Mitleid als Hemmschuh

  • Ich möchte mich heute über Mitleid austauschen, weil es so viele von uns in ungesunden Mustern festhält. Ich bin in dieser Hinsicht schon ganz gut weiter gekommen, aber an einem Punkt geht es nicht so richtig weiter. Ich möchte das "berechtigtes Mitleid" nennen.

    Mein Bruder hat für unsere in jeder Hinsicht chaotische Kindheit einen hohen Preis gezahlt. Da ich selbst Kind in dieser Familie bin/war, ist mir sehr bewusst woran er nach und nach zerbrochen ist. Ich sehe auch, wie er Familiär nach wie vor verkannt und verleugnet wird. Da er im Zuge der ganzen Misere sowohl selbst Suchtstrukturen entwickelt sowie psychisch schwer krank geworden ist, befinde ich mich in der Lage, dass ich seine Geschichte eigentlich besser vertreten kann als er selbst, da er so eingeschränkt ist.

    Die klare Kante, der Bruch mit Angehörigen die uns nicht gut tun, ist immer schwer. Noch viel schwerer ist es, wenn es sich um jemanden handelt der kaum Gelegenheit hatte, er selbst zu werden, der von klein auf fertig gemacht worden ist und der seine schlechten Entscheidungen darum getroffen hat, weil er keine anderen Handlungsmöglichkeiten kennen lernen durfte. In seinem Rahmen hat er dann sogar noch einige Fortschritte gemacht, die sicher schwer erkämpft sind. Viele in seiner Lage hätten sich umgebracht, bzw. tun es laut Statistik auch.

    Nichts desto trotz ist mein Bruder natürlich ein Chaot, der einem viel abverlangt. Zuviel. Diese Abgrenzung fällt mir aber von allen am schwersten, weil ich unter dem Strich sagen muss: der hatte wirklich kaum eine Chance. Wo andere mich eher in ihrem Sinne zum Mitgefühl manipuliert haben, hat das Mitleid bei ihm seine Berechtigung, da ihm wesentliche "innere Mittel" zur Weiterentwicklung fehlen. Er ist tatsächlich eine "arme Sau".

    Wie habt Ihr Abgrenzung erlangt, von Menschen die tatsächlich Hilfe benötigen und sie moralisch gesehen auch verdienen? Was muss man in diesem Prozess aushalten, welche Phasen hattet Ihr? Ich kann mir vorstellen dass es zu einer Art Trauer kommt.

  • Hallo LeMa,
    Mitleid ist doch okay. Ich habe dreizehn Jahre in einer Klinik gearbeitet und hatte da ganz oft Mitleid. Mit meiner vom Alkohol abhängigen Frau hatte ich auch oft Mitleid und ich bedaure bis heute oft das wir nicht glücklicher miteinander sein konnten. Das mit Fühlen und das mit Leiden heißt doch aber nicht, dass wir es dem anderen abnehmen können oder etwas gut werden lassen können.
    Ich habe oft in der Zeit an unseren leitenden Thoraxchirurgen gedacht und mir vorgestellt seine Frau hätte Lungenkrebs, nicht heilbar. Wie müsste es so jemandem gehen der ganz vielen helfen kann, aber der geliebten Frau nicht. Ich war ja in ähnlicher Lage, mit besten Kontakten zu allen Disziplinen, Internisten, Psychiatern, Neurologen und konnte nichts tun.
    Für mich war entscheidend meine Grenzen zu akzeptieren und die Kinder in Sicherheit zu bringen.
    Es hilft auch nichts den vermeintlichen Mangel von einst auffüllen zu wollen. Etwa einem Mitvierziger Muttermilch anzubieten, weil die damals so gefehlt hat. Trauern gehört sicher dazu, damit man nicht versteinert. Die Tränen sind der Ausdruck des Lebendigen, selbst in den dunkelsten Stunden.
    Mitleid kann auch manchmal eine konvertierte Form von Aggression sein, aber das nur so. Nach deinem Beitrag habe ich nicht den Eindruck dass das eine Rolle zwischen dir und dem Bruder spielt. Für mich macht er einen bemitleidenswerten Eindruck.
    Hiob

  • Vielen Dank für Deine Antwort.

    Konkret ist gerade folgendes los: er hat einen Krankheitsschub, was bei ihm aber immer auch mit Alkohol einhergeht - die Medikamentenwirkung verschiebt sich dann.

