Langzeittherapie oder nicht ?

  • „Ich kann nicht auf eine Langzeittherapie gehen, weil…“

    Diesen Satz (mit wechselnden Begründungen) höre ich regelmäßig, wenn ich mit Betroffenen gegen Ende eines stationären Entzuges spreche. Ich habe mir angewöhnt, diesen Satz –in diesem Moment- so stehen zu lassen.
    So manchen Alkoholkranken habe ich dann später in meiner SHG wieder getroffen, ihn oder sie eine Weile auf dem Weg der Trockenheit begleitet. Und dann noch mal auf das Thema LZT angesprochen. Und siehe da, bis auf einen haben mir bislang alle gesagt, dass ihnen die LZT gut getan hat. Und dass die anfängliche Ablehnung hauptsächlich auf zwei Faktoren beruhte: einmal die Unwissenheit und die Angst davor, „was da passiert“. Und, viel häufiger, dieses Fünkchen Hoffnung, trotz besserem Wissen, „doch noch kein Alkoholiker zu sein“, sprich, sich selbst nicht eingestehen wollen, Hilfe zu benötigen.
    Auch hier im Forum lese ich sehr oft, dass jemand diese Therapieform generell ablehnt.
    Um nun dem geneigten Leser eine kleine Hilfestellung bei der Entscheidung geben zu können, habe ich mich dazu entschlossen, meine Erfahrung mit dieser Therapieform zu berichten.

