Liebe Siri!
Endlich komme ich zu deinem Post – der mich sehr fordert, da du ja sozusagen ‚die andere Seite‘ repräsentierst und ich auf der der Schuldigen stehe. Zumindest empfinde ich es automatisch so. Umso dankbarer bin ich, dass du dich eingeschaltet hast, denn ich will das ja: Mich wirklich auseinandersetzen und nicht länger ausweichen und vermeiden.
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Ich kenne solche abhängigen Beziehungsstrukturen: Sobald meine Mutter in ihren Beziehungen einen Partner hatte, wurde ich völlig links liegen gelassen. Obwohl meine Mutter alkoholabhängig war und ist, war sie bis zur Selbstaufgabe und dem Opfer von allem, was sie hatte, bereit alles für ihre Partner zu tun. Es ist ermutigend, dass es Elternteile gibt, die sich dieser Auseinandersetzung stellen.
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Ich verstehe, dass es sehr schwer nachvollziehbar ist für dich – für alle nicht beziehungssüchtigen Menschen vermutlich.
Eine Mutter sollte gesund genug sein, bevor sie sich entscheidet, Kinder zu kriegen, und sich gebührend um sie kümmern können.
Umgekehrt sollte eine Mutter, die selbst noch auf der Stufe eines Kleinkindes steht und unbedingt auf eine bestimmte Bezugsperson angewiesen ist, um seelisch zu überleben, auf keinen Fall so dumm sein, Kinder zu bekommen – denn natürlich sucht sie sich als Erwachsene eine solche Bezugsperson aus, mit denen sie ihre Kindheitswunden neu inszenieren kann, und da kommt keine einfache Beziehung bei heraus.
Tja, deine Mutter und ich haben das eindeutig verkackt.
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Jetzt nicht auch noch als Therapeutin für die Mutter in Anspruch genommen werden!
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Wie ich schon anderswo schrieb, habe ich diese Sehnsucht zum Glück nicht.
Was mich total überrascht hat, ist, dass es noch weitergeht: Meine Tochter kann, was meine Schuld betrifft, gar nichts für mich tun.
Natürlich wäre mir ein bisschen wohler, wenn es ihr besser ginge und sehen würde, dass sie trotz allem klarkommt. Aber auf mein Empfinden mit mir selbst hat das keinen Einfluss. Ich bin diejenige, die mit mir leben muss. Ich habe die Wahl, mich für den Rest meines Lebens zu zerfleischen oder mir irgendwann wieder zu erlauben, dass es mir trotz allem gut gehen darf.
Vielleicht ist das für andere Menschen gar nicht so bahnbrechend. Für mich, deren Seelenheil früher zu 100% von meiner geliebten Person abhing, ist diese Erkenntnis absolut krass.
Und seltsam. Dass ich so viel Macht haben soll.
Aber eben auch wieder die Verantwortung trage für die Entscheidung, die ich treffe.
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Aus meiner Sicht als EKA finde ich es besser, wenn jeder die Vergangenheit für sich allein aufarbeitet. Die Aufarbeitung sollte getrennt stattfinden. Jeder ist ganz allein für die Aufarbeitung verantwortlich.
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Du magst Erfahrungen gemacht haben, die dich zu dieser Meinung gebracht hat, oder?
Also dass jeder für seine eigene Vergangenheit selbst verantwortlich ist, ist ja auch naheliegend, klar. Aber es gibt ja auch eine gemeinsame Vergangenheit.
Bei meiner Tochter und mir ist es ja so, dass ich sie gebraucht habe, um den Tod meines Mannes zu überleben und trotzdem für meine vier Kinder da sein zu können. Was ja nur ein Teil meiner Vergangenheit ist – aber eben der Teil, der zu meiner Tochter gehört. Und ja, dass ich so sehr von meiner Trostlosigkeit bedroht war, ist mein Ding, und es gibt viel mehr ‚Beispiele‘, wie sich das in meinem Leben gezeigt hat. Meine Tochter ist eines dieser Beispiele. Wäre es wirklich so schlimm, wenn sie und ich gemeinsam daran arbeiten würden? Jede von ihrer Seite?
