Oh, keine Sorge, die Lust am Schreiben habe ich noch nicht verloren.
Ich hatte heute beim Sozialdienst eine "Einzeltherapie" zu dritt. Ich und zwei Therapeutinnen. Meine erste Session. Die Grundannahme: "Jeder hat aus einem bestimmten Grund angefangen, zu trinken." Ich dachte: Na dann, viel Spaß beim suchen, denn ich für mich konnte keinen bestimmten Grund ausmachen.
Auf dem Heimweg hatte ich plötzlich totales Kopfkino. Ich parkte mein Auto vor der Haustür und blieb zwei Stunden darin sitzen. Rauchte eine Zigarette nach der anderen und schwänzte meine Gruppe. Videoschnipsel, Sequenzen aus meinem Leben reihten sich aneinander. Das Thema Alkohol war dabei eher zweitrangig. Fassungslos saß ich davor. Ich konnte keine Zusammenhänge erkennen. Hier ein Schnipsel aus der Jugend, da einer aus der ersten Trockenheitsphase, wieder einer, als ich nass war. Hätte mich jemand in den Arm genommen, ich hätte geheult und ich hätte nicht mal sagen können, weshalb. Es hat keiner getan, zum Glück. Ich überlegte, wann ich denn das letzte Mal geweint hatte (bei halbwegs klarem Verstand). Ich konnte es nicht genau sagen, vermutlich vor 6 Jahren, als meine Mutter mich beim ersten Entzug in die Arme nahm. Und danach? Was ist mit mir passiert?
Ich spreche weder über Gefühle, noch Probleme. Ich habe eine Mauer um mich herum gebaut, die ich einfach nicht sprengen kann. So sehr ich es will, ich kann es nicht. Viel schlimmer noch: Ich habe sie so hoch gebaut, dass ich nicht mal selbst mehr drüber schauen kann. Ich weiß nicht mehr, was ich fühle. Menschen, die mir "zu nahe" kamen, habe ich von mir gestoßen (wohlgemerkt: Auch oder gerade in der Phase, wo ich trocken war). Zu dieser Erkenntnis bin ich gekommen. Und plötzlich ergaben einige Dinge einen Sinn: Eine tolle Frau sagte mal zu mir, sie wisse überhaupt nicht, woran sie bei mir sei. Kunststück, wenn ich meine Gefühle nicht zeige, mir darüber selbst nicht mal im Klaren bin. Habe ich mich mal damit auseinandergesetzt? NEIN!!! Mir ging's doch gut, jedenfalls habe ich mir das solange eingeredet, bis ich es selber glaubte. Ich bin dadurch einfach nur unverbindlich geworden. Kein Wunder, dass ich laufend Beziehungen versenke, kein Wunder, dass sich niemand mehr an meinen Geburtstag erinnert. Ich habe mich nicht in die Isolation gesoffen, ich hatte mich schon vorher isoliert. Der Suff war nur der endgültige Schritt.
Der größte Sprung ist der, über seinen eigenen Schatten. Ich kann es nicht, noch nicht. Ich will niemanden zu dicht an mich heranlassen, aus Angst, enttäuscht zu werden. Ich kann mir eigene Schwächen nicht eingestehen, getreu dem Motto: Ein Indianer weint nicht! Zum Alkoholismus kann ich stehen, ist ja halt 'ne Krankheit, kann ich ja nix für. Hinter diesem Krankheitsbegriff kann ich mich toll verstecken. Und hey, ich will ja sogar 'ne Therapie machen, also vorwerfen kann man mir diesbezüglich nichts. Und bevor jemand schreibt, dass das doch ein toller erster Schritt sei: Ich habe mich bis heute dahinter versteckt. Ich glaube, ich wollte diese Schritte konsequent gehen, um mir nichts vorwerfen lassen zu müssen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Therapien hart sein können. Voller Scham denke ich daran, dass ich sogar versucht habe, die Therapeuten mit meinem Gemauere zu verarschen. Bis sie mich durchschauten, drohten die Sitzung abzubrechen, mich ins Kreuzfeuer nahmen und ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie haben ihren Job gut gemacht!!! Dies anzuerkennen, könnte der erste Schritt für eine zögerliche Vertrauensbasis sein. Heute habe ich erkannt, dass es mir beschissen geht und dass ich verdammte Hilfe brauche!!! Ich bin kein Held, ala John Wayne, auch wenn ich’s gern der ganzen Welt vorgaukeln möchte.
Was das ganze mit Alkohol zu tun hat, erschließt sich mir noch nicht ganz. Ich habe aber eine vorläufige Antwort auf die Frage, weshalb ich mich nicht früher geoutet habe. So sieht jedenfalls meine erste vorläufige Diagnose aus.
Okay, soviel erstmal dazu. In der Therapiesitzung wurde mir geraten, morgen in der Gruppe einfach mal zu versuchen, darüber zu reden, da ich mich bisher bei den Gruppengesprächen vornehm zurückgehalten habe. Mir ging’s ja gut, ich hatte keine weiteren Probleme. Die andern sehr wohl, also ließ ich sie reden. Ich bin am überlegen, diesen Text einfach auszudrucken, die wichtigsten Stellen zu markieren und vorzulesen. Der Text beschreibt meine Situation sehr gut, ist hübsch strukturiert und ich kann mich wenigstens hinter einem Zettel verstecken. Es ist schon krass, dass ich ohne Probleme, frei vor hundert Leuten zu einem bestimmten Thema referieren kann, aber es nicht schaffe, vor zwei Therapeuten, geschweige denn vor einer Gruppe von zehn Mann, über mich zu reden.
Und somit habe ich nicht nur gegen eine Krankheit, sondern auch noch mit einem viel diffuserem Problem zu kämpfen.
Bis denne
PS: Meine Cowboystiefel behalte ich trotzdem an!