haut zu spüren, Momente puren Glücks. Wenn der Gehirnstoffwechsel sich ändert, ist man wie auf einer Achterbahn…

    Zitat von Trixy

    Jetzt sagst du, am Anfang hättest du es nicht so gehalten, Feierlichkeiten/Aktivitäten zu meiden. Wie ging es dir dabei? Bist du auf Grund deines anspringenden Suchtgedächtnisses dazu gekommen, dein Verhalten zu ändern? Wie geht dein Umfeld mit deiner Sucht um, bzw wie gehts du jetzt mit deinem (normal) trinkenden Umfeld um (grade bei Geburtstagen oder Feierlichkeiten)?Trixy

    Einerseits tatsächlich durch Symptome vegetativer Art (innere Unruhe, Unwohlsein, Blut schießt durch den Körper), die ich für mich als Suchtdruck definiere, z.B. bei der Fahrt Richtung Stadion nach 4 Wochen Nüchternheit (nachzulesen in meinem Thread). Bei so etwas höre ich auf meinen Körper, auf mein Bauchgefühl, und mache kehrt, haue ab. Andererseits aber auch durch Erfahrungen, Lebenswegen von anderen Alkoholikern mit längerer Nüchternheit. Menschen sind unterschiedlich, es gibt viele verschiedene Wege. Aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten in den Wegen (vielleicht mit Variationen, klar). Jedenfalls hat mich dieses "wenn man keine Ahnung hat, vielleicht einfach erstmal bei denen Zuhören, die Ahnung haben" ab so Mitte Oktober rum mit dazu gebracht, konsequenter meine Lebensgewohnheiten zu ändern.

    Geburtstage, Feierlichkeiten, Stadionbesuche, Fankneipe usw. meide ich einfach. Wenn ich mich mit FreundInnen aus dem Fanclub (oder vom Softball, oder überhaupt generell) treffe, dann einzeln oder in kleinen Gruppen, keineR trinkt Alkohol in meiner Gegenwart und wir treffen uns auch nicht in Kneipen, sondern Cafés tagsüber oder irgendwo draussen, wo jetzt nicht gerade drumherum viel gesoffen wird.

    Mein Umfeld? Tja - ich kann zwar nicht in die Köpfe reinschauen, aber ich kriege eigentlich von den allermeisten ehrlich empfundenen Respekt und Achtung. Das bedeutet mir sehr viel. Von den wenigen, die meine Sucht nicht Ernst nehmen, verharmlosen, irgendwie - auch nach längerer Zeit - irritiert sind, halte ich mich fern. Wenn Sie mit mir als nüchtern lebender Mensch nichts mehr anfangen können, weil anscheinend der Alkohol die gemeinsame Basis war, kann ich mit denen jetzt auch nichts mehr anfangen, weil Alkohol eben nicht mehr meine Basis ist.

    Liebe Grüße Leo

    Hallo Hans,

    oh ja - das kenne ich mit den vielen Dingen, die ich früher auch dachte oder sagte und die ich damals auch witzig fand. "Ich habe kein Problem mit Alkohol - nur ohne" ist ja auch so ein Klassiker.

    Tja - die Krankheit annehmen, das ist echt ein längerer Prozess glaube ich. Zumindest bei mir ist es noch so, daß ich von Woche zu Woche, von Monat zu Monat immer noch neue Veränderungen in meiner Psyche, in meinem Denken, in meinen Gefühlen feststellen kann. Spannend, anstrengend, wunderbar, aufregend.

    Es ist, wie es ist - eine chronische, also lebenslange Krankheit, die potentiell tödlich sein kann. Und neben den Psychosen sind ja Süchte eigentlich die Klassiker der psychischen Störungen. Eine prima Gelegenheit, sein Leben zu ändern, sich neu zu entdecken.

    Danke auch fürs Anteilnehmen und Lesen, ich muß mal demnächst auch bei Dir reinschauen. Momentan bin ich noch ziemlich am springen. Bin ja noch sehr neu hier. So viele Threads.. Liebe Grüße aus Neukölln...

