Eigene Bedürfnisse erkennen und leben

  • Hallo ihr Lieben,

    in den letzten Wochen ist mir das Thema "Bedürfnisse" sehr oft begegnet, so dass ich diesen neuen Thread eröffne, um eure Meinung dazu zu lesen und zu diskutieren.

    In vielen Gesprächen und auch in Selbstreflektion fiel mir auf, dass sich viele EKAs schon seit der Kindheit anspassen und darüber eigene Bedürfnisse vergessen, unterdrücken oder nach außen nicht vertreten.

    Im Laufe der Zeit werden dann diese fremden Anforderungen/Bedürfnisse als eigene Bedürfnisse ins Leben aufgenommen und notgedrungen akzeptiert.

    Aber irgendwann später ist das einfach nicht mehr stimmig. Man merkt, dass was nicht passt, kann es aber nicht greifen.

    Ich habe mich schon sehr früh in meinem Leben "verbogen". Als "Kranke" oder fleissiges und liebes Kind konnte ich die Aufmerksamkeit meiner Mutter und den Lehrern gewinnen, die mir dann die so verzweifelt benötigte Zuneigung schenkten - wenn ich funktionierte. Das zog sich in mein Berufsleben hinein. Wann immer ich fleissig war, viel gearbeitet habe und lieb, nett und hilfsbereit war, hatte ich Unterstützung von den Menschen. Wenn ich nicht funktionierte, dann fühlte ich mich alleine, krank und im Stich gelassen.

    Für mein neues Leben habe ich eigentlich den Wunsch, mit Menschen zusammenzuarbeiten, diese zu unterrichten, Ihnen weiterzuhelfen. Das liebe ich und finde ich spannend.

    Dieses Thema hatte ich mit meiner Psychologin besprochen und sie hat mir dann eröffnet, ob ich merken würde, dass dieser Wunsch, mit Menschen zu arbeiten, mit dem Bedürfnis nach Zuwendung und Zugehörigkeit zu tun hätte und es im Grunde egal sei, was ich arbeite, solange eine gute Abeitsatmosphäre besteht.

    Das Gespräch hat mich sehr unsicher gemacht und mir kurzzeitig schon den Boden unter den Füssen weggezogen.

    Jetzt frage ich mich, wie ich erkennen soll, was meine Bedürfnisse, auch im Hinblick auf meine berufliche Zukunft, sind und was dabei nur der EKA-Kindheit entspringt?? Was sind eure Erfahrungen dabei? Wie habt ihr herausgefunden, was eure Bedürfnisse sind. Wie habt ihr sie vertreten und in euer Leben integriert?

    Mir fällt es auch schwer, meinem Freund gegenüber meine Bedürfnisse zu vertreten. Das fängt damit an, dass ich Kreislaufstörungen entwickle, damit ich ein Argument habe, eine Kaffeepause zu machen, nur weil er es nicht wollte. Das möchte ich ändern.

    Ich bin gespannt auf eure Beiträge!

    Liebe Grüße,

    Sonnenstrahl

    Jeder kleine Schritt führt näher zum Leben.

  • Liebe Sonnenstrahl,

    ein seeeehr zentrales Thema!
    Mir fällt es auch immer noch nach einiger Übung oft nicht auf, dass ein anderes Verhalten mir vielleicht besser getan hätte. Aber kein Wunder. Nach mehr als 30 Jahren Übung in der Anpassung an etwas, das nicht vorhersehbar war und an jemanden, von dem man komplett abhängig war und der sich jeden Moment im Zorn über einen entladen oder einfach verschwinden konnte.

    Also - heute mach ich es so, dass die jetzige Sicht auf mich zählt. Ich weiss, was ich brauche, mag und möchte - zur Strukturierung erstmal diese Kategorien. Dann versuche ich, im Gleichgewicht zwischen Kopf, Herz und Bauch das zu tun, was mir mit genügend Abwägungszeit das richtige erscheint.
    Je wichtiger die Frage, desto mehr Zeit nehme ich mir.

