Die Erkenntnis, der Wendepunkt und die Erwartung
Wohl jeder alkoholsüchtige Mensch kennt den Wunsch, nicht mehr trinken zu müssen.
Dieser Wunsch unterliegt emotionalen Schwankungen, ist mal mehr, mal weniger ausgeprägt und von den äußeren Umständen abhängig, unter denen der Alkoholiker seiner Sucht nachgeht.
Mündet der Wunsch in die Erkenntnis, das Leben mit dem Alkohol nicht mehr weiter führen zu können und dem Entschluss, einen alkoholfreien Weg zu gehen, ist der Tiefpunkt erreicht. Dieser Tiefpunkt kann zum Wendepunkt werden und zum Start in ein abstinentes Leben.
Aber wie?
Die Vorstellungen darüber sind recht unterschiedlich und reichen von einer völligen Abkehr von allem, was das Leben bisher ausgemacht hat
bis hin zur Hoffnung, alles so weit als möglich zu belassen und eben nur nicht mehr zu trinken.
Bei vielen wirkt der Gedanke daran, nie mehr Alkohol trinken zu dürfen, wie eine unüberwindbare Hürde.
Auch besteht bei manchen der stille Wunsch, irgendwann wie ein gesunder Mensch wieder Alkohol trinken zu können.
Wem es gelingt, seiner Trockenheit oberste Priorität im Leben zu geben und den daraus folgenden Weg akribisch geht, hat die Chance auf ein zufriedenes Leben, in dem der Alkohol nicht vermisst wird.
Letztlich liegt es an einem selbst.
Nur nichts trinken reicht nicht !
Arztbesuch und Entgiftung
Alkoholismus ist eine Krankheit (Klassifikation nach ICD 10: F 10, F 10.0 bis 10.8). Der Start in ein trockenes Leben sollte mit einem Arztbesuch beginnen, bei dem man offen, ehrlich und ohne Verharmlosung sein Problem benennt.
Es geht hierbei also nicht nur um eine reine körperliche Untersuchung und um Laborwerte.
Es gilt auch, konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Suchtkrankheit zu besprechen und einzuleiten.
Thema beim Arztbesuch sollte auch eine klinische Entgiftung sein, sofern ambulante Maßnahmen nicht ausreichen.
Viele Betroffene sind sich der Gefahren nicht bewusst, die das plötzliche Absetzen von Alkohol mit sich bringen kann. Eine Entgiftung sollte darum immer medizinisch betreut sein!
Mehr darüber könnt ihr im Artikel "Kalter Entzug" lesen.
Therapie und Selbsthilfe
Den ersten Schritten von Arztbesuch und Entgiftung müssen unweigerlich Maßnahmen folgen, die einem neue Verhaltensstrukturen und Denkmuster vermitteln. Damit fängt die eigentliche Arbeit für ein Leben ohne Alkohol, die Trockenheitsarbeit an.
Es gilt, die alten vom Alkohol im Lebensmittelpunkt bestimmten Denk- und Verhaltensmuster zu überwinden und durch neue zu ersetzen. Dafür bieten sich verschiedene Möglichkeiten.
Manche wählen im Anschluss an die Entgiftung den Weg der Entwöhnungstherapie.
Dort lernt man, alte alkoholbelastete Verhaltensweisen zu erkennen und abzulegen, neues Selbstvertrauen zu entwickeln und überhaupt sich in der Welt ohne Rausch zu orientieren.
Therapien gibt es in verschiedenen Formen; stationär, teilstationär bzw. ganztägig ambulant sowie als ambulante Therapie. Diese sind grundsätzlich gleichwertig und auch nicht hierarchisch zu verstehen.
Welche Therapieform in Frage kommt, hängt von der Person und der Art seines Trinkverhaltens ab.
Manche kommen überhaupt nicht mit einer Therapie zurecht.