    Die ersten Wochen (Fortsetzung)
    „Hallo, ich bin Leo und ich bin Alkoholiker“ – vom Verstand her konnte ich das annehmen. Aber ich bestehe nicht nur aus Verstand und Wissensdurst, der durch Crashkurs-Selbststudium in Suchtforschung und Neurobiologie usw. besteht, sondern bin auch ein Mensch mit Gefühlen und Selbstwahrnehmungen. Diese Selbstwahrnehmungen, manche sagen auch Achtsamkeit, habe ich in den ersten Wochen peu a peu gelernt (und lerne immer noch, jeden Tag). Freitags hatte ich einige Male diese Blitze des Verlangens (sehr kurze Momente, aber verführerisch), die in meinen Kopf kamen, als ich die Bier- und andere Alkoholika-Regale in meinem Supermarkt um die Ecke betrachtete. Da lernte ich schnell meinen Tunnelblick. Und die Gedanken abzulenken, auf etwas anderes zu lenken. Zwei oder drei Wochen wagte ich mich nicht mehr an meinen Grafikcomputer. Ich hatte dieses neue Hobby (3D-Art) schon zu meiner nassen Zeit für mich entdeckt. Das Feierabendbier wurde da drei oder vier Tage in der Woche durch Martini Bianco ersetzt, ich fühlte mich mit diesem Getränk irgendwie mehr wie ein Künstler. Bedingt durch den Arbeits- und Berufsschulstress (zu dem ganzen Komplex komme ich später noch ausführlicher) waren die letzten 5 oder 6 Monate vor dem 14. August 2014 geprägt von Dosissteigerung – am Ende eine ganze Ein-Liter-Flasche davon. Diese Gewohnheit machte mir dann ab dem 14. August Angst. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, mein neues Hobby zu betreiben. Nach ca. 3 Wochen wagte ich es dann wieder. Ich überlegte mir vorher ein passendes Getränk und kramte in meinen Teenagererinnerungen. Banane-Kirsch Saft. Der erste Abend noch unsicher, aber es fühlte sich gut an. Ich fühlte mich wohl dabei. Dann weitere Abende damit. Zusammen mit entspannender Musik (mittlerweile kenne ich so einige sehr gute Postrock-Gruppen;-). Neue Gewohnheiten bilden, die die alten zwar nicht löschen, aber überschreiben können. Das klappte wunderbar, entspannt, man macht etwas Schöpferisches und Kreatives und Banane-Kirsch Saft ist jetzt mein absolutes Künstlergetränk;-)
    Aber ich lernte auch auf andere Weise. 4 Wochen waren ins Land gezogen und ich wollte wieder zu einem Heimspiel meines Berliner Amateurvereins, ins Stadion, in die Kurve. FreundInnen und Bekannte wieder treffen. Es war ein Freitag, bei der Arbeit habe ich davon Marlena erzählt und wie ich mich darauf freute und „generalstabsmäßig“ verschiedene spannendere Limonaden, als die Cola und Fanta, die es im Stadion gibt, gekauft und vorgekühlt, um sie mit ins Stadion zu nehmen. Nach Feierabend ging es in die U-Bahn auf eine längere Fahrt nach Charlottenburg. Nach 3 oder 4 U-Bahnstationen kam wieder ein Gefühl. Innere Unruhe, Nervosität, Blut schoss durch meinen Körper. Gedankenspiralen, die Vorstellung, ich bin der einzige Mensch im Stadion, der nüchtern ist, umgeben von AlkoholtrinkerInnen; die Vorstellung, dann irgendwie einsam, irgendwie alleine zu sein. Ich fühlte mich immer unwohler und unruhiger. Schließlich hörte ich auf mein Bauchgefühl, stieg aus der U-Bahn und nahm stattdessen nach Hause kehrt. Ich fühlte mich einerseits schwach dabei, ich fühlte mich krank. Ich fühlte aber auch noch etwas mehr tief innen drin, daß das eigentlich eine Stärke ist. Auf sich zu hören, auf den Bauch zu hören.
    Zu diesem Stadion bin ich seitdem nicht mehr gegangen. Die Erinnerungen an die vielen betrunkenen Heimspiele und Auswärtsfahrten wiegen schwer. Dort war mein Alkoholkonsum am höchsten. Dort hatte ich mein Aha-Erlebnis, meinen letzten Tag. Manche Dinge brauchen Zeit, manchmal viel Zeit.
    Ca. Anfang oder Mitte Oktober hatte ich mich für eine SHG entschieden (eher aus dem Bauch heraus, als rational überlegend). Zu der gehe ich nachwievor regelmäßig, wir treffen uns wöchentlich. Etwas früher stand für mich auf Anraten bzw. Empfehlung meiner Suchtberaterin fest, daß ich mich in eine Ambulante Suchttherapie begebe. Dauerte etwas mit den ganzen Formularen, Anträgen, dem Bluttest beim Hausarzt, aber mein Rentenversicherungsträger hat es dann schließlich Anfang November genehmigt. [Fortsetzung folgt]

    Viele Grüße Leo

    Die ersten Wochen (Fortsetzung)
    Meinem Bruder hingegen habe ich von meinem Alkoholproblem erzählt und ich hatte ein längeres Gespräch mit ihm. Er meinte, daß ich wohl das alles zu dramatisch sehe. So oder so ähnlich begegneten mir in den nächsten Wochen einige Menschen. Offensichtlich ist das Bild eines „typischen“ Alkoholikers sehr tief geprägt von dem Stereotyp „besoffener Obdachloser auf der Parkbank beim Hauptbahnhof“. Wer Feierabendbiere trinkt, als Fußballfan sich ab und zu zulötet, ansonsten funktioniert, na gut – mal die Arbeit verpennt, kann der Alkoholiker sein? „Ach ne, Leo, ich glaube Du solltest einfach ein bißchen maßhalten – dann geht das schon.“ So ähnlich waren manche Reaktionen. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selber bin – ich hatte dieses Stereotyp doch auch im Kopf!

    Nun – ganz tief innendrin wußte ich aber schon zu diesem Zeitpunkt, daß das so nicht stimmt. Ich habe es gefühlt bzw. instinktiv gespürt. Der Schock des 14. August, diese meine Inkarnation des Kontrollverlusts, steckt tief im Gedächtnis. Gelesen hatte ich ja auch schon einiges darüber. Trotzdem habe ich diese Tage im Urlaub erst einmal so weitergelebt, wie bisher – nur ohne Alkohol zu trinken. Suchtdruck oder Verlangen hatte ich in dieser Zeit noch nicht gespürt.