    Ich möchte vorausschicken, dass ich zu dem Zeitpunkt (im Jahr 2002) meinen persönlichen Tiefpunkt hatte und mich dazu entschloss, mein Leben grundsätzlich zu ändern, ohne Rücksicht auf Verluste (Arbeitsplatz, Haus, Familie etc.).
    Während der Entgiftung im Kreiskrankenhaus stellte ich bereits Antrag auf LZT, der von der BfA dann innerhalb von vier Wochen positiv beschieden wurde, vorab mit 12 Wochen. Die Zeit zwischen Entgiftung und LZT verbrachte ich (mehr schlecht als recht, aber trocken) mit Arbeit.
    Die Angst, die Ungewissheit, was mich dort erwarten würde, begleitete mich auf meiner Zugfahrt in den Raum Bonn, nach Sieg. Viel schwerer aber wog die Angst um meine Familie, die ich relativ ratlos zu Hause zurückgelassen hatte. Meine Frau wusste jetzt zwar, dass ich alkoholkrank bin und trocken leben möchte und dazu diese LZT antrete, konnte das aber für sich weder einordnen, noch die Folgen abschätzen. Dazu später mehr.
    So, da stand ich nun am Bahnhof, mit meinem Köfferchen, und wurde vom Klinikbus erwartet – ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, so schämte ich mich, denn auf dem Bus war groß der Klinikname nebst „-inhalt“ zu lesen…jeder würde sehen können, da fährt ein Alkoholiker zu seinem Therapieplatz…
    Ich war halt einfach noch nicht so weit, dass ich zu meiner Erkrankung stand.
    Der Empfang in der Klinik war ruhig, sachlich und freundlich. Trotz meinem Unbehagen fühlte ich mich aber nicht abgestoßen. Die Erste Woche verbrachte ich mit einem Leidensgenossen im Doppelzimmer, um uns die Eingewöhnungsphase zu erleichtern. Rudi war zwei Tage vor mir gekommen.
    Nach der obligatorischen Untersuchung (medizinisch, von mir) durfte ich „auf Stube“ zur obligatorischen Untersuchung (Gepäck, meines) und wurde mit der Hausordnung vertraut gemacht. Direkt im Anschluss stellte sich mein Mentor Gerhard vor, ein Mitpatient, der mich in den nächsten Wochen begleiten würde um den Alltag im Haus kennen zu lernen.
    Ich war am Abend einigermaßen verwirrt, aber nicht negativ berührt. Sorge bereitete mir die Ausgangs- und Kontaktsperre von vier Wochen, die über jeden Neuzugang obligatorisch verhängt wurde. Was dachte meine Frau, wie ging’s zu Hause?
    Die erste Woche verging wie im Flug, geprägt von einem strengen Zeitplan, der fortan mein Leben in der Klinik beherrschte: täglich Aufstehen um ca. 06:00 Uhr, Kneippgüsse und Schwimmen vor dem Frühstück Pflicht, 08:00 Frühstück, danach Zimmer aufräumen, ab 09:00 Uhr medizinische Untersuchungen / Behandlungen / Anwendungen / diverse Therapiemodelle bis zum Mittagessen um 12:00 Uhr.
    Anschließend Ruhezeit bis 14:00 Uhr auf dem Zimmer. Danach wieder Blöcke mit Therapiemodellen (die erläutere ich noch) bis zum Abendessen um 18:00 Uhr.
    Danach freiwillige Aktivitäten (Sport etc.) bis zur Bettruhe um 22:00 Uhr. Sonntags verschob sich der Vormittag um eine Stunde, da durften wir ausschlafen. Auch fielen die meisten der Aktivitäten aus, es war Zeit für mich selbst.
    Dann kam der Umzug in mein Einzelzimmer in „meiner“ Wohngruppe, mit der ich nun den Rest meines Aufenthaltes gemeinsam bestritt. Auch die Gruppentherapiegespräche waren der Wohngruppe zugeordnet, alle Gruppenmitglieder hatten ihre Zimmer in einem „gruppeneigenen“ Flügel des Gebäudes. Und teilten sich die Gemeinschaftsaufgaben, wie Gebäudereinigung etc. innerhalb der Gruppe.
    Ab hier wurde auch für mich der Therapieplan differenzierter, die medizinischen Untersuchungen wurden dafür weniger. Es gab einen neuen Stundenplan für mich, der meine Einzelgespräche mit Therapeuten regelte, die Gruppentherapiegespräche ordnete, Bewegungstherapie und Sporttherapie war Bestandteil meines Tagesablaufes, die Arbeitstherapie und auch die „Freizeittherapie“ hatte ihren festen Platz, hier war ich auf eigenen Wunsch in der Holzwerkstatt. Ich, der Kaufmann mit zwei linken Händen und 10 Daumen dran!
    Am Ende der zweiten Woche begann ich mich –nicht zuletzt Dank Gerhard, meinem Mentor- ruhiger zu fühlen und manchmal (ja, manchmal) sogar „heimisch“. Nur die Sorge um meine Familie kam immer wieder mal hoch, wenn auch nicht mehr so drängend wie zu Anfang.
    Die nächsten Wochen verliefen relativ gleichförmig, ich gewöhnte mich an den Rhythmus der Klinik. Die Abende waren geprägt von Gesprächen untereinander, über die eigene Sucht, das nasse Leben, die Zukunftspläne der einzelnen. Und über die Gespräche in der Gruppentherapie, bei der ja einzelne Lebensläufe exemplarisch beleuchtet wurden, um Strategien für die Zukunft zu entwickeln, und auch um eigene Denkweisen überprüfen zu können. Mit dabei waren aber auch ganz praktische Dinge, wie z.B. Kochen ohne Alkohol, Beobachtung der eigenen Körpersprache etc.
    Wobei ich sagen muss, dass ich diese Gespräche immer als „Außenstehender“ verfolgt habe, weil „mich betrafen die Dinge ja nicht“, das waren ja „andere“ Schicksale, und nicht meines…dachte ich…lange Zeit, fast 6 Wochen.
    Und in diesen 6 Wochen trat die Sorge um meine Familie immer mehr in den Hintergrund. Einmal, weil meine Kontaktsperre ja nach vier Wochen aufgehoben war, ich konnte abends telefonieren. Und weil meine Frau und ich uns auch über den guten, alten Brief regelmäßig austauschten. Es waren lange Briefe, die ich heute noch wie einen Schatz verwahre!
    Zum zweiten hatte ich ja keine Ausgangssperre mehr, durfte also auch in der Freizeit alleine in den Ort gehen, Besorgungen erledigen, in die Eisdiele gehen etc.
    Und in der siebten Woche kam der große Knall. Ohne Vorwarnung. Gerhard, mein treuer Mentor, hatte seine Therapiezeit von 16 Wochen absolviert und war am Dienstag mit vielen guten Wünschen verabschiedet worden. Wir hatten uns viel ausgetauscht in der gemeinsamen Zeit, er war mir ein guter Freund geworden, mehr als das, er war mein Vorbild geworden. Gerhard hatte sogar das Rauchen aufgegeben. Klar, dass wir in Kontakt bleiben wollten. Dass dies bereits am Donnerstag sein würde, hatte ich jedoch nicht geahnt.
    Am Donnerstag ging ich abends in die Eisdiele, und wer saß stockbesoffen am Tresen? Gerhard, der es nicht mal bis zum Bahnhof geschafft hatte und seit zwei Tagen saufend im Ort „umherirrte“.
    Meine schöne Heile Welt war von einer Sekunde zur anderen zusammengebrochen, ich zweifelte an mir und meinem künftigen Durchhaltevermögen, am Sinn der Therapie im Allgemeinen.
    Die folgende Woche war schrecklich für mich, ich hatte viele schlechte Gedanken, wollte sogar die Therapie abbrechen. Meine Euphorie der letzten Wochen war weg, ich sah alles nur noch schwarz, im dunkelsten Schwarz.
    Zum Glück sprach ich sowohl in den Einzeltherapiestunden, als auch in der Gruppentherapie darüber, Und dort wurde das auch kontrovers diskutiert, und siehe da: ich war mit meinen Ängsten nicht alleine, im Gegenteil. Auch seit längerem in der Gruppe schwelende Konflikte kamen im Zuge dessen offen zu Tage, es war „allgemeiner Aufruhr“ in der Gruppe. Und es war heilsam!
    Ja, heilsam. Die Therapeuten hatten die Situation gut im Griff (auch wenn ich das erst später realisiert habe), und brachten uns –alle !- „auf den rechten Weg“. Ja, und was soll ich sagen, ich begann, mich mit mir zu beschäftigen, die Gruppentherapie war plötzlich „mein“ Thema, ich sah das nicht mehr „von außen“, sondern es war „Meins“. Und ab da ging’s Schlag auf Schlag, ich kam meinen eigentlichen Problemen auf die Spur (über die berichte ich gerne separat, aber nicht in diesem Thread), auf meinen Wunsch wurde die Therapie um vier Wochen verlängert.
    Ich konnte die Themen in den Gesprächsrunden für mich interpretieren, auf meine Situation hin überprüfen und eigene Strategien entwickeln, um mein Leben neu zu gestalten. Nicht bewusst, dass ich (wie aus einem Lehrbuch) einzelne Schritte hätte definieren können, aber ich wusste um die Bereiche, in denen ich Defizite hatte, und, viel wichtiger, ich konnte im geschützten Raum beginnen, diese Defizite in klare Ziele umzuformulieren (mache ich auch heute noch so) und diese Ziele nach und nach umzusetzen.
    In dieser Zeit veränderte sich auch mein Verhalten meiner Familie gegenüber, die Kommunikation war nicht mehr ausschließlich auf das Tagesgeschehen oder den Alkohol fixiert, sondern auf unsere individuellen Wünsche und Ziele, die viel zu lange einfach „totgesoffen“ worden waren – von meiner Seite aus. Und auch meine Frau begriff, dass sie Co-Abhängige war, mit allen Facetten, die das Lehrbuch so zu bieten hat (auch das füllt zu gegebener Zeit einen eigenen Thread, aber von ihr).
    Und was soll ich sagen? Sie hat ihre Chance ebenfalls ergriffen, hat sich fachliche Hilfe gesucht (und gefunden), und sich mit den für sie relevanten Themen auseinandergesetzt.

