Hallo Forum,
nachdem ich nun schon wieder einige Zeit von "meiner Reise ins Ich" zurück bin, möchte ich nun meine Erfahrungen berichten.
Ich war insgesamt gut 4 Wochen in Amerika, ganz allein, zu Fuß in den Apallachen unterwegs. Dabei habe ich insgesamt fast 850 km zurückgelegt, 12 kg abgenommen und eine Menge über mich gelernt. Die Strecke, die ich für meine Wanderung ausgewählt hatte, liegt größtenteils in Virginia/Tennessee/North Carolina und wechselt zwischen einfacheren, etwas ebeneren Abschnitten und gebirgigen Passagen.
Meine Motivation, diesen Tripp zu machen, war, dass ich nach allem, was dieses Jahr passiert ist, das Gefühl hatte, Abstand gewinnen zu müssen. Wer meinen (unregelmäßigen) Thread verfolgt hat, weiß, dass ich neben meinem Entschluss, nichts mehr zu trinken auch andere Brocken - beruflicher, wie auch familiärer Art - zu schlucken hatte. Meine Beziehung war stellenweise auch nicht so, wie ich es mir wünschte, ich muss aber meiner Frau wirklich dankbar sein, dass sie am Ende zu mir gehalten hat und vor allem auch, dass sie mir diese Reise ermöglicht hat, während sie allein mit den beiden Kindern zuhause blieb.
Meine Situation vor der Abreise war ein Gefühl des Ausgebrannt-Seins, leicht depressiv, orientierungslos und auch die Gedanken an den Suff schlichen sich mehr und mehr ein. Dass ich dann wirklich losgezogen bin, überrascht mich eigentlich immer noch
Der Abflug war dann aber schon ganz anders, ich fühlte mich plötzlich frei, gelöst und offen für das, was kommen würde. Nach der Ankunft in den USA habe ich mich nicht lange aufgehalten, bin gleich in den Bus gestiegen (hatte absichtlich kein Hotel für den ersten Tag gebucht) und los gings durch die Lande. Von der Fahrt habe ich nicht viel mitbekommen - da ich im Flugzeug nicht schlafen konnte, bin ich im Bus gleich weggeknackt. Als ich dann in Roanoke (VA) ankam, war es 3:00 früh und ich wusste erst mal nicht, was ich tun sollte. Hab mich dann in die Wartehalle verzogen und die Zeit bis zum Sonnenaufgang dort verbracht.
Die erste Etappe durch die Stadt und raus zum Trail war dann schon mal eine Zäsur, die Stadt zeigte sich von ihrer hässlichen Seite (dreckig, unsicher, laut...) und so schaute ich, dass ich wegkam. Als ich die Vororte hinter mir hatte, ging's dann besser - ich suchte ja Einsamkeit. Am ersten Tag riss ich gleich 40 km runter - ich wollte am liebsten rennen, wegrennen von allem, von meinem alten Leben und den alten Problemen. Abends war ich todmüde, konnte kaum noch das Zelt aufbauen und schlief wie ein Toter.
Als ich am nächsten Tag um 6:00 aufwachte und mich zum Frühstück hinsetzte, spürte ich dann schon diese besondere Stimmung, die mich die nächsten Wochen begleiten sollte - Freiheit, Ruhe (innere wie äußere) - einfach wunderbar. Der Campingplatz lag mitten im Wald und war nur spärlich belegt. Nach und nach kamen andere aus ihren Zelten, die meisten auch Hiker wie ich. Einige ganz verrückte, die die ganze Strecke des Trails (über 3400km) gehen wollten, waren auch dabei. Alles ganz nette Typen, viele eher ruhig - aber alle sehr herzlich. Mir wurde angeboten, mich einer Gruppe anzuschließen, was ich aber ablehnte, weil ich zuerst allein ein Gefühl für den Trail entwickeln wollte.
So vergingen die ersten Tage, meinen anfänglichen Übereifer musste ich aber am dritten, vierten Tag büßen, ich hatte meine Leistungsfähigkeit deutlich überschätzt. Die Folge war ein wahnsinniger Muskelkater, Überlastungserscheinungen in Knien und Hüftgelenken und einige nette Blasen. Ich muss in der Zeit ein wirklich bemittleidenswertes Bild abgegeben haben und habe dann auch meinen "Trailnamen" bekommen. Er wurde mir von einer Gruppe Australier verliehen, die selber langsam unterwegs waren - was sie aber nicht abhielt, mich als "Snail" (Schnecke) zu verspoten.