Das ist eine echte Frage, ich weiß es nicht. Und entscheide das ja auch gar nicht, das muss sie machen.
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Das Verzeihen rührt nicht von der Erarbeitung einer gemeinsamen Sichtweise. Keiner der Beteiligten sollte sich zu Kompromissen oder Abstrichen an der eigenen Sicht genötigt fühlen. Bei einer gemeinsamen Aufarbeitung kann diese Erwartung sich aber leicht einschleichen.
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Ich habe mir noch nie ausführliche Gedanken über Verzeihen gemacht, weil ich nie Probleme damit hatte. Ich habe mich immer bemüht, die Sichtweise der anderen Partei zu übernehmen, zu verstehen, weswegen sie so gehandelt hat, wie sie gehandelt hat – und dieses Verstehen hat meinen Groll gegen sie automatisch zum Verschwinden gebracht.
Eine gemeinsame Sichtweise kann es ja meistens gar nicht geben, oder? ‚Täter‘ und ‚Opfer‘, um mal die plakativen Rollen zu benutzen, habe jeweils ihre Seite, die der anderen komplett entgegengesetzt ist.
Wenn ich so darüber nachdenke, mache ich es im allgemeinen so, dass ich meine Sicht nicht so wichtig nehme und die des anderen anerkenne – also natürlich behalte ich meine eigene Sicht bei. Aber es reicht mir, sie für mich zu haben und muss sie nicht vom anderen bestätigt kriegen. Und es fällt mir leicht, zu verzeihen, weil ich den anderen meist gut verstehen kann.
Bisher bin ich mit dieser Strategie immer gut gefahren. Jetzt sehe ich, dass ich es mir (und dem anderen) so sehr leicht gemacht habe. Und dass auch diese Haltung natürlich noch sehr ‚co-abhängig‘ ist.
Wie geht das denn eigentlich mit dem Verzeihen unter ‚gesunden‘ Menschen??
Okay, es geht ja noch weiter bei dir, Siri!
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Aus meiner Sicht muss es darum gehen akzeptieren zu lernen, dass es zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt: Zu lernen, dass das, was in der Vergangenheit passiert ist, zu radikal unterschiedlichen Folgen geführt hat und deshalb für die Beteiligten auch unterschiedliche Bedeutung hat. Es gab damals eine Asymmetrie: die Kinder waren dem Ganzen ausgeliefert, die Erwachsenen nicht. Zwar sind Eure Kinder heute erwachsen und der Situation deshalb nicht mehr ausgeliefert, eine Begegnung auf Augenhöhe kann aber nur stattfinden, wenn das Elternteil die individuelle Sicht des Kindes aushält und gelernt hat, diese Sicht der Dinge stehen zu lassen. Aus meiner Sicht ist nur dann eine respektvolle Begegnung möglich.
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Die Dinge so unvereinbar stehenlassen, sagst du – das ist ja meine bewährte Strategie gewesen, das kann ich.
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die Kinder waren dem Ganzen ausgeliefert, die Erwachsenen nicht.
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Ja, sicher, so ist es, das ist objektiv wahr.
Subjektiv sind Erwachsene nicht automatisch erwachsen und können genauso ausgeliefert sein, wie Kinder es sind. Das ist verwerflich, siehe oben, und wir betroffene Erwachsene haben damit eben Schuld auf uns geladen. Dennoch ist es auch wahr, dass wir eben nicht immer die freie Wahl haben.
Ich habe nach dem Tod meines Mannes entschieden, dass ich die perfekte Mutter sein wollte, und habe es zwei Jahre lang auch durchziehen können. Wäre es nach mir gegangen, wäre das für immer so geblieben. Tja.
Aber letztendlich rechtfertigt das nichts. Meine Schuld bleibt.
So, jetzt brauche ich erstmal wieder eine kleine Pause.
Nova, die Antwort an dich kommt danach!
Runa