Beiträge von Lust for Life

    Grüßt euch,

    Nachdem ich es die letzten Tage immer wieder aufgeschoben habe, nutze ich nun mal den Moment um wieder hier zu schreiben. Das der Zugang zum geschlossenen Bereich weg ist, damit hatte ich gerechnet (ich kenne ja die Regeln und habe den auch seltenst genutzt), aber einen kurzen Augenblick dachte ich mein Faden wäre verschwunden: Auf Seite vier gerutscht. Wer suchet, der findet :mrgreen:.

    Fangen wir mit dem positiven an (Tag 821 übrigens): Alles, was ich mir vorgenommen habe, hat bislang geklappt. Im Moment arbeite ich einem erfahrenen Musikproduzenten zu und bin federführend bei einer Gruppe von "jungen Wilden". Während letzteres eher etwas "Klamaukig" ist, geht es beim anderen um sensible Themen und persönliche Erfahrungen. Der Spagat gelingt bislang recht gut und ich bin aus-, aber nicht überlastet.

    Diese beiden Projekte finden jedoch bislang ausschließlich online statt, was ja kein Problem darstellt, mich jedoch zunehmend merken lässt, dass ich als Großstadtkind hier in der Provinz auf Dauer wirklich nicht glücklich werden kann. Hin und wieder braucht es einfach den Kontakt zu echten Menschen und auch eine solidere Einkommensquelle wäre auch nicht schlecht, wobei momentan die Behandlung einer handfesten Depression noch vorrang hat.

    Wenn ich schon bei dem Thema bin, es ist etwas schwierig zu beschreiben: Erstmal bin ich davon ausgegangen, dass sich mit genug Abstand zum Alkohol auch die Depression gibt. Kann ich in meinem Fall leider so nicht bestätigen: Manche Tage sind geprägt von einer bleischweren, erdrückenden Antriebslosigkeit und damit einhergehend einer tiefen Ablehnung jeglicher Form der sozialen Interaktion gegenüber. Ich nehme an, dass hier ein Traumata vorliegt und war wohl etwas naiv in der Annahme, dass ich die obdachlos verbrachten Jahre einfach so abschütteln könnte. In dieser Sache werde ich mich jedenfalls behandeln lassen, denn diese Phasen treten periodisch und regelmäßig genug auf um ein handfestes Problem darzustellen.

    So viel erstmal von meiner Seite aus: Ich lebe, mir geht es gut. Ich bin (körperlich) gesund und nach wie vor zufrieden trocken. Die Momente in denen sich wirklich starkes Verlangen nach Alkohol oder anderen Substanzen einstellt sind selten geworden und ich habe mit ihnen umzugehen gelernt. Dennoch empfinde ich dieses dritte Jahr in mancherlei Hinsicht als schwieriger als die von Euphorie geprägte Anfangszeit. Dazu jedoch ein andernmal mehr,

    Gruß,

    LfL

    Das kann man wohl so sagen Linde und da ist einiges immer noch in Bewegung: Ich bin einfach grundsätzlich aktiver geworden, will mein Leben wieder selbst gestalten anstatt mich nur in Umstände zu fügen. In gewisser Weise würde ich sagen: Ich lerne mich gerade selbst zum ersten Mal so richtig kennen mit allen Stärken und Schwächen und meisten gefällt mir ganz gut, was ich dabei sehe.

    Hiermit wäre also nun das zweite Jahr geschafft, aber das klingt so negativ: Erlebt trifft es wohl etwas besser und ehrlich gesagt, fühlt es sich gar nicht so besonders an. Ich bin nicht unzufrieden, überhaupt nicht, aber dieses Gefühl mir noch für jede Zeitspanne selbst auf die Schulter klopfen zu müssen, das ist schon länger verflogen. Was bleibt ist ein gewisser Stolz auf das Erreichte und die Zuversicht auch die nächsten Jahre Unfallfrei zu überstehen.