Nach ein paar Tagen habe ich mich von der Gruppe dann wieder getrennt und bin allein weiter. Meinen Beinen ging es wieder besser, die Hälfte meiner Ausrüstung hatte ich verschenkt um den Rucksack zu entlasten und so kam ich in eine etwas wildere, bergigere Gegend. Die Landschaft war grandios, hinter jeder Ecke wartete eine neue Erfahrung, ich habe Wölfe und Bären gesehen, eine Vielzahl von Vögeln, Pflanzen ... Hier lebte ich wirklich auf. So verbrachte ich fast eine Woche allein (mit Ausnahme von kurzen Begegnungen auf dem Weg). Ich habe wild Gecampt, weil ich mich vom Betrieb der Campingplätze fernhalten wollte - was natürlich nicht ohne Risiko war.
Ich war also voll gut drauf als ich mich entschloss, einen Abend wieder auf einem belebten Campingplatz zu verbringen. Mein Äußeres war inzwischen in das übliche Outfit des Trails übergegangen: Bart, ungekämmtes Haar, nicht mehr ganz sauber... so fand ich bald Anschluss an eine Gruppe, die selbst erst ein, zwei Tage unterwegs waren und mich wohl als alten Hasen ansahen. Es wurde viel geredet am offenen Feuer gesessen - als plötzlich einer neben mir eine Flasche "Old Turkey" auspackte und mir anbot.
Den Schock, der mir da durch den Leib fuhr kann sich niemand vorstellen. Tief drin hatte ich mir eingebildet, alle meine Probleme weit hinter mir gelassen zu haben und dann dies. Der Typ muss wohl gemerkt haben, dass was nicht stimmte und hat sich erkundigt, was los sei. Da habe ich dann zum ersten Mal, seit ich nichts mehr saufe, zu einem Wildfremden gesagt, dass ich Alkoholiker bin und nichts mehr trinke. Das war für ihn - aber auch den Rest der Gruppe - dann sehr unangenehm, "private" Probleme derart nach außen zu tragen, scheint in Amiland nicht so erwünscht zu sein, aber der freundliche Herr packte wenigstens seine Flasche weg. Ich habe mich dann bald verabschiedet, ich war so aufgewühlt, aber auch stolz, dass ich das so gut überstanden hatte.
Ab da habe ich mich dann nur noch mit solchen Hikern zusammengetan, die offensichtlich schon eine längere Strecke hinter sich hatten - da konnte ich sicher sein, dass keiner überflüssiges Gewicht (sprich Stoff) im Rucksack hatte.
Langsam ging es dann auch dem Ende zu. Die letzten Tage versuchte ich, möglichst viel von der ganzen Umgebung und dem Feeling aufzusaugen. Ich war aber auch froh, dass es dem Ende zuging. Als ich dann im Bus nach Charleston saß, freute ich mich schon wie ein kleines Kind auf's Heimkommen. Flug war wieder nicht so toll - die Airlines sind einfach nicht auf Leute über 190 eingestellt.
Dann in Deutschland am Flughafen der große Augenblick: meine Frau mit den beiden Kids und meinen Eltern haben mich abgeholt. Als ich sie stehen sah, kamen mir die Tränen, so habe ich mich gefreut, wieder da zu sein. Anders herum waren meine Leute aber sehr erschrocken, wie ich aussah. Ich hatte sehr abgenommen und obwohl ich mich wieder für die Zivilisation hergerichtet hatte, sah ich wohl doch noch schlimm aus. Wenigstens haben mich meine Töchter gleich erkannt
So, jetzt bin ich schon ein paar Wochen zurück, wieder in die übliche Tretmühle eingespannt - was hat mir dieser Egotripp gebracht? Er hat mir gezeigt, dass du alles schaffen kannst, dass egal wie schlimm der Tag ist, du deinen Weg gehen kannst - wenn du nur daran glaubst. Für mich persönlich wurden viele Dinge wieder auf die korekte Größe gestutzt und in die richtige Perspektive gesetzt. Meine Prioritäten wurden neu gemischt, meine Ziele teilweise radikat umgesetzt. Mein Verhältnis zu meiner Frau ist inzwischen besser als je zuvor. Mein Umgang mit meiner Umwelt viel offener - ich habe keine Angst mehr davor, was andere denken könnten. Und vor allem anderen nehme ich mich selbst nicht mehr so wichtig. Wie egomanisch diese Reise auch scheinen muss - sie hat mich letzten Endes vor allem eines gelehrt: Bescheidenheit.
Gruß
Pauli.