Die besoffene Gesellschaft
nenne ich mal meinen heutigen Beitrag. Fast sechzehn Jahre bin ich jetzt trocken und reise nüchtern durch mein Leben. Als ich am 1. Mai 1985 das erste Mal durch das Berliner Kreuzberg ging, war ich noch am Beginn meiner alkoholischen Karriere. Eineinhalb Jahre zuvor war ich nach Berlin gezogen, um mein Abi nachzumachen. Ich lebte in einer WG im bürgerlichen Steglitz und hatte große Ideen ohne jeden Plan. Ich war empfänglich für alles Neue. Inklusive Alkohol.
Es gibt viele Tage im Jahr, die alkoholbeladen sind... Himmelfahrt, Pfingsten, Tag der deutschen Einheit und und und... Aber nichts hat mich so erstaunt, wie das Massentrinken und die Auswirkungen, wie die zum 1. Mai.
Freunde riefen zum Umzug auf und schon Tage zuvor konnte ich erstaunt und fasziniert beobachten, wie sich viele verschiedene Gruppen darauf vorbereiten. Am Lausitzer PLatz sollte ein großes Familien-Fest sein, auf dem Mariannenplatz vor der Schokofabrik war Party angesagt und in der Oranienstraße ein großer Umzug. Es war im Grunde eine riesige bunte Sache, natürlich auch politisch. Der 1.Mai ist schließlich Tag der Arbeit. Mit einer Freundin erkundete ich die verschiedenen Orte des Festes.
Ab dem frühen Abend hörte ich das bislang nur ab und wahrgenommene Tatütata der Feuerwehr und Polizei als Dauermusik. Wir begriffen gar nicht, wo es "knallte", wie man so sagte. Oranienplatz? Adalbertstraße? Wo sind die Scheiss-Bullen jetzt? Und so weiter. Der Kneipenbetrieb ging weiter, man wollte ja dabei sein. Aber je dämmriger es wurde, desto blauer wurde es. Aus den Häusern flogen Wurfgeschosse... kleine Steine, Tassen und alles, was sehr weh tun könnte. Auch ein Gullideckel wurde mal von einem Dach auf die Polizei geworfen. Es war nicht zu unterscheiden, wer wen bekämpfte. Das Familienfest auf dem Lausitzer Platz war ein Schlachtfeld. Straßenlaternen, die mit Gas betrieben wurde, rissen Demonstranten raus, um die Gasleitungen in Brand zu setzen (was nicht gelang). Kleine Einkaufsläden wurden in großer Eintracht von linken Radikalen und jungen Türken geplündert, große Läden auch. Stolz berichtete das linke Lager, daß Kreuzberg nun "bullenfrei" sei. Wir machten uns aus dem Staub und ab diesem ersten Mai ging ich nie wieder zu einer dieser sogenannten revolutionären 1. Mai-Demo.
In den folgenden Jahren steigerten sich Gewalt und Hass. Schon Wochen vorher berichtete die eine oder andere Seite, was wohl passieren könnte und das meiste traf dann auch ein.
Bis heute wiederholt sich dieses doofe Spiel jedes Jahr mehr oder weniger schlimm. Die Demo-Teilnehmer sind schon die soundsovielte Generation. Was immer gleich blieb, war der enorme Alkoholkonsum. Schon am Tag vorher, in der Walpurgisnacht, werden Unmengen konsumiert. Natürlich nicht nur Alkohol, aber der hauptsächlich. Ich habe türkische Kleinunternehmer erlebt, die Tapeziertische aufbauten und darauf Bierdosen anboten. Ein Supermarkt wurde aufgebrochen und noch vor der Tür wurden die Dosen weiterverkauft. Der Absatz war riesig.
Mich hat die Gewalt schockiert. Von jeder Realität losgelöster Hass auf alles. Diese Gewaltorgie wäre ohne Alkohol gar nicht möglich gewesen, aber trotzdem geschieht jedes Jahr dort das Gleiche. Mittlerweile unterstelle ich vielen Teilnehmern Vorsatz. Man bewegt sich in einer Art rechtsfreiem Raum und kann sich Alk und Gewalt hingeben. Der Alkohol ist nachwievor der Enthemmer, mit dem sich dann im Laufe des Tages die Gewalt durchsetzt. Bis heute verstehe ich nicht, warum man Alkohol dann nicht verbietet. Ich bin sicher, tausende Familien und Kinder würden es danken, die normalen Anwohner auch.
Leider wird mein Wunsch ein Wunsch bleiben. Alkoholkonsum gilt immer noch als hip und Freiheit. Heute sind viele Städte von alkoholgeschwängerten Touris betroffen, die die ganze Nacht lärmend und saufend Plätze und Brücken und andere Orte beschlagnahmen. Neulich war ein Bericht über Bamberg im Fernsehen, daß zur Zeit besonders davon heimgesucht wird. Und so wird auch heute, am 1. Mai wieder überall sehr viel Alkohol öffentlich getrunken - halt: es gibt einen Unterschied zu damals, wenn ich auf den Anfang zurückblicke:
HEUTE trinkt man öffentlich und trägt seinen Alkohol mit sich herum. Das gab es damals noch nicht mal zu Demonstrationen.
Ist es heute also besser, als damals? Was ist anders? Alkohol in der Öffentlichkeit konsumieren ist heute Mode.
Peter