    Kurze Zeit nach dem einwöchigen Urlaub erzählte mir Marlena, daß sie schwanger sei. Ich habe mich aufrichtig für sie gefreut, ihr gratuliert und umarmt. Die Konsequenzen was das für meine Arbeit und meine Ausbildung bedeutete, waren mir da überhaupt noch nicht bewußt. Beim zweiten Gespräch mit der Suchtberaterin sprach diese mich darauf an, ob ich mir denn schon eine Selbsthilfegruppe gesucht hätte. Nun, hatte ich noch nicht. Sie hat mich darin noch einmal aufmunternd bestärkt, daß dies eine sehr gute Sache wäre. Ich begann, darüber nachzudenken und habe mich entschlossen, auch diese Form der Hilfe zu gehen. Nachdem ich mir einige in der Broschüre und im Internet ausgesucht habe, stand an einem Freitag irgendwann Mitte September der erste Besuch an. Kann mich noch gut daran erinnern, wie ich zu Marlena kurz vor Feierabend davon erzählte und meinte „Du, ich habe so eine Mischung aus Neugier, Lampenfieber und totalen Schiss“.

    Dieser Gefühlszustand blieb bis kurz vor meinen ersten Worten vor einer Gruppe wildfremder Menschen beiderlei Geschlechts – eher älter im Schnitt als ich. Aber es tat echt gut, zu erzählen! Und es war noch besser, die Lebensgeschichten und Erfahrungen dieser Menschen zu hören! Vor allem denen zuzuhören, die schon lange Jahre (teils Jahrzehnte) mit ihrer Sucht leben.

    In diesen Wochen mit den Besuchen von einigen Gruppen, von denen ich dann eben eine für mich auswählte, habe ich dann für mich erkannt, daß ich Alkoholiker bin. Es trugen noch andere wichtige Dinge dazu bei, aber diese (ersten) Erfahrungsaustausche waren schon richtig wertvoll für diese meine Erkenntnis. Das ist für mich auch im Nachhinein wichtig, daß es diesen Schritt gab. Zuerst sagte ich zu mir selbst „ich habe ein Alkoholproblem“ – dann „Hallo ich bin Leo, alkoholabhängig“. Das erstere ist meines Erachtens noch so eine gewisse Form von Unbestimmtheit, vielleicht sogar Verniedlichung? So im Sinne von „ach ein Problem, naja. Das kann man lösen und dann ist es vorbei“. Aber Sucht ist nie vorbei... [Fortsetzung folgt]

    Hi Ina,

    Du bist nicht allein in Deinem Gefühlschaos. Bei mir setzten die Stimmungsschwankungen nach ca. 6 Wochen Nüchternheit ein. Dann aber so richtig! Ich konnte den Tag super glücklich und euphorisch starten und war am Abend und in der Nacht so was von niedergeschlagen, verzweifelt, tieftraurig - und habe geheult. Oder eben andersherum, also morgens depressive Verstimmung, abends alles super. Und die Gedanken, die durch den Kopf rasen! Ich machte mir zu allem möglichen, was auf mich zukommt, die allerschlimmsten Ausmalungen. Negative Gedankenspirale, Grübeln, Kopfkino. Was habe ich gemacht? Laufen (die körpereigenen Endorphine ankurbeln), beruhigende, schöne Musik hören, eine gute Schokolade gönnen, an schöne Dinge denken und sie sich lebhaft vorstellen. Bücher lesen, selber kreativ werden (Tagebuch schreiben, bei mir auch Graphic Novel per 3D-Programmen machen), irgendwie innehalten und einen schönen Augenblick suchen und diesen festhalten. Und manchmal auch einfach: aushalten, mich und mein Gedankenrasen und meine Verzweiflung annehmen. Denn es geht auch vorbei - und wenn ich dann wieder hochkomme aus der schwarzen Tiefe, ist das eines der schönsten Gefühle - fast so, wie eine Wiedergeburt.
    In diesem Sinne - ich fühle mit Dir. Du bist da nicht allein, die Stimmungsschwankungen sind ganz normal. Und sie lassen auch mit der Zeit nach. Schritt für Schritt.

    Viele Grüße Leo

    Hallo Trixy,

    Zitat von Trixy

    danke für deine Erfahrungen, krass was in so nem Hirn abgehen kann. Das mit der medizinischen Studie ist ja interessant. Kannst du mir sagen, wo ich darüber oder unter welchem Namen ich darüber was finde?

    Einfach in der Suchmaschine Begriffe wie "Neurobiologie", "Sucht" u.ä. in verschiedenen Kombinationen eingeben.

    link gelöscht!
    Bitte keine fremden links einstellen! Danke - Aurora

    Amaretto kenne ich, aber es geht gar nicht darum, sondern daß es mir reicht zu wissen, daß es einen alkoholischen Geschmack nachahmt. Also lasse ich lieber die Finger davon. Aus diesem Grunde trinke ich auch kein Malzbier oder 0,0%-alkoholfreies Bier. Ist mir einfach zu ähnlich zu dem, was es letztlich imitieren soll.