    Ich spüre nun, dass ich äußerlich gesehen die Mittel habe, zu versuchen ihm durch diese Phase zu helfen und ihm damit das ersparen könnte was ich "Psychiatriechaos" nenne (Angehörige psychisch Kranker wissen was das ist):
    - neue Medis langwierig aufbauen statt die bewährte Kombi wieder einzupegeln
    - in seinem Fall Existenzstress mit Ämtern bei längerem Aufenthalt
    - drohender Wohnungsverlust bei längerer Unterbringung

    Aber in mir selbst spüre ich, dass das zulasten meiner eigenen Pläne und Energie gehen würde. So dass ich voller Gewissensbisse bin, ihn seinen schiefen und oft leidvollen Weg gehen zu lassen.

    Ein bisschen schwingt sicher auch mit, dass ich relativ gesehen besser aus der ganzen Herkunftsgeschichte raus gekommen bin. Da kommt man sich ja leicht hart vor, wenn man sich seine eigenen, freudvollen Angelegenheiten gönnt und den anderen sich selbst überlässt. Als wenn man lieber Eis essen geht statt ihm einen Kanten Brot zu schneiden.

    Zur Klärung, mein Kopf weiß dass das alles Quatsch ist, aber programmiert bin ich so und nicht anders.

  • Zitat von LeMa


    Da kommt man sich ja leicht hart vor, wenn man sich seine eigenen, freudvollen Angelegenheiten gönnt und den anderen sich selbst überlässt.


    Lema, es sind nicht nur die freudvollen Angelegenheiten. Du lässt sicher auch mehr seelischen Schmerz zu als dein Bruder das tut. Er scheint sich ja zu betäuben. Allerdings frage ich mich, ob er überhaupt noch leben will. Habt ihr mal darüber sprechen können? Es klingt sehr selbstdestruktiv was du über ihn schreibst.
    Ich denke übrigens schon dass man es sich gutgehen lassen kann, auch wenn andere leiden. Sonst gäbe es ja bald gar keine Vorbilder mehr für das genießen können. Ich habe viel mit Kindern gearbeitet die nicht Spielen und Lachen durften. Sie sind in wahren Gruften groß geworden. Diese Gefühle im Erwachsenenalter zu beleben ist für die Betroffenen Schwerstarbeit, wenn es überhaupt gelingt.
    Aus Erfahrung sage ich hier mal etwas altklug: Wer helfen will muss in einer guten Position sein, gut für sich selbst sorgen und vor allem auch seine Grenzen beachten. In einem guten Team oder in einer Familie mit vielen starken Schultern kann man einiges leisten. Du scheinst aber eher allein zu sein? Außerdem willst du ärztliche Aufgaben übernehmen, "die bewährte Kombi wieder einpegeln". Insgesamt willst du den Bruder jedenfalls vor den Folgen seiner Handlungen bewahren. Auf die Dauer ist das nicht konstruktiv, oder fehlen ihm alle Kausalitätseinsichten? Dann ist er u.U. nicht richtig untergebracht.
    Hiob (etwas ratlos)

  • Hallo Hiob.

    Ich habe mich soweit wieder beruhigt, und meine Grenzen wieder gefunden.

    Das mit den Medikamenten war lediglich so gemeint: eine Einweisung bedeutet oft neue Ärzte, neue Meinungen, neue Medikamente. Es gibt eine Kombination und Dosis, die bereits hervorragend funktioniert hat. Meine Bemerkung war also so gemeint, dass ich Sorge habe dass solche bewährten Lösungen nicht unbedingt mitbedacht werden, wenn ein Arzt vor Ort sich etwas anderes denkt oder ausprobieren will. Ich habe bezüglich eines "roten Fadens" in der Behandlung nicht mehr allzu grosses Vertrauen in die Psychiatrie, das geht ja vielen Angehörigen von Drehtürpatienten so. Was sehr schade ist, denn es war wirklich die erste Kombi und Dosierung die so gut gewirkt und eine gewisse Alltagstauglichkeit hergestellt hat.

    Habe für mich aber wieder abgeklärt, dass ich meine Kräfte schonen werde und ihn seinen Weg gehen lasse. Wenn er sich mal wieder in den Irrsinn abseilen will, muss er das wohl.

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