    Ja, und dann kam die Woche des Abschieds von meiner Therapieeinrichtung. Es überfiel mich nochmals eine (damals) unerklärliche Angst. Angst davor, wie es außerhalb des geschlossenen Raums weitergehen würde, Angst, rückfällig zu werden wie Gerhard. Angst, mir eine SHG zu suchen. Angst, wie ich mit dem Trockensein im beruflichen Alltag umgehen kann. Aber es war keine „planlose“ Angst mehr, sondern ein bewusstes, verhaltenes Herantasten an die jeweiligen Situationen.

    Den Rest kürze ich jetzt bewusst ab: ich lebe seither trocken, nach wie vor mit meiner geliebten Frau und unserem Sohn, der seither endlich auch einen Vater hat, nicht ein sich-zu-tode-saufendes Wrack. Ich habe meine alte Arbeitsstelle nach einem Jahr des Suchens aufgegeben und mich neuen Aufgaben zugewandt, die mich befriedigen. Ich besuche jede Woche meine SHG (ich bin beim Kreuzbund), nehme an Informationsveranstaltungen in den Entgiftungsstationen der örtlichen Bezirkskrankenhäuser zum Thema SHG teil. Ach ja, und ich, der Kaufmann mit zwei linken Händen und den zehn Daumen dran, ich bin inzwischen leidenschaftlicher „Holzwurm“ geworden. Ein neues Hobby, das mir die Therapie geschenkt hat. Für ein neues Leben, das ich jeden Tag auf’s neue genieße – aber immer mit dem nötigen Respekt vor den Tücken meiner Krankheit. Und mit einer Portion Geduld, die ich früher nie hatte – nicht mir gegenüber, und nicht anderen gegenüber.