    Mit dieser Methode rückten meine Bedürfnisse und Wünsche in meiner Prioritätenliste immer ein Stück weiter nach oben.
    Und dadurch wird die Selbstliebe und der Gewinn aus den täglich getroffenen Entscheidungen immer größer.

    Bei meiner beruflichen Entwicklung hatte ich auch viele Ratschläge, habe mich aber letztendlich immer für meinen persönlichen Weg entschieden. Denn die wirkliche Unterstützung zeigt sich dabei, dass jemand es verkraftet, wenn man sich anders als sein Ratschlag entscheidet.
    Deshalb bin ich auch superallergisch auf diese Psychologentips, die einen versuchen, in eine bestimmte Richtung zu bringen! Hallo! Es ist DEIN Leben und das Achten auf Bedürfnisse und Wünsche lernt man eben nur dadurch, dass man sich NICHT BEVORMUNDEN lässt (und es gibt nunmal genug psychologisch tätige Personen, die ihr Geld dadurch verdienen, dass sie die zu beratenden Person durch lenken und von sich abhängig machen. Traurig, aber ist so.)

    Solange man seine eigenen Entscheidungen nicht fällt, wird man nie mit den selbst gemachten Konsequenzen umzugehen haben und lernen auf eigenen, kräftigen Beinen zu stehen - das ist meine Ansicht. Sicher, es gibt Zeiten, da fühlt man sich innerlich zu schwach. Aber stärker bin ich nie durch das Befolgen von wohl gemeinten, aber für mich eben nicht stimmigen Empfehlungen geworden, sondern höchstens durch das eigenen Entscheiden. Oder eben durch das Besprechen meiner Fragen mit Leuten, die mir alle Freiheit lassen, meinen Weg zu gehen, meine Ansicht darzulegen und meine Gründe zu nennen, warum ich mich so oder so entscheide und mich dann immer noch unterstützen. Weil sie wie ich denken, dass es MEIN Weg ist und er nicht der Entscheidung anderer unterliegt!! Dann stellen sich schon die ersehnten Erfolgserlebnisse ein!

    LG,
    Lavandula

  • Hallo Sonnenstrahl,

    ein interessantes Thema, über das ich auch gerade viel nachdenke.

    Ja, wir EKAs haben uns ständig verbogen, so dass wir das Gefühl für uns verloren haben. Dennoch erkennen wir ja Bedürfnisse in uns (z.B. Deine Kaffeepause), und ich finde es wichtig zu lernen, dass wir diese offen und ehrlich aussprechen. Ich weiß, wir haben Angst, deswegen abgelehnt zu werden, weil der andere unser Bedürfnis nicht anerkennen will oder ablehnt, aber hier müssen wir wohl lernen, dass es egal ist, was der andere denkt. Wenn ich ´ne Pause brauche, mache ich eine. Punkt.

    Die Antwort Deiner Psychologin fand ich beim ersten Lesen sehr hart und übertrieben... beim zweiten Lesen ging mir durch den Kopf, dass sie vielleicht genau diesen Nachdenk-Prozess in Dir auslösen wollte, den Du jetzt begonnen hast? Ich glaube nicht, dass alle Menschen in Helferberufen etc. ein Helfersyndrom haben oder aus dysfunktionalen Familien kommen wie wir... vielleicht sind wir überdurchschnittlich vertreten, aber deswegen können wir solche Berufe dennoch gut ausführen und dabei selbst uns heilen. Meine ich..
    Denn gerade wir verfügen über sehr viel Einfühlungsvermögen, was in solchen Berufen von großem Nutzen sein kann.

    Wir müssen lernen, ein Gespür für unsere Bedürfnisse zu entwickeln und es auch nach außen zu vertreten. Vielleicht muss es mit kleinen Dingen des Alltags geschehen, jeden Tag wieder, dabei ehrlich zu uns selber bleiben...