    Ich hab mich vor kurzem mit meiner Schwester unterhalten und ihr dabei gesagt, dass mich die Vorstellung keinen Alkohol mehr zu trinken überhaupt nicht stört. Was mich jedoch ab und an stört, ist wie viele Dinge einen triggern können. In Berlin wird beispielsweise eine bestimmte Biersorte, die einen sehr auffälligen Aufdruck auf dem Kronkorken hat, sehr häufig getrunken und da es Berlin ist, liegen diese Kronkorken natürlich überall verteilt. Bescheuert, aber da hängen noch Jugenderinnerungen dran aus Zeiten, in denen ich überhaupt nicht getrunken habe und das ausgerechnet ein eigentlich positives Gefühl von Nostalgie und Heimeligkeit mit diesem verfluchten Gesöff zusammenhängt, das ärgert mich manchmal. Ist aber irgendwie auch schon Meckern auf hohem Niveau.

    Ich möchte heute aber gar nicht meckern: Es gibt noch einiges zu erledigen auf der To-Do-Liste und gewissermaßen wollte ich nur den obligatorischen "Ein weiteres Jahr ist rumgegangen" Eintrag absetzen. Wenn alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, werde ich heute Nachmittag auch noch etwas Sonne abbekommen und das kann in diesem doch recht unterkühltem Sommer wirklich nicht schaden.

    Irgendwie ist mir heute nach Schreiben und um keinen falschen Eindruck zu vermitteln, spare ich mir heute mal die Tageszahl zu Beginn: Ich zähle die Tage nämlich schon länger nicht mehr, sondern habe das immer vorher per Zeitspannenrecher überprüft, weil das den Einträgen dann eine gewisse Konsistenz bot. Allerdings werde ich auch meine Strichliste, auf der ich lange Zeit die Tage eher markierte als zählte, demnächst abhängen und bei geliebten Erinnerungen einsortieren: Nämlich dann, wenn die zwei Jahre geschafft sind.

    Ich habe momentan Besuch/einen Mitbewohner. Ist so Kategorie: Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe, aber ich habe hier schon vor längerer Zeit einen jungen Mann kennen gelernt und mich mit ihm angefreundet. Nachdem er vor einem halben Jahr weggezogen ist, zieht er nun aus beruflichen Gründen wieder hier in die Gegend. Einen Monat muss er überbrücken, bis er seine neue Wohnung beziehen kann und ich habe, wenn auch zunächst etwas genervt, zugesagt, dass er die Zeit bei mir verbringen kann. Mittlerweile merke ich aber, dass es eigentlich ganz angenehm ist.

    Da ich es letztes Mal schon mit Niveau und Netzwerken hatte: Ich mag meinen Freundes- und Bekannenkreis breit gefächert, aber mit dem gewissen Extra. Ich mag Leute, die sich für persönliche Entwicklung interessieren, hin und wieder mal ein Buch in die Hand nehmen und neuem Gegenüber aufgeschlossen sind. Es müssen nicht zwangsläufig Akademiker sein, die sind mir manchmal sogar zu verkopft.

    In dem Rahmen ist mir nun jedenfalls etwas aufgfallen: Ich habe nämlich gestern mit einem alten Bekannten aus Berlin telefoniert, den ich hier ab und an mal erwähnte und dabei gemerkt, dass ich diesen Kontakt wohl zu recht einschlafen lasse. Zum einen hatte er getrunken, während mein neuer Bekanntenkreis tatsächlich nicht trinkt und zum anderen langweilt er mich langsam ganz entsetzlich. Er war wohl doch eher, wenn auch über viele, viele Jahre hinweg, mehr Saufkumpan als wirklicher Freund, aber da merkt man mal, wie man durch den Alkohol das Gefühl für Dinge wie wirkliche Freundschaft verlieren kann. Fragt jeden Alkoholiker jemals, an seinem Stammtisch, wie er zu den anderen dort steht: "Das sind alles meine Freunde!", ja, sicher, bis man dann mal nüchtern wird und feststellt, das Freundschaft doch ein paar mehr Gemeinsamkeiten braucht, als nur den geteilten Konsum.

    Nun, ansonsten kann ich