Das Erlernte muss intensiviert und verstetigt werden, weil vor allem in der ersten Zeit der Rückfall in die alten gewohnten "nassen" Verhaltensmuster droht.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist es ratsam, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen,
zum Beispiel dieser Online-SHG.
Der Erfahrungsaustausch in einer Selbsthilfegruppe trägt enorm zur Festigung der Abstinenz bei.
Man ist gewissermaßen unter seinesgleichen und kann insbesondere von länger Trockenen viel für den neuen Lebensalltag erfahren. Es besteht in der SHG die Möglichkeit, von seinen eigenen Erfahrungen zu berichten und so zur Entwicklung aller beizutragen.
In vielen Fällen entwickelt sich durch die SHG ein neues soziales Umfeld, was dazu beitragen kann, neue Verhaltensweisen weiter zu festigen.
Offenheit und Ehrlichkeit
Der Arztbesuch ist gleichzeitig der Startschuss zu einem weiteren wichtigen Element der Trockenheit: Dem offenen und ehrlichen Umgang mit seiner Suchterkrankung. Es geht darum, für die Zukunft in seinem Wirkfeld die Krankheit nicht zu verheimlichen oder zu verharmlosen.
Dies dient zuallererst dem Selbstschutz, dem Schutz davor, von anderen aus Unkenntnis in eine Trinksituation gebracht zu werden.
Es dient aber auch der Stärkung des eigenen trockenen Selbstverständnisses,
seine Krankheit als gegeben anzuerkennen ohne sich deshalb minderwertig zu fühlen.
Es dient auch dazu, kategorisch zu illustrieren, dass man kein zurück in die Trinkzeit wünscht.
Leider ist es nicht ungewöhnlich, dass im nahen persönlichen Umfeld die Krankheit verharmlost und man mit seiner neuen Einstellung nicht ernst genommen wird.
Das kann verschiedene Gründe haben.
So führt bei manchen die Kenntnisnahme von der Sucht eines ihm bekannten Menschen oft dazu, das eigene Trinkverhalten zu überdenken. Für andere ist der Gedanke an einer Alkoholkrankheit allgemein oder speziell auf die betroffene Person bezogen unvorstellbar. Der Aussteiger wird als Ruhestörer oder Sonderling wahrgenommen.
Andere bringen Alkoholismus zwangsläufig mit Elendsbildern in Zusammenhang, mit völliger Haltlosigkeit, Obdachlosigkeit und absolutem Elend. Dies entspricht jedoch nur in wenigen Fällen der Wahrheit.
Nicht selten ist es vor allem dem familiären Umfeld peinlich, einen Suchtkranken in der Mitte zu haben.
Es geht bei Offenheit und Ehrlichkeit nicht darum, bei jeder sich bietenden Gelegenheit anderen seine Alkoholkrankheit zu präsentieren. Es zählt die innere Einstellung zu seiner Sucht, offen und ehrlich den neuen Weg zu gehen, ohne von anderen eingeschränkt zu werden.
Alkoholfreies Umfeld
Als wichtiger Grundbaustein für eine solide und zufriedene Trockenheit zählt das alkoholfreie Umfeld.
Das bedeutet zum einen ein alkoholfreies Zuhause, das heißt einen Wohnsitz, in dem sich kein Alkohol befindet, auch nicht gelegentlich oder für Gäste oder zu besonderen Anlässen.
Das alkoholfreie Umfeld bezieht sich des Weiteren auf die Menschen, mit denen man sein Leben teilt.
Letztlich gehört zu einem alkoholfreien Umfeld, jene Orte zu meiden, an denen man früher Alkohol getrunken hat und diese gedanklich mit dem Konsum von Alkohol verbindet.
Man kann nicht abstinent leben, wenn der Alkohol Bestandteil seines Lebens bleibt, auch ohne dass man ihn trinkt.
