Wer ist dieser Mensch?

  • Meine Geschichte ist eine lange. Ich bin 27 Jahre alt und mein Vater (65) trinkt so lange ich denken kann. Früher war es nur auf Feiern so oder wenn er mal mit seinen Freunden unterwegs war. Da war ich noch ein kleines Kind. Natürlich fiel es nicht so auf, weil es immer in Gesellschaft war. Meine Eltern trennten sich als ich acht Jahre alt war; das geschah aufgrund der Probleme, die durch den Alkoholkonsum entstanden. (Zuvor war er auch schon verheiratet, Ehe ging aber auch durch Probleme, die durch den Alk entstanden auseinander.)

    Mein Vater war von nun an allein, trank immer mehr, oft auch tagelang. Solche Tage fingen dann auch schon mal mit nem Frühschoppen an. Danach war er dann wochenlang wieder nüchtern. Dann kam wieder eine Phase in der er viel trank (Kneipe, allein zuhause und mit einem Freund)...und so wechselte es dann ständig. Mit der Zeit wurde er aggressiver, auch aus vielen Kneipen flog er raus, bekam Hausverbot (das Problem hatte er allerdings auch zu den Zeiten mit meiner Mutter). Er zerstritt sich immer mehr mit Freunden, Bekannten und Verwandten. Auch mit mir. In meiner Teeniezeit begriff ich langsam, was los war und schüttete den Alk auch schon mal in den Ausguss.

    Es folgten Zeiten, in denen ich sehr oft mit ihm zerstritten war, aufgrund des Alkoholismus und seiner Aggressivität. Er schimpfte sehr viel, auf alles und jeden. Nichts war ihm recht. Dazu ist er auch ein Mensch, der extrem überzeugt von sich selber ist. Man muss aber auch sagen, dass er äußerst intelligent und gebildet ist, und dass ließ er in den Kneipen auch die Menschen spüren. Er liebte es, ihnen zu zeigen, dass er mehr drauf hat, intelligenter ist. Wahrscheinlich hat er einen Minderwertigkeitskomplex, den er so versucht zu kompensieren.

    Beruflich war seit meinem 10. Lebensjahr nicht mehr viel los. Er ging in Frührente (Hatte es aber es aber in den 70er weiter gebracht...).

    Nun ja, die nüchternen Tage wurden kürzer und dann kam der Knall. Wir zerstritten uns so heftig, dass ich ihn gar nicht mehr sehen wollte. Schließlich musste er umziehen (hatte aber nichts mit dem Alkoholkonsum zutun, sondern andere Gründe). Er zog jedoch in eine andere Stadt, weil er da "schon immer hin wollte". Ich hatte seitdem nichts mehr mit ihm zutun. Ich dachte, er würde sich ändern, wenn er sieht, dass sich Familienmitglieder von ihm abwenden. Vielleicht würde er ja merken, dass er Fehler gemacht hat, doch er merkte nichts. Im Gegenteil: ich war die Schuldige! So hielt er es schon immer. Es waren immer die anderen Schuld. Leider wollten einige Familienmitglieder einfach nicht anerkennen, dass er ein Alkoholproblem hat - nicht mein Opa und auch nicht mein Bruder (37). Nein, von ihnen wurde er gedeckt. Es wäre doch ganz normal und in anderen Familien auch so. Von wegen Alkoholiker. Ich übertreibe ganz einfach.

    Tja, und nun lebte er in dieser anderen Stadt und ich nahm wieder Kontakt zu ihm auf (der zwischendurch auch immer wieder mal telefonisch stattfand). Ich hielt es einfach nicht mehr aus, machte mir Sorgen, schrieb Briefe. Und ich merkte, dass wann immer ich mit ihm sprach, er betrunken war. Ich merkte, dass ein Telfonat kaum mehr möglich war, da er nur noch schrie. Ich merkte, dass sein Gedächtnis abgenommen hatte. Er konnte sich kaum noch etwas merken. Seitdem er in dieser Stadt wohnte, hatte ihn NIEMAND aus der Familie besucht. Er war komplett allein. Ich wollte ihn besuchen, hatte Angst. Angst vor dem, was mich erwartete. Also schnappte ich mir meinen Freund und besuchte ihn.

    Als ich schließlich die Wohnung betrat, musste ich mich zusammenreißen. ich war total geschockt und hätte am liebsten nur noch geweint. Es war alles schmutzig, unordentlich und kaputt. Der Mensch, der so viel Wert auf Sauberkeit und Ordnung legte, den gibt es nicht mehr. Die Stühle hatten keinen Boden mehr; er stellte uns Teller und Gläser mit Essensresten auf den Tisch, die Fenster waren jahrelang nicht geputzt worden. Es war schrecklich. Ich mochte nichts essen, weil ich mich ekelte. Früher war er suaberkeits-FANATISCH. Abgewaschen wurde nach JEDEM Essen. Gesaugt wurde jeden zweiten Tag etc.