    Was Geburtstage und ähnliche Anlässe anbelangt - habe es am Anfang noch nicht so gehalten, aber für knapp ein Jahr habe ich nun solcherlei Aktivitäten gemieden. Es fällt mir schwer, mein soziales Leben hat sich ganz schön reduziert. Aber in jüngster Zeit habe ich mich auch - sehr vorsichtig und kontrolliert - wieder ein bißchen nach "draußen" gewagt.

    Was treibt Dein Interesse eigentlich an - bist Du Medizinstudentin oder hast Du jemanden in Deinem Umfeld, der alkoholabhängig ist? Ähm, mußt nicht antworten, wenn Du es unangenehm findest. Bin halt neugierig.

    Viele Grüße Leo

    @Thalia: Dankeschön!

    Hans : oh ja - ich empfinde es auch als eine Form von Gnade. Obwohl ich nicht besonders religiös bin, haben sich die Dinge doch in einer wunderbaren Konstellation so gefügt, daß es zum diesem 14. August 2014 dann genauso gekommen ist, wie ich weiter unten dann beschreibe. Und da bin ich dann einfach gnädig und demütig und empfinde Dankbarkeit, daß alles genauso gekommen ist, wie es gekommen ist.

    Samsara : alles gut. Es war ja auch ein sehr besonderer Tag. Ist der 1. Geburtstag wohl bei jedem, denke ich. Und dann wohl vor allem in der Relation rückblickend, wie Du es anschaulich beschrieben hast.

    So - ich mache dann mal weiter in meiner Selbstreflexion des zurückliegenden Jahres...

    Der erste Tag
    Es klingelt, ich wache auf. Schrecke auf, denn es ist nicht das Klingeln des Weckers. Die Sonne steht auch schon viel zu hoch im Zimmer. Das Handy klingelt! Oh Gott! Ich haste aus dem Bett und gehe zum Mobiltelephon. Ich habe einen mordsmäßigen Kater und schreie mehrere Male laut „scheiße“ durch die Wohnung. Ich bin im totalen Schock! Total verschlafen. Schon wieder (wie im April).
    Ich gehe ans Telephon. Meine Ausbilderin Marlena (Name geändert – ich kann Sie nicht fortwährend in der Funktion beschreiben) ist dran. „Wo bleibst Du? Die Kunden sind schon im Haus!“. Ich murmele etwas von schon auf dem Weg sein und mir Leid tun und das sie bitte das Kundengespräch übernehmen solle. Nach dem Gespräch mache ich Katzenwäsche. Ich fluche laut durch die Wohnung, bin selbstmitleidig. Ich betrachte mich im Spiegel und könnte heulen, so viel Selbstscham und am-Boden-zerstört-sein blickt mir entgegen.
    Nehme ausnahmsweise ein Taxi, um schneller bei der Arbeit zu sein. Bitte den Fahrer um ein Kaugummi, um nicht allzuviel aus dem Mund zu riechen, aber im Prinzip merke ich die Ausdünstungen selbst. Im Tagungszentrum angekommen, spazierte ich schnurstracks in unser Doppelbüro und fuhr den Computer hoch. Marlena war noch mit den Kunden zugange. Vielleicht so 10 Minuten, die mir jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen. In dieser Ewigkeit dachte ich über mein Leben nach. Es konnte so nicht mehr weiter gehen. Ich hatte plötzlich einen klaren und nachhallenden Klang im restalkoholisierten Kopf, der radikale Schock über mich selbst und das was ich tue bzw. tat, spürte ich in jeder Faser meines Körpers. Gleich kommt Marlena rein und ich muß ihr erzählen, warum ich (schon wieder) zu spät zur Arbeit gekommen bin. Ich fasse einen Entschluss.
    Marlena kommt rein und ich bitte sie, die Tür zu schliessen. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch mir gegenüber. „Marlena, ich sage Dir jetzt die Wahrheit, warum ich zu spät gekommen bin. Und warum ich damals im April zu spät gekommen bin“. Dann zögere ich noch etwas, denn es fällt mir noch etwas schwer, bevor ich die Worte spreche „ich habe ein Alkoholproblem!“. Wir haben viel geredet, ich habe geweint – vor Selbstscham, aber es war auch Erleichterung dabei, und auch sie hat etwas geweint. Ich habe mir nie zuvor dies in dieser Radikalität und Klarheit eingestanden, weil ich schlicht nie auf diesen Gedanken gekommen bin. Es war so unglaublich wichtig und bedeutsam, dieses mir laut zu sagen, in einem Sprechakt zu tun – und gleichzeitig auch einer Person zu sagen, die ich gerne habe und der ich vertraue.
    Marlena hat insgesamt sehr ruhig und gelassen reagiert. Sie hat von den Problemen in ihrem eigenen Umfeld erzählt und mir geraten, doch mal zu einer Suchtberatung zu gehen. Ich fühlte auch tief in mir, daß ich nun Hilfe brauche, daß mir Hilfe gut tun würde, daß ich bereit bin sie anzunehmen. Ich recherchierte im Internet, zufällig (oder Fügung?) hatte die Suchtberatungsstelle meines Bezirks an diesem Nachmittag offene Sprechstunde. So bekam ich von Marlena früher frei und machte mich zum ersten Mal in meinem Leben auf zu einer Suchtberatung. Dort erzählte ich von dem Morgen, dem Abend zuvor, daß ich ein Alkoholproblem habe. Auf die sehr einfache und direkte Frage „und was wollen sie jetzt?“ war ich erstmal etwas perplex, antwortete dann aber mit großer Bestimmtheit „ich will jetzt keinen Alkohol mehr trinken“. In unserem Gespräch erwähnte die Suchtberaterin zwei Dinge, die mich bei diesem ersten Termin mit ihr irritierten und irgendwie störten. Sie kam von sich aus auf das Programm Kontrolliertes Trinken als eine Möglichkeit zu sprechen, gäbe allerdings gerade keine Gruppe in Berlin dafür. Ich war irritiert, denn ich war entschlossen, jetzt und sofort keinen Alkohol mehr zu trinken. Warum kommt die jetzt mit so etwas, dachte ich zu mir. Das andere war, daß sie mir davon abgeraten hat, einen Kalten Entzug zu machen. Es wäre (zumal bei den von mir angegebenen Trinkmengen und Regelmäßigkeit) besser, eine Entgiftung in einem Krankenhaus zu machen. Na toll – jetzt soll ich auch noch weitertrinken, bis ich in ein oder zwei Wochen oder so einen Krankenhausplatz dafür habe? So viel war das ja jetzt auch nicht – dachte ich zu mir. Da ich kurz vor einem einwöchigen Heimaturlaub stand, haben wir einen Nachfolgetermin in zwei Wochen ausgemacht.
    Zuhause habe ich mich erst einmal zwei Stunden hingelegt. Nach dem Abendbrot habe ich mich ca. 7 Srunden lang im Internet schlau gemacht über Alkoholabhängigkeit, über das Suchtgedächtnis, über die verschiedenen Phasen der Sucht, über Entzugserscheinungen und die Gefahren des Kalten Entzugs, habe einige Selbsttests (mit mehr oder weniger vielen Fragen) gemacht. Ich war immer noch in so einer Art Schockstadium. Ich war so aufgewühlt, aber das Wissen in mich einzusaugen tat auch gut und ordnete meine umherschweifenden Gedanken etwas. Um 3 Uhr morgens bin ich ins Bett gegangen.