Soziales Umfeld, Kollegen und Familie
Die Unterstützung der angestrebten Abstinenz durch das soziale Umfeld ist ein wichtiger stabilisierender Faktor. Ignoranz oder gar Ablehnung aus diesem Umfeld hat die gegenteilige, eine destabilisierende und gefährdende Wirkung.
Daher ist es äußerst wichtig, sich nur in einem Umfeld bewegen, in dem der Vorsatz für ein trockenes Leben geschätzt oder zumindest nicht abgewertet wird.
Das ist nicht selten sehr schwierig.
Die Wahl der Freunde, die einem bei der angestrebten Abstinenz nicht im Wege sind, stehen einem frei. Jedoch ist das im Falle der Verwandtschaft oder des Kollegenkreises nicht gegeben.
So spielt Alkohol in manchen Familien eine zentrale Rolle oder steht sogar im Mittelpunkt, nicht nur bei familiären Zusammenkünften. Die Familie wirkt so als Quelle der Sucht - und als Garant eines Rückfalls, wenn der frisch Trockene sich solch einer Atmosphäre nicht konsequent entzieht.
Dieses gehört zu den schwersten Schritten der Trockenheit.
Im trinkenden Kollegenkreis sieht es nicht anders aus. Das gemeinsame Bier in der Kneipe nach Arbeitsende, das Gläschen Sekt im Büro sind Sachen, bei denen der frisch Abstinente nicht mehr mitmachen kann. Hier gilt es Akzeptanz und Respekt für die Entscheidung zu erlangen, sich an solchen Umtrünken nicht mehr zu beteiligen.
Freizeitgestaltung
War der Konsum von Alkohol ein wesentlicher Bestandteil des Freizeitverhaltens, kommt es nach der Entscheidung zu einem trockenen Leben oft vor, dass der frisch Abstinente mit seiner neu gewonnen Zeit nichts anzufangen weiß.
Hier gilt es, offen für neues zu sein oder einem schon lange gehegten Interesse endlich nachzukommen.
Aber auch alte Hobbies müssen nicht zwangsläufig aufgegeben werden.
Es gilt genau zu prüfen, bei welchen der alten Freizeitaktivitäten der Alkohol im Vordergrund stand bzw. wo der Alkohol keine Rolle spielte.
Grundsätzlich gilt: So ziemlich jedes neue Hobby ist erlaubt, außer es ist mit Alkohol verbunden.
Trockenheitsarbeit ist eine Lebensaufgabe
Die Suchtkrankheit bleibt ein Leben lang. Sie ist unheilbar. Das dafür verantwortliche Suchtgedächtnis kann nicht gelöscht werden. Daraus folgt, dass die Arbeit an der Bewahrung der Abstinenz auch nie aufhören kann, will man nicht riskieren, wieder in alte Verhaltensmuster abzugleiten, sei es aus Leichtsinn, aus einer schlechten Stimmung heraus oder durch die in dieser Gesellschaft omnipräsenten Varianten sozialer Verführung, wo der Konsum von Alkohol als cool, als zu Ansehen verhelfend oder gar als Selbstverständlichkeit betrachtet wird.
Egal, wie das trinkende Umfeld auf einen einwirkt, die Verantwortung für die eigene Abstinenz wird keinem abgenommen.
Was zum Anfang wie eine gewaltige Anstrengung wirkt, die man sich kaum zu bewältigen zutraut, fällt mit fortdauernder Abstinenz immer weniger schwer. Vieles von dem, was man erlernt geht in Fleisch und Blut über; es werden Erfahrungen gesammelt, bestimmte Aufgaben im Leben trocken zu bestehen; die ursprüngliche Herkulesaufgabe entwickelt sich zur selbstverständlichen Routine.
Daraus folgt nicht, dass man in Suchtfragen irgendwann weniger wachsam sein darf.
Routine kann auch zur Nachlässigkeit führen.
Lebenslange Trockenheitsarbeit lohnt sich. Das Ergebnis ist ein zufriedenes und deutlich gesünderes Leben.