Hallo,
vorgestellt hab ich mich nun und jetzt habe ich ein paar Fragen an die Langzeittrockenen oder auch Leute, die die gleichen Erfahrung gemacht haben oder machen wie ich. Es geht um meinen Freund, der mir ein wenig Sorgen bereitet. Er ist seit fast 7 Monaten nüchtern. Trocken will ich nicht behaupten, denn er hat meiner Ansicht nach noch nasses Denken. Aber so nass, dass man drin baden könnte. Ich frage mich, wie man bei dieser Einstellung (so lange) nüchtern bleiben kann?
Folgende Vorfälle:
1. Weihnachtsfeier. Wird natürlich hingegangen. Ok, es sind bereits 6 Monate vergangen. Trotzdem. Dann auch noch ganz STOLZ die Getränke für die anderen bestellen. Weil ja die arme Bedienung eh schon überfordert war und selbstverständlich nicht die Bestellung jeden einzelnen aufnehmen kann, wird erst mal pauschal 10x davon und 10x davon bestellt. Als „alter Hase“ kennt man sich ja aus und weiß was geht. Man, die Bedienung bekommt Geld für das was sie tut. Ok, er war zwar nur 3 Stunden da, aber die reichen auch, um einen ins Wanken bringen zu können, denke ich.
2. Am liebsten möchte er gar nicht auf das Thema Alkohol angesprochen werden, hab ich das Gefühl. Ignorieren und verdrängen, aber das geht nicht, es gehört zu seinem Leben. Wie kann man denn sein Leben ignorieren?!
3. Auf den Weihnachtsmarkt wäre er auch gegangen, wenn ich gewollte hätte. Wollte ich aber nicht. Es war ihm mehr oder weniger egal, ob wir hingehen, aber er hätte es getan. Ich habe ihn gefragt, was denn mit dem Geruch wäre von Glühwein, ob er mal daran denkt. „Oh ja, dann werd ich gleich wieder rückfällig!“ seine ironische Antwort wie so oft. Es riecht dort seiner Meinung nach mehr nach verbranntem Fett und Essen als nach Alk.
4. Aussagen wie: Wenn ich ein Bier trinken will, dann tue ich das. Gibt ihm das ein Gefühl von einer Art Freiraum, dass man sich nicht so eingesperrt fühlt? Damit man sich nicht so unter Druck setzt? Weil er ja weiß, dass es kein „nur ein Glas trinken“ gibt.
5. Wochenende vor Weihachten wollte ich noch W.-Geschenke kaufen. Wusste auch schon wo und was. Oh Gott, Weltuntergang. Panik. Dass wir Wochenende immer einkaufen, ist ja klar, aber nicht noch Geschenke und in DIESEM überfüllten Kaufhaus kurz vor Weihnachten. Aldi ok, aber nicht dahin! Und dann nicht wissen was man kaufen will, ewig gucken und und und. Da meinte er doch plötzlich: „Ich bin seit einer halben Stunde am kämpfen, nicht in die Kneipe zu gehen.“ Boah, das saß. Ich stand da und mein Herz fing an zu rasen. Kann der Auslöser evtl. auch die W.-Feier eine Woche vorher gewesen sein? Gut, man weiß es nicht. Aber ok, kein Problem, fahr ich alleine Geschenke kaufen. Er mochte das noch nie, in volle Kaufhäuser einkaufen fahren. Hab ich in dem Moment auch nicht dran gedacht . Ich hab ihn danach noch 2 mal auf diesen Vorfall angesprochen. Das erste Mal sagte er, er hätte gemeint in die Kneipe wegen der Leute nicht wegen Alk und beim zweiten Mal hieß es plötzlich, „War nicht so gemeint, passte gerade so schön, hätte auch sagen können, ich geh mal kurz zu mir nach Hause.“ Hä? Warum kam dann in seinem ursprünglichen Satz das Wort kämpfen vor? Ausreden, wie damals. Er versteckt sich hinter der Wahrheit, richtig?
6. Schwager trinkt Bier auf Geburtstagsfeier und dann fragt er ihn ganz STOLZ, „Was ist denn das für lecker Bierchen?“ Wen interessiert denn das?
7. Oder auch auf der Feier STOLZE Fragen wie: „Was für ne Sorte Kümmel ist denn das?“ Wozu das???
8. Er hatte einen Traum, in dem er kaltes Bier getrunken hat in einer Kneipe. Er war nicht unbedingt erschrocken über diesen Traum, wie die meisten es hier doch wären. Und kaltes Bier war auch überhaupt nicht sein Ding, aber da hat es geschmeckt. Ist das verdächtig? Was bedeutet das? Überhaupt hat er oft Alpträume. Meist von der Arbeit, er schafft seine Arbeit nicht, Zeit ist knapp. Ist das gut, dass er das träumt, damit er es verarbeiten kann? Zumindest scheint es ihn in der Realität zu beschäftigen. Und es ist auch so, dass manchmal mehr Arbeit wie Zeit ist. Er träumt oft von Ruinen, wo sie langfahren müssen mit dem Firmenwagen und wissen nicht wo sie sind. Kann ein derartiger geträumter (Zeit-) Druck gefährlich werden? Er war glaub ich auch „Stresstrinker“.
9. Der Coolness halber kommt oft der Spruch zu Bekannten unterwegs im Vorbeigehen (wahrscheinlich Leute, die ihn als „guten Kneipenkunden“ kennen), „Ich trink ….“ seine Biermarke halt. Das hat er schon immer so gemacht. Wahrscheinlich, weil sie ihn so kennen. Sollte er das nicht auch lassen jetzt?