    Die ersten Wochen
    Morgens vor der Arbeit hatte ich einen Termin zur Vorsorgeuntersuchung bei meinem Hausarzt (hatte ich zwei Wochen zuvor schon abgemacht, der übliche Check den die Krankenkasse ab 35 Lebensjahren alle zwei Jahre empfiehlt und übernimmt). Der Helferin, die mir Blut abnahm, Blutdruck maß usw. habe ich von meinem Alkoholproblem erzählt. Ebenso nachher beim Doc selbst, dort noch etwas ausführlicher, vor allem was Trinkmenge und Trinkverhalten der letzten Monate anbelangte. Abgesehen von einem zu hohen Blutdruck (weswegen ich bis heute ein Medikament einnehme) waren meine Werte optimal. Läge wohl daran, daß ich seit 15 Jahren regelmäßig Sport mache und jeden Tag um die 3 Liter Wasser und andere nichtalkoholische Getränke trinke.
    Bei der Arbeit habe ich Marlena von der Suchtberatung und meinem abendlichen Crashkurs erzählt. Ansonsten konnte ich mich wieder gut auf die Arbeit konzentrieren und es war ein normaler Arbeitstag. Am dritten Tag – ein Samstag – stand eigentlich das erste Heimspiel meines Heimatvereins an, was für mich immer Fanclubtreff in unserer Stammkneipe und gemeinsames Fußballschauen hieß. Ich fühlte aber tief in mir drin, daß das keine so gute Idee wäre. Zudem fühlte ich mich an sich nicht so gut, immer mal wieder regte sich eine innere Unruhe in mir. Manchmal bekam ich kalten Schweiß auf Stirn und Handflächen. Außerdem nahm ich wahr, daß meine Finger bei ausgestrecktem Arm leicht zitterten. Ich hatte Entzugserscheinungen. Ich ging nicht in meine Fankneipe, sondern machte Einkäufe, ging ins Waschsalon, las etwas. Das Fußballspiel habe ich per livestream im Netz geschaut.
    Sonntag ging es per Bahn nach Mönchengladbach, eine Woche Heimaturlaub. Bei Mutter wohnen, Bruder treffen (der auch ein paar Tage dort wohnte), FreundInnen treffen in Köln, Düsseldorf, usw. Meiner Mutter habe ich nichts erzählt – außer, daß ich keinen Alkohol mehr trinke und ich möchte, daß in meiner Anwesenheit keiner getrunken werden soll…[Fortsetzung folgt]

    Viele Grüße Leo

    Hallo Kerstin,

    bin noch ziemlich neu in diesem Forum und noch so ein bißchen am hin- und herhopsen durch die Threads, da stieß ich auf Dich - und wollte Dich auch erstmal beglückwünschen zu Deinem Entschluss und aber vor allem aktuell zu dem überstandenen Ereignis mit dem Streit und Deinem Verlangen danach. Du kannst stolz darauf sein, denn Du hast Selbstachtung gezeigt!