    In diesem Sinne, ich kann von meiner LZT nur positives berichten und wünsche jedem, der Situation vor sich hat, dass er/sie sich später von seiner Therapieform auch so zufrieden zeigen kann.

    Mehr von mir gibt’s demnächst,

    LG
    Spedi

  • Spedi,

    Dein Bericht hat mir ganz viele Impulse gegeben und mich in dem Mut bestärkt, Hilfe anzunehmen. Danke!

    LG, Meni

  • Hallo Spedi,

    hab grad Deinen Bericht gelesen. Ich hoffe, dass ich auch das Glück haben werden, eine so erfolgreiche LZT zu absolvieren (bei mir gehts in den nächsten Tagen los).

    Liebe Grüße und vielen Dank

    pauly

    Es ist nicht leicht, das Glück in sich selbst zu finden,
    doch es ist unmöglich, es anderswo zu finden.

    Agnes Repplier

    Abstinent seit Oktober 2006

  • Hi Spedi,

    ein sehr hilfreicher und informativer Bericht. Ich habe ihn gestern entdeckt. Am 25. Januar geht es bei mir los und Deine Ausführungen haben mich noch einmal zusätzlich animiert, die Therapie als seltene Chance voll und ganz anzunehmen, den Dingen wirklich gnadenlos auf den Grund zu gehen und sich selbst dadurch nachhaltige Veränderungen im eigenen Leben zu ermöglichen. Ich freue mich darauf.

    Ebenso schön ist es, zu lesen, dass es Dir und Deiner Familie jetzt so gut geht. Ich wünsche Euch weiterhin alle(s) Liebe!

    "Wer Schmetterlinge lachen hört,
    der weiß, wie Wolken schmecken..."
    (Novalis)

  • hallo,

    ich kanns ja nicht aus eigener erfahrung sagen, aber in meiner kreuzbundgruppe haben die meisten eine LZT gemacht, und zwei kommentare sind mir bis jetzt davon im ohr geblieben: der eine sagte, das sei die wichtigste zeit in seinem leben gewesen. und eine frau sagte, ihre LZT wäre ihr schönster "urlaub" gewesen - endlich einmal nur zeit für sich selbst. keiner, aber auch keiner hat seine LZT therapie bereut - im gegenteil.

    lavendel

  • Hallo Spedi!

    Kannst mir mal sagen, wenn du wieder online bist, warum ich mir diesen Bericht durchlesen sollte.

    Ich kriege den Zusammenhang nicht so wirklich hin.

    Ich bin bei Kaputilation, Dankbarkeit und Demut.

    Ich mach in zwei Wochen ne Tagesreha-Suchttherapie keine LZT.

    Was möchtest du mir also damit sagen?????? Ist hier für mich irgendwas drin, was ich jetzt nicht sehe?

    lg panther

    Kompromisse bedeuten ein Rückfall riskieren
    (vor dem trink - Rückfall geht ein Verhaltensrückfall vorraus)
    nicht Trinkende seid 04.03.07

  • Hallo Schorse (Georg)!

    Ich hatte hier ausversehen geschrieben. Es ist aus dem Zusammenhang. Da ich über PN mit Spedi geschrieben habe. Und eigentlich auch über PN antworten wollte.

    Ansonsten sehe ich das wie du, daß es egal ist ob ambulante Therapie, LZT oder Tagesreha. So wie es jeder für sich brauch. Nur erlich sollte man zu sich sein, und nicht denken, daß es wegen Kinderbetreuung, Job oder so jetzt nicht geht. Es geht immer. Alles läßt sich organisieren. Immerhin solls mir ja das Leben retten.

    Schön das du hier her gefunden hast. Freu mich schon von dir zu lesen.

    Eine Frage hab ich aber an dich noch. In deiner Vorstellung hast du geschrieben, daß du die letzten Jahre keine SHG besucht hast. Wie konntest du in dieser Zeit reflektiere? Man sagt doch immer egal ob hier oder in der Suchtberatungsstelle oder nach einer LZT, daß man eine Selbsthilfegruppe aufsuchen sollte. Auch für ein länger trockenen ist es doch wichtig sich mit seiener Krankheit auseinander zu setzen und im Bewußtsein zu erhalten und sich mit anderen Alkoholikern aus zu tauschen oder? Außerdem finde ich es schade, wenn jemand wie du nicht zu einer SHG geht. Wir Neuen sind auf die länger Trockenen angewiesen zur Orientierung.

    Vielleicht schreibst das ja in deinem Thread deine Gedanken dazu oder eröffnest ein neuen. Hier geht es ja um LZT.

    lg panther.

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    nicht Trinkende seid 04.03.07

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