    Mache mir weiter Gedanken dazu und schreib sicher wieder.
    Ich hoffe, Du kannst damit was anfangen?!

    Alles Liebe... Pedi

  • Hallo Sonnenstrahl!

    Ich frage mich jetzt gerade, was aus psychologischer Sicht daran schlimm sein soll, wenn ein Bedürfnis, das man hat, "nur" der EKA-Kindheit entspringt. Es ist doch trotzdem ein eigenes Bedürfnis. Wichtig ist doch eigentlich nur, daß ein solches Bedürfnis auch erfüllbar ist und man dadurch nicht anderen Menschen Aufgaben zuteilt, die diese dann überfordern. So kann man z.B. von einem Partner nicht verlangen, daß er auch gleichzeitig Ersatz für den liebevollen Vater ist, den man als Kind nie hatte. Und wenn es um Zuwendung von anderen Menschen geht, dann sollte man sich darüber klar sein, daß die Zuwendung, die man bekommt, vielleicht nicht ausreicht, um das alte "kindliche" Bedürfnis vollends zu befriedigen. Deswegen muss man aber meiner Meinung nach nicht unbedingt das ganze Bedürfnis gleich über Bord werfen. Eine realistische Sicht auf das, was man bekommen kann (und was nicht), reicht doch eigentlich aus, damit ein solches "kindliches" Bedürfnis nicht zum Problem wird.

    Psychotherapeuten können, wenn sie wollen (und der entsprechenden "Glaubensrichtung" angehören), so ziemlich jedes Bedürfnis auf eine schwierige Kindheit zurückführen. Wenn sie das dann auch noch einigermassen unsensibel tun, dann kann beim Patienten schnell der Eindruck entstehen, daß solche Bedürfnisse nicht "richtig" sind. Irgendwann steht man dann mit völlig leeren Händen und total zerfleddert da und weiß gar nicht mehr, was nun gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Man fühlt sich dann nur noch völlig "demontiert". Ich habe das selbst in einer "Therapie" vor einiger Zeit erlebt und fand das ziemlich kontraproduktiv (gelinde ausgedrückt). Entsprechend hoch ist heute auch meine Hemmschwelle, mich nochmal an solche "Fachleute" zu wenden, obwohl ich es eigentlich gerne tun würde.

    An Deiner Stelle würde ich die Psychologin auf jeden Fall nochmal auf dieses Gespräch ansprechen und vor allem auch schildern, wie unsicher Du Dich danach gefühlt hast. Richte Dich um Gottes Willen bloß nicht nach dem, was die Psychologin scheinbar von Dir erwarten könnte. Damit wärst Du wieder im alten Muster, nur daß die Psychologin dann die Funktion der Eltern übernommen hätte. Und nicht alle "Psychos" sind sensibel genug, das früh genug zu bemerken, das weiß ich aus eigener, sehr schmerzlicher Erfahrung.

    In Bezug auf meine Bedürfnisse und deren Umsetzung gestatte ich mir heute eine Freiheit, die ich mir früher nie erlaubt hätte: Ich probiere einfach mal was aus... Fühlt es sich gut an, dann mache ich weiter, fühlt es sich schlecht an, dann höre ich auf. Niemand kann von mir erwarten, daß ich immer auf Anhieb alles "richtig" mache und "richtig" einschätzen kann, auch nicht ich selbst. Fehler und Fettnäpfchen gehören zum Leben dazu und die früheren Versuche, sie zu vermeiden, haben nur dazu geführt, daß ich mein Leben mit angezogener Handbremse gelebt habe. Das mag ich heute nicht mehr... Es gibt nur noch eins, worauf ich wirklich sehr achte: Darauf, daß ich nichts mehr tue, nur weil andere es von mir erwarten oder weil ich mir von anderen eine bestimmte Reaktion erhoffe.