    Und was stand auf dem Esstisch? Eine Flasche Wein. Wir lehnten ab. Da trank er sie allein. Bevor wir kamen, hatte er schon in einer Kneipe zwei Bier getrunken. Wir gingen später mit ihm spazieren. Mir fiel dabei auf, dass sein Schuh ein größeres Loch hatte. Früher legte er sehr viel Wert auf sein Äußeres. Wir gingen in ein Cafe und aßen Kuchen und tranken Kaffee. Er bestellte sich jedeoch statt Kaffee einen Wein. Danach gingen wir weiter. Er wollte uns in eine Kneipe zerren. Er hatte den Leuten da drin versprochen mich vorzustellen. Ich machte Theater. "Nur ganz kurz", sagte er, doch ich hatte Angst, dass wir nicht mehr rauskommen würden. Er nannte die Männer in der Kneipe "seine Freunde", doch sind sie das? Nein, auch nur Saufkumpanen, die ebenso arm dran sind und sich gefunden haben. Früher hätte er diese Menschen gemieden. Nach einem Bier gingen wir wieder.

    Dann waren wir wieder in der Wohnung. Sprechen konnten wir nicht miteinander. Er war nur noch aggressiv und wurde laut. Es kamen nicht zwei, drei vernünftige Sätze zustande. Wir hielten es nicht mehr aus und fuhren Heim. Er sagte noch, dass der Besuch viel zu kurz gewesen sei. Ich sagte, dass wir morgen ja noch arbeiten müssen. Immer wieder betonte er, dass es zu kurz sei.

    Als wir im Zug saßen, rief ich ihn an, doch er war weg. Ein, zwei Stunden später erreichte ich ihn wieder. Er sei noch in derselben Kneipe gewesen. Nun war er sehr betrunken. ich sagte ihm, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe und er sich helfen lassen müsse. er meinte daraufhin, dass ich, wenn ich so denke, gar nicht mehr zu kommen brauche.

    Die Tage nach dem Besuch waren die Hölle. ich weinte nur noch. ich begriff, dass mein Vater tot ist. Von dem Menschen von früher ist nichts mehr übrig. Er hat Gedächtnislücken, ist extrem aggressiv, verwahrlost langsam, legt auf nichts mehr Wert. Er hat mich bei dem Besuch nichts über mein Leben gefragt. Es war früher anders. Sicher wird er früher auch schon ein Problem gehabt haben (ein schleichendes), doch hat es sich in der Zeit, in der er weg ist, extrem beschleunigt. Die Veränderung in den letzten 4 Jahren ist krass. Und er will es nicht einsehen. Nun habe ich ihm wieder einen Brief geschrieben. 10 Seiten. Dazu noch Telefonnummern der Anonymen Alkoholiker und die Adresse einer Suchtklinik, dazu noch Infos über die Phasen und Typen des Alkoholismus + Selbstest (Fragebogen).

    Doch frage ich mich, ob es hilft. Diese Leute werden sich doch bei dem Test selber belügen bzw. von sich behaupten, sie seien nicht aggressiv (bei einer Frage, ob man aggressiver geworden ist). Mein Vater ist unbelehrbar. Er sagt auch immer wieder, dass sein Kopf super funktioniert, wenn ich sage, dass er nicht mehr so ist, wie es früher einmal war.

    Dazu mache ich mir noch Vorwürfe und frage mich, ob es nicht besser geworden wäre (oder nicht so weit gekommen wäre), wenn ich den Kontakt abgebrochen hätte? Ich habe es nur getan, weil es mit ihm nicht mehr ging und er immer verletzender und aggressiver wurde. Nun denke ich, dass es so weit gekommen ist, weil keiner da war. Klar habe ich zwischendurch immer wieder mal angerufen oder mich bei meinem Opa erkundigt, wie es ihm geht. Gerade, weil ich Angst hatte, dass es schlimmer wird. Tja, und nun ist es schlimm. Er klagt zudem noch über Herzstiche und über ein Gefühl in einem Bein, das sich wie Strom anfühlt (morgens). Außerdem ist er häufig krank (Schnupfen). Früher war er alle 5 Jahre mal erkältet. Früher konnte man mit ihm sprechen, war er lustig und ein guter Gesprächspartner (wenn auch schon immer die Tendenz zur Rechthaberei). Jetzt ist schrullig und schimpft nur noch.