    Carl Friedrich kann ich mich nur anschliessen - daraus zu lernen, ist wichtig glaube ich. Ich habe für mich auch gerade am Anfang neue Routinen entwickelt. Mit Tunnelblick durch die Alk-Regale durch oder an der Kasse, wo ja oft die kleinen Alkflaschen buchstäblich zum Greifen nahe sind, einfach auf die andere Seite geschaut. Oder am besten gleich das Gesicht einer schönen Frau in der Schlange daneben - das lenkt gut ab;-) Du nimmst dann halt n Mann.

    Stimmungsschwankungen, auch wirklich krasse, sind ganz normal und gehören dazu. Sie sind manchmal schwer zu ertragen, das kenne ich. Bis hin zu depressiven Verstimmungen und Heulen am Schreibtisch vor Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Aber jedes Mal bessert sich die Stimmung auch wieder. Unbezahlbar ist, finde ich, das beides - Traurigkeit und auch Glück - die eigenen Gefühle sind. Die echten Gefühle. Ich finde das total spannend, anstrengend, aufregend - Ich wünsche Dir dieselben Empfindungen dabei!

    Viele Grüße Leo

    Hallo Trixy,

    bei Deinen Beispielen "springt" bei mir auch nichts an. Bis auf das, mit dem Amaretto-Aroma im Kuchen. Den würde ich stehen lassen, weil ich weiß, daß er so ähnlich schmeckt (oder schmecken soll), wie der Likör und dies eventuell die bei mir typischen Symptome von Suchtdruck (Unwohlsein, Innere Unruhe, Blut schiesst in den Kopf, Zappelphilip-Beine, meine weite Wahrnehmung wird eng und neben der Realität) auslösen kann. Wahrscheinlich sogar Verlangen, was ich persönlich viel gefährlicher für mich empfinde.

    Ansonsten möchte ich Dir gerne mit einem persönlichen Erlebnis, welches gut eine Woche zurückliegt, versuchen zu verdeutlichen, wie mein Suchtgedächtnis funktioniert.

    Berufsschule, Fach Veranstaltungsmanagement, Thema: Werbung. Der Lehrer erklärt mittels Powerpoint-Präsentation erst einmal theoretisch so Sachen wie Kommunikationsziele und -gruppen, Leitidee, Unique Selling Position usw. Danach präsentiert er Beispiele. Zuerst eine Werbekampagne von einer bekannten Autoverleihfirma. Viele Plakatbeispiele, wir beteiligen uns interessiert und rege. Nach der Pause dann das nächste Beispiel einer Werbekampagne: ein Hamburger Bier! Ich muß gequält schmunzeln. In mir selbst passiert sonst erstmal nichts. Jedenfalls nicht bewußt. Aber bildgebende Verfahren (MRT) in der Medizin haben nachgewiesen, daß der Anblick der Droge (auch einfach nur Abbildungen) beim Süchtigen (auch wenn er schon lange trocken bzw. clean ist) im Limbischen System (Zwischenhirn) messbare Aktivitäten, quasi wie ein Funkensprühen, auslösen.

    Dieses "Funkensprühen" habe ich in den ersten Monaten meines nüchternen Lebens in der Form wahrgenommen, daß ich desöfteren Unwohlsein verspürte. Wenn ich durch die Strassen Berlins ging, habe ich überall den Alkohol wahrgenommen und gesehen, wo ich früher achtlos dran vorbeigegangen bin: Plakatwerbungen, halbleere Bierflaschen auf der Strasse, die Schaufensterdeko der Spätis, die vielen Menschen mit einer Flasche in der Hand usw.

    Mit der Zeit hat sich das gelegt. Jedoch in dieser Unterrichtsstunde wurden die Motive haarklein analysiert. Headline, Abbildung, Bildkomposition, Slogan, Produktmotiv usw. Das war dann doch zuviel Konfrontation für mich. Nach dem dritten oder vierten Plakatbeispiel stellten sich die bei mir üblichen Symptome von Suchtdruck ein (wie oben beschrieben). Ich habe meiner Klassenkameradin neben mir noch ins Ohr geflüstert, daß ich jetzt mal wieder einen "Rappel" habe (meine Klasse weiß von meiner Sucht) und bin aus dem Unterricht unentschuldigt gegangen und die kompletten zwei Stunden gefehlt.

    Mein Suchtdruck ließ nach viel Wasser trinken schnell nach. Danach bin ich noch ein paar Runden um den Block spazierengegangen. Nach der Pause ging ich dann wieder in den Unterricht. Die Woche drauf habe ich dem Lehrer erzählt, warum ich so plötzlich abgehauen bin. Das "unentschuldigt" streicht er wieder raus und Alkoholwerbebeispiele gibt es fortan nicht mehr bei ihm - zumindest in meiner Klasse nicht mehr.