    Fehler machen, in Fettnäpfchen treten, anderen Menschen mal auf die Füße treten... Das sind alles Dinge, von denen die Welt nicht untergeht. Leider haben wir das als EKAs nicht gelernt, denn bei einem "Fehler" war in der Suchtfamilie ganz schnell die Hölle los und die eigene Rolle wechselte schnell von der "Heldin" zum "Sündenbock". So haben wir gelernt alles, was wir wollen, vorher akribisch auf das "Gefahrenpotential" hin zu analysieren. In der Welt ausserhalb der Suchtfamilie ist das aber nicht mehr nötig und wird sogar zum Hemmschuh beim Erkennen der wirklich eigenen Bedürfnisse. Meiner Meinung nach kann man die wirklich eigenen Bedürfnisse nicht vorher im Kopf durch Analysieren und Nachdenken erkennen. Deswegen denke ich mir heute: Einfach machen und schauen, wie sich das anfühlt.

    Liebe Grüße

    cailin

  • Liebe Sonnenstrahl,

    das mit deiner Psychologin finde ich auch heikel. Hat sie es denn eher als Frage gemeint oder als Feststellung. Vielleicht ja gar eine Projektion von ihr, war zumindest mein erster Gedanke. Ich bin bei Psychologen aber auch (EKA-typisch?) extrem misstrauisch.

    Die eigenen Bedürfnisse erkennen und umsetzen oder mitteilen, fällt mir auch oft schwer. Wenn es mit anderen Menschen zu tun, finde ich es am schwierigsten.

    Geht es um Abgrenzen, fällt es mir leichter das mitzuteilen. Nein sagen finde ich um sovieles leichter als "ich möchte gern, hast du lust zu diesem und jenem, ich fänds schön, wenn..."

    Ich denke ich manipuliere den andern, wenn ich einen Wunsch äußere. Das tu ich auch oder? Aber der andere ist frei zu entscheiden, ob er mir diesen Wunsch erfüllt oder nicht. Sollte es jedenfalls sein. Es hängt sicher auch damit zusammen, inwieweit man das im umgekehrten Fall selber entscheiden kann. (das steht nun im Widerspruch zu dem was ich eben über Abgrenzen schrieb. Werd ich überdenken.)

    Womit ich gerade kämpfe, sind Bedürfnisse, die ich habe, mir aber nicht erlaube. Z.B. habe ich festgestellt, dass ich ein viel größeres Sicherheitsbedürfnis habe in einer Beziehung, als ich mir das jemals zu gestehen wollte.

    Ne, ich merke schon beim Schreiben, dass ich da auf dem Schlauch stehe. Welche Bedürfnisse darf ich in einer Beziehung haben?

    Ich zitiere mal Cailin

    Zitat

    Eine realistische Sicht auf das, was man bekommen kann (und was nicht), reicht doch eigentlich aus, damit ein solches "kindliches" Bedürfnis nicht zum Problem wird.

    Das genau finde ich schwierig - zumindest im Moment, meine Verfassung ist nicht so gut. Was ist denn realistisch? Mache ich mich nicht noch mehr verrückt, wenn ich ein Bedürfnis erkenne und dann muss ich erst einen Realitätscheck machen?

    Cailin schreibt auch, einfach machen und schauen wie sich das anfühlt. Halte ich auch für das beste. Üben.

    Liebe Grüße
    Sina

  • Zitat von Sonnenstrahl

    Wie habt ihr herausgefunden, was eure Bedürfnisse sind.

    Das interessiert mich auch.
    Besonders beim Thema Nähe und Distanz bin ich sehr unsicher.


    Zitat von cailin

    Ich probiere einfach mal was aus... Fühlt es sich gut an, dann mache ich weiter, fühlt es sich schlecht an, dann höre ich auf.

    Das hört sich super an, Cailin. Hast Du ein konkretes Beispiel für mich?

    Smilla

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