    Wo ist der Mensch, der er war? Er wurde verdrängt, durch jemanden anders. Mir ist er fremd. Wird diese Person jemals zurückkommen? Gibt es noch Hoffnung? Wer ihn kennt, der weiß, dass er Fehler niemals einsehen wird und auch nicht sieht, was los ist. Es ist wie bei Magersüchtigen. Die sehen auch nicht, dass sie zu dünn sind. Stehen als Skelett vor dem Spiegel und meinen dick zu sein. So ist es auch mit Alkoholikern. Ich weiß nicht, ob er lichte Momente hat, in denen er erkennt, was los ist. Fällt ihm denn nicht auf, dass es nicht normal ist morgens schon zu trinken (von morgens bis abends). Fällt ihm nicht auf, dass er keine anderen Getränke trinkt? Fällt ihm nicht auf, dass sein Kühlschrank anders aussieht als damals (leer)? Früher war er voll. Jetzt habe ich zwei Dosen Bier und eine Flasche Wein darin gesehen. Überhaupt ist mir aufgefallen, dass er nur Bier und Wein trinkt. Oder hat er es nur vor uns getan? Er redet viel über den Tod. Dass er sterben will und seinem Leben selbst ein Ende setzten will und es nicht einfach so geschehen lassen will. Hat er allerdings auch schon in seinen Zwanzigern getan (habe ich von seiner Tante gehört). Mit 33 wollte er tot sein.

    Was soll/kann ich tun? Er wird sterben.

  • Nachtrag: Habe einen Satz im letzten Absatz vergessen. Zu dem Fakt, dass er nur Bier und Wein trinkt, wollte ich noch sagen, dass er nichts Hartes trinkt. Jedenfalls hat er es nicht vor uns getan. Nüchtern ist er leider sehr selten. Als wir da waren, war er es. Aber er war trotzdem ein anderer Mensch.

  • Nachtrag 2. Leider weiß ich nicht, wie man hier editiert, aber ich wollte im dritten Absatz sagen: "Er schimpft auf alles und jeden." Und nicht "Ich..."

    Danke

  • Hallo Nathalie,

    das Editieren ist nur dem Administrator und den Moderatoren möglich.

    Ich habe es mal für Dich geändert! :wink:

    Lieben Gruß
    Speedy

  • Hallo Nathalie,

    du bist nicht Schuld! Dein Vater ist ein erwachsener Mensch, war es schon als er abgerutscht ist. Er allein ist für sein Verhalten zuständig, verantwortlich.
    Du kannst ihm nicht helfen. Er will deine Hilfe nicht.

    Was du brauchst ist Hilfe! Suche dir einen Arzt, einen Therapeuten, eine Suchtberatung, SHG,.. mit denen du über deine Sorgen sprichst.
    Jetzt ist Zeit für dein Leben. Ohne die Pflichtgefühle, auf deinen Vater zu schauen.
    Ich wünsche dir dazu die Kraft und den Mut,
    Liebe Grüße Gotti.

    Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.

  • @ speedy
    vielen Dank ;)

    Gotti
    du hast Recht. Vermutlich hast du auch so etwas durchgemacht (oder in der Art) und dich selber vernachlässigt. Es ist schwierig zu sagen, man lässt ihn einfach so leben. Vor allem, weil man ihm die Augen öffnen möchte. Man denkt: "Vielleicht sieht er es nicht oder kann es nicht sehen." Ich fragen mich, ob diese Menschen merken, dass sie ein Problem haben. Da könnte man dann doch ansetzen. Mir ist mein Vater ja nicht egal; man kann einen geliebten Menschen einfach nicht sterben lassen. Kommt irgendwann der Punkt, an dem ein Alkoholiker sich helfen lässt? Wahrscheinlich erst dann, wenn es zu spät ist, oder?

    Danke.

  • Hallo Nathalie,

    ich schon wieder......

    Zitat von Nathalie!

    Kommt irgendwann der Punkt, an dem ein Alkoholiker sich helfen lässt? Wahrscheinlich erst dann, wenn es zu spät ist, oder?

    Jeder Alkoholiker braucht seinen persönlichen Tiefpunkt.

    Der Verlust der Familie, des Arbeitsplatzes oder des Führerscheins, manch einer muss aber wirklich erst unter der sprichwörtlichen Brücke landen und wieder andere bekommen ihn nie.

    Aber immer ist es der Tiefpunkt, der einen Schalter umlegt und bewirkt, dass sich der Betroffene helfen lässt.

    Manch einer hat schon auf Druck der Familie oder des Chefs eine Entgiftung, eventuell sogar eine Therapie gemacht. Leider nutzt das in den seltensten Fällen, weil es ja nicht von dem Betroffenen selber kam.