Aber viel bedenklicher finde ich, und das ist auch der Hauptgrund, der mich bewegt hat zu schreiben,
10. dass er sich auf Arbeit mit Alk „zudeckt“. Er bekommt oft Bier und weiß ich was geschenkt (trau mich schon gar nicht zu fragen) und nimmt das dann erstmal mit in seinen Umkleideschrank, um es dann später, innerhalb der nächsten Tage, an Kollegen zu verschenken. Will er dafür gelobt werden? „Toll, wie Du das nur wieder gemacht hast, dem Bier zu widerstehen.“ Ich denke, da es keiner tut, klopft er sich dafür selbst auf die Schulter. Und beweist sich damit, dass er es nicht braucht. Es wird doch eh verschenkt, warum also erst annehmen? Er meint: „Warum soll ich MEINEN ANTEIL nicht annehmen? “ Welchen Anteil ? Den zum Trinken *kopfkratz*? Alte Denkweise, so viel wie möglich zu mir, alles meins. ER will entscheiden, welcher Kollege es bekommt. Sein Kollege, mit dem er zusammenarbeitet, bekommt es zum Beispiel nicht, weil der ihn immer ärgert. Darum nimmt ER es immer in Empfang. Er sagt ganz STOLZ, er braucht das Bier nicht, es ist für ihn ein Gegenstand wie jeder andere. Wenn er beweisen will, dass er es nicht braucht, warum sagt er dann nicht gleich zum Schenker, ich trinke nicht. Dann kann er sich mal aus gutem Grund auf die Schulter klopfen. Er meint, wenn ich 10 Euro geschenkt bekomme, nehme ich die doch auch an. Klar, die bringen ihn ja im Normalfall auch nicht um. Oh man, ich merk schon selber beim Schreiben, dass er noch total in den Kinderschuhen steckt. Und wenn ich ihn auf dieses Thema, Alk auf Arbeit, anspreche, kommt wieder sein Kommentar: „Oh ja, morgen früh fall ich gleich über die Flaschen im Schrank her. “Ich weiß, dass er anders denkt als er redet und tut. Wovor versteckt er sich? Hat er es für sich selbst noch nicht so alles akzeptiert? Dann wird´s aber Zeit. Warum vertraut er mir nicht, wenn ich sage, dass etwas nicht gut für ihn ist? Warum vertraut er dem Alk mehr als mir? Weil er es nicht anders kennt? Warum hat er keine Angst mehr vor dem Alk? Oder vertraut er nur sich selber, aber kann man das als Alkoholiker bereits nach so kurzer Zeit? Am Anfang hat er selbst noch gesagt, er traut sich selber nicht über den Weg. Und nun doch schon? Ich denke, es ist nicht einfach für ihn das ganze, aber er versucht nach außen hin den Coolen zu mimen und sich nix anmerken zu lassen. Evlt. auch wegen mir?
Das sind so viele Fragen, die mich bedrücken, was denkt er sich dabei? Seiner Aussage nach gar nichts. Schade! Ich mag ihn auch nicht ständig nerven mit dem Thema, weil ich denke, wenn er sich dann wirklich mal echte Gedanke, wie ihr alle über das Thema macht, merkt plötzlich, dass es doch nicht so einfach ist und bekommt Angst. Nicht dass, ich ihn noch dahin treibe , das wollen wir ja nicht.
Aber ich hab ein schlechtes Gefühl, dass es auf Dauer mit dieser Einstellung gut geht, wenn man sich nicht darum kümmert und alles einfach so laufen lässt. Er hat nen eisernen Willen, nur ob der zeitlebens ausreicht? Wie lange kann man nüchtern bleiben mit nur eisernem Willen? Gibt es Langzeitnüchterne (Trockene mag ich nicht schreiben, da m. E. hierbei auch die Denkweise trockengelegt werden müsste) die mit dieser Einstellung noch keine Rückfall gebaut haben? Ich möchte keine Zusprüche für diesen Weg, falls es so aussieht. Es interessiert mich nur. Er soll den sicheren Weg gehen. Wenn ich ans andere Ufer will und über Eis gehen muss, benutze ich doch auch die Brücke, die die anderen auch genommen haben und sicher ans Ziel gekommen sind. Er meint, er hat mit dem Alk kein Problem (Klar, wie die ganzen anderen Jahre auch nicht, das Problem war kein Alk). Oh doch, er hat ein Problem und das heißt Übermut, Unvorsicht und Leichtsinn, na ja ein kleines bisschen Unwissenheit ist wahrscheinlich auch dabei. Aber wie soll ich ihm das beibringen und glaubend machen, dass es nicht der richtige Weg sein kann, den er geht? Ich trau mich ja schon gar nicht mehr das Thema anzusprechen. Oft wird dann abgeblockt und erstmal eine rauchen gegangen. Hat sich aber auch schon gelegt.
Ich hoffe, jemand quält sich mal durch meinen Thread und kann mir wenigstens zu ein paar meiner Fragen etwas sagen. Es werden wahrscheinlich die Antworten kommen, die ich mir schon selber gebe. Aber es ist gut, endlich mal das Gehirn zu entrümpeln und es aufgeschrieben zu haben. Ist doch ein ganz schöner Batzen an Gedanken (und Sorgen), der sich mit der Zeit ansammelt.
Danke schon mal .
Jamie