Liebe Julia,
meine Gedanken gingen in genau dieselben Richtungen wie Deine:
Ich bin nach vielem gequälten Grübeln zu dem Schluss gekommen, dass man bei "Grenzfällen" letztenendes einfach nicht genau sagen kann, wo der Alkoholismus anfängt und das nicht abhängige Vieltrinken aufhört. Als Mitbetroffener weiß man es nicht, und der Trinker selbst weiß es wahrscheinlich auch nicht, nur dass wir Partner eher davon ausgehen, dass da schon eine Abhängigkeit da ist, während der grenzwertige Trinker selbst natürlich felsenfest vom Gegenteil überzeugt ist.
Aber letztenendes ändert das auch nichts, denn wenn der Partner nicht-abhängig soviel trinkt, dass man es nicht erträgt, ist es ja schließlich auch schon fürchterlich genug.
Aber die kulturelle Prägung ist auf jeden Fall da, daran habe ich auch gedacht, denn ich hatte in meinem Leben sowohl viel mit Slawen als auch mit Skandinaviern zu tun - Skandinaviern im weiteren Sinne, also auch mit Finnen, und ich bin viel in Finnland unterwegs gewesen.
Dabei habe ich natürlich auch die Trinksitten dort kennengelernt, und hatte immer den Eindruck, dass, überspitzt gesagt, die Leute in Skandinavien - und vor allem in Norwegen und Finnland - entweder totale Abstinenzler oder aber Alkoholiker sind, und dazwischen scheint es einfach nichts zu geben.
Und im Gegensatz zu den Slawen, bei denen es meist ziemlich wild zuging, schien mir in Finnland auch das ganze Konzept des "social drinking" irgendwie zu fehlen. Ich habe einige Partys erlebt, bei denen sich die Leute praktisch ausnahmslos einfach bis zur Quasi-Bewusstlosigkeit zuschütteten, ohne dass dabei viel los gewesen ware, und ein paar Tage später meinten dann einige: Was für eine geile Party war das, ich kann mich von dem ganzen Abend an nichts erinnern!
Und so ist eben auch meines Erachtens das sozial akzeptierte Trinken stark kulturell geprägt, und in Finnland muss man wahrscheinlich einfach akzeptieren, dass sehr viel mehr Leute sozial so konditioniert sind, dass sie für unsere Begriffe extrem viel trinken und das als normal ansehen, so dass man sich einfach damit abfinden muss. Und ich denke, dass es einem das Leben vielleicht etwas leichter machen kann, wenn man denkt: Ist hier einfach so, macht nicht nur mein Partner so, sondern eigentlich alle.
Aber so, wie Du das von Deinem Freund schilderst, hat es natürlich ein Ausmaß, bei dem man sich auch durch Akzeptanz der anderen Kultur nicht mehr selbst beruhigen kann ...
LG
WildRover