    Viele Grüße Leo

    Lieben Dank euch allen für das Willkommen und die Gratulation! Tja, Meilenstein stimmt schon irgendwie. Ich würde es vielleicht nicht ganz so hoch hängen. Aber es war schon etwas besonderes - den Tag selbst habe ich jetzt nicht großartig für mich gefeiert, aber schon für mich im Stillen genossen. Und ein superleckeres Eis sowie köstliche Salz- und Salmiaklakritze habe ich mir im Graefekiez auch gegönnt. :)

    Lena : Reizüberflutung - oh ja. Das trifft es ganz gut. Setzte bei mir so nach den ersten 6 bis 8 Wochen Nüchternheit ein. Dazu aber später mehr...

    Vergangenheit
    Meine ersten Kontakte mit Alkohol waren so im Alter von 8 oder 9 Jahren. Verwandtengeburtstage, im Kreise von Eltern, Onkeln, Tanten, Oma, Großtanten und -onkeln. Kaffee und Kuchen. Erwachsenengespräche, oft vom Krieg und der alten Heimat im Osten. Viel Ehrfurcht und Respekt vor diesen uralten Leuten. Nach Kaffee und vor dem Abendessen tranken sie alle Alkohol. Bier, Schnäpse und Martini für die Herren - Martini und diverse Liköre für die Frauen. Und der kleine Leo bekam dann auch schonmal einen klitzkleinen Eierlikör. Hmm, ziemlich scharf. Aber auch süß. Wohlige Wärme, lustig im Kopf. Und die Erwachsenen fanden es auch lustig. Das Limbische System hat sich gefreut.

    Mit 10 Jahren dann ein traumatisches Erlebnis mit Alkohol. Lange Zeit vergessen, kam mir diese Erinnerung erst wieder nach meinen ersten paar Wochen Nüchternheit.
    Silvester, früher Abend, Abendbrot, Dinner For One gucken. Älterer Bruder ging auf eine Party - der kleine Leo blieb bei den Eltern. Zum Abendbrot gab es ein Glas Sekt für mich. Hui - prickelnd, wohlige Wärme, im Kopf wird es wieder lustig. Eltern machten es sich im Wohnzimmer auf Sessel und Couch gemütlich, ich auch. Wir glotzten TV-Silvesterprogramm. Ich trank ein Glas Sekt nach dem anderen. Irgendwann war mir müde, ich wollte ins Badezimmer. Der kurze Flur schien plötzlich unendlich lang und mir drehte sich alles. Von der einen zur anderen Seite der Flurwand torkelnd, schaffte ich es nicht mehr bis zum Klo und kotzte bereits kurz davor auf den Teppich. Mir war speiübel und hundeelend für die nächsten zwei Tage. Der kleine Leo hatte eine Alkoholvergiftung. Das Limbische System hat es sich gemerkt.

    Danach erst einmal Sendepause bis zum Alter von 16 oder 17 Jahren. Man war nun alt genug für die Altstadt und das Altbier. Ich war nie in der coolsten Clique der Schule, hatte aber einen festen Freundeskreis. Wir gingen bis zum Abitur mindestens an drei Wochenenden im Monat (meist samstags, manchmal auch freitags) in unsere Kneipen. Wir spielten Darts mit den Briten, quatschten über Fußball, Mädchen, Musik und Konzerte - und tranken unsere Biere, um ausgelassen zu sein, entspannt zu sein. Keine Exzesse - aber oft so viel, um beim Rückweg und beim Schlafengehen gut einen im Tee zu haben. Angesäuselt, benebelt.

    Aber: bei mir gab es auch Exzesse. Zwischen 16 und 22 Jahren so ca. 7mal. Meist mit anderen Leuten aus der Stufe, den Coolen, den Harten. Whisky oder andere Spirituosen. Bei diesen Gelegenheiten habe ich mich schlichtweg zugelötet. Bis es nicht mehr ging und mich meine Freunde nachhause bringen mußten oder ich bei denen gepennt habe. Mit Filmrissen und peinlichen Situationen inklusive.

    Nach dem Zivildienst der Umzug nach Aachen und das Studium. Mein Alkoholkonsum reduzierte sich. Keine Exzesse mehr, die regelmäßigen Altstadtbesuche in der Heimatstadt wurden seltener. Ich lernte das WG-Leben kennen, ich lernte Frauen kennen, lernte neue Leute kennen, wurde selbständiger. Klar, ich ging immer noch manchmal weg. WG-Parties, Geburtstagsparties. Konzerte. Und auch Aachen hat Kneipen, zu denen ich zusammen mit FreundInnen ging. Aber es war eben seltener, als in der Zeit davor. Und so ging das viele Jahre.

    Süchtiges Trinkverhalten legte ich also schon mit 10 Jahren an den Tag. Die Altstadtbesuche in Gladbach war Gewohnheitstrinken auf (hoch-)riskantem Konsumniveau und die Exzesse mit Spirituosen in den späten Teenagerjahren Wiederholungen des kindlichen Kontrollverlusts. War ich damals bereits Alkoholiker? Mag durchaus sein. Vielleicht auch nicht. Letztlich ist es für mich schon wichtig, die Vergangenheit zu betrachten, jedoch trauere ich auch keinem Moment hinterher und mache mir Vorwürfe. Die Dinge sind so geschehen, wie sie eben geschehen sind.