    "Hilfe durch Nichthilfe" und "in Liebe loslassen" - das sind Sätze die Du hier sehr oft lesen wirst.

    Leider ist es aber die einzige Möglichkeit, den Betroffenen zu "retten".

    Ich weiss wie schwer es ist, einem nahestehenden Menschen zuzuschauen, wie er sich zu Grunde richtet und doch ist das "Loslassen" oft die letzte Chance für ihn!

    Lieben Gruß nochmal
    Speedy

  • Das habe ich ja schon versucht, das Loslassen. Ich hatte ja schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm. Auch die anderen Familienmitglieder nur ab und an über das Telefon. Bei ihm zuhause war nie jemand, seitdem er umgezogen ist. Und so sah es auch dort aus. Ich war sooooo geschockt. Ich kenne den Menschen nicht mehr. Er lässt sich gehen. Ich dachte, er muss es doch erkennen !!!! Er ist so verbohrt und hat Scheuklappen auf. Es ist so, als wenn jemand gestorben ist. Da braucht man auch erst eine Zeit, bis man es verkraftet hat. Vor allem, weil es früher nicht so war, nicht so doll und offensichtlich.

    Als ich ihn mit meinem Freund besucht habe, hat er sogar den Kuchen nach dem Alkoholgehalt ausgesucht. Wir haben etwas ohne Alk drin gegessen und er mit. Es ist schlimm zu sehen, wie jemand in den Tod geht. Ja, wahrscheinlich wird er es nie merken und stirbt vor meinen Augen, ohne dass ich ihm irgendwie die Augen öffnen konnte.

    Vielleicht hilft ja mein Brief und den Infos über die Phasen und Typen, Selbsttest irgendwie.

  • Ich glaube, ihr lest immer ähnliche Geschichten und sagt auch meist, dass der Alkoholiker selber erkennen muss, dass er einer ist. Trotzdem werdet ihr nicht müde zu antworten und zu helfen. Danke. Alle Geschichten sind ähnlich, aber ganz individuell. Alle Menschen, die hier schreiben, leiden. Ganz klar. Und doch frage ich mich:

    Kann man einen Menschen dabei unterstützen zu erkenne,n was er ist?

  • Ich habe heute mit ihm telefoniert. Da sagt er mir tatsächlich, er würde aus einer anderen Zeit kommen, da verträgt man den Alkohol eben. Er ist ja im Krieg geboren worden und meint, dass Menschen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind härter sind ...und somit ja auch quasi nicht süchtig werden. So kann man sich natürlich auch alles schön reden. Ich meinte daraufhin, dass es egal ist, wann man geboren wurde und in welcher Zeit man aufgewachsen ist. Mensch bleibt Mensch...Er glaubt nicht, dass er süchtig ist! Es ist einfach nur schrecklich. Aber hatte er ja schon wieder einen getrunken. Ich habe es ja an seiner Stimme gehört :(

    Da kann man nicht weiterhelfen, oder? Ich glaube, er wird nie verstehen, dass er süchtig ist.

  • hi natalie

    Zitat

    Er ist ja im Krieg geboren worden und meint, dass Menschen, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind härter sind ...und somit ja auch quasi nicht süchtig werden


    die ausrede hab ich bisher no net gelesen, interessant :roll:
    sorry, ich versuch meinen sarkasmus mal raus zu lassen - aber da seh ich wieder wie einfallsreich unsere eltern sind wenns ums thema alkohol geht. ausreden, verstecke etc. - da sind sie alle gleich, meine mutter überrascht mich da auch ab und an mal aufs neue...

    Zitat

    Da kann man nicht weiterhelfen, oder? Ich glaube, er wird nie verstehen, dass er süchtig ist


    grundsätzlich bin ich der meinung "sag niemals nie" - aber ich glaube bei alkoholikereltern ist es besser nicht zu hoffen.
    ich kann nur von mir sprechen - solang ich noch hoffnung bei meiner mutter hatte, solange wurde ich auch noch stets auf neue enttäuscht und es hat jedes mal weh getan, saumäßig weh getan.
    ich rechne nicht mehr damit das meine mutter einsichtig wird und seitdem gehts mir besser. das ging aber nicht von heut auf morgen, des kannst mir glauben.

    meine geschwister und ich ham bei unserer mutter das volle programm durch würd ich mal sagen, betteln, weinen, schreien, an die wand stellen, druck ausgeübt, briefe, auch vernünftige gespräche wo sie mal einsichtig war :arrow: nichts hat auf dauer angehalten, aus dem grund weil sie nicht wirklich trocken werden möchte, nicht mit allen konsequenzen.

    ich kann ihr nicht helfen, hilfe ist erst möglich wenn sie darum bittet und annimmt.

    liebe grüße

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