    Irgendwann Anfang der Nuller Jahre hat sich mein Trinkverhalten dann geändert. Unter der Woche Bier zu trinken, wurde mehr und mehr zur Gewohnheit. Es war diese Regelmäßigkeit, diese Gewohnheit. Irgendwann wurden die alkoholfreien Tage in der Woche weniger, als die alkoholhaltigen Tage. Ein sehr schleichender Prozess. Es gibt keine besonderen Ereignisse, keine bemerkenswerten Momente, an die ich mich heute zurückerinnern kann. Automatisiertes Verhalten, Unbewußtsein. Das Limbische System normalisiert und routinisiert. Der Präfrontale Cortex kriegt nichts mit.

    Anfang 2005 habe ich mir Gedanken über meinen Alkoholkonsum gemacht. Das erste Mal in meinem Leben. Bewußt. Irgendwie dachte ich damals, ich müßte mich mal testen, ob ich so alkoholikermäßig schon in der 2. oder 1. Bundesliga spiele - oder noch in einer der unteren Amateurligen. Klingt albern und dem Thema unangemessen, aber ich habe nun einmal wirklich so gedacht! Ich trank einen Monat lang keinen Alkohol mehr. Die ersten Tage fand ich es komisch und merkwürdig, in einer Kneipe kein Bier zu trinken. Danach legte sich dieses Gefühl. Entzugssymptome hatte ich keine, auch keine Gedanken an Alkohol. Zum Ende des Monats hin freute ich mich allerdings schon auf den 1. des nächsten Monats...

    Danach habe ich weitergemacht wie bisher. Anfangs vielleicht noch etwas vorsichtiger und im Laufe der nächsten Jahre ab und an mit einem Trinksystem: auf einen Abend mit 2 oder 3 Feierabendbier folgt ein alkoholfreier Tag, folgt ein Abend mit Stadionbesuch (Amateurverein in Berlin) und 4 oder 5 Bier, folgt ein alkoholfreier Tag, folgt ein Abend mit 2 oder 3 Feierabendbier usw.

    Gott - das ist jetzt schon viel zu detailliert und lang. Sorry. Also - Sprung nach Ende 2013/Anfang 2014. Die ersten Monate der Ausbildung. Der Job erfüllt mich, die Struktur, endlich mal Vollzeit etwas machen. Die Ausbilderin (die ich schon lange Jahre in dem Betrieb kenne) ist kompetent und fleissig. Ich bin wissbegierig und perfektionistisch - und lerne, sauge auf. Auch in der Berufsschule. Voll der Streber. Ich mache mir aber auch selber Druck. Und ich mache mir selber Stress. Abgesehen davon, daß Veranstaltungsmanagement in einem Tagungszentrum ohnehin auch objektiv gesehen nicht gerade unstressig ist.

    Mein Alkoholkonsum nimmt zu. Zum Feierabend, aber auch beim Stadionbesuch und in der Fankneipe. Wochentags bis zum Betrunkensein, Wochenende oft bis zum totalen Zulöten mit Filmrissen. Arbeit und Berufsschule funktionieren noch bestens. Mit Restalkohol und verkatert immer noch Einsen in den Klassenarbeiten geschrieben. Im April 2014 mal drei Stunden zur spät zur Arbeit gekommen. Ein Kollege spricht mich (nicht zum ersten Mal!) auf meine Alkoholfahne an. Ich verharmlose und verniedliche, weiche aus, schweige aus. Meine Ausbilderin ermahnt mich sehr bestimmt. Meine Chefin nimmt es als Kavaliersdelikt. Ich mache mir: keine Gedanken.

    Ganz selten kommen doch Gedanken auf, ganz leise - fast mehr wie ein flüchtiges Gefühl. Wie ein klarer Ton, ein klarer Klang. "Du solltest nicht so viel trinken". Kaum hörbar, flüchtig, schnell vergessen.

    Der letzte Tag
    Es war ein Mittwoch in den Sommerferien. Ich ging ins Büro. Meine Ausbilderin und ich hatten nicht allzuviel Arbeit, so daß wir auch viel über Gott und die Welt quatschen konnten. Wir waren gelöster Stimmung und lachten viel. Ich freute mich schon auf den abendlichen Stadionbesuch beim Berliner Amateurverein. Nach Feierabend ging es per S- und U-Bahn dahin. Es war ein schöner. lauer Sommerabend. Fast wolkenfrei. Ich trank meine ersten zwei Biere recht zügig. Beim dritten Bier dachte ich noch zu mir selbst "Mensch Leo, Du solltest nicht zuviel trinken. Morgen hast Du um 10 Uhr einen wichtigen Kundentermin für eine große Veranstaltung!" Dieser Gedanke war flüchtig und schnell vergessen. Viele alte Bekannte und Freunde getroffen, viel gequatscht, viel getrunken, ein mittelmäßiges Spiel mit gutem Ende gesehen. Viel zu spät und viel zu betrunken der Heimweg: S-Bahn und ein Wegbier, am Ende der Fahrt schon wieder leer. Na dann noch zwei kleine Bier vom Späti als Absacker und zuhause vor den Computer, nochmal ins Forum schauen und völlig betrunken einen Kommentar zum Spiel schreiben und von den anderen lesen. Irgendwann zu dieser Zeit wieder ein Filmriss, denn ich weiß nicht mehr, wie bzw. wann ich ins Bett gegangen bin...

    Viele Grüße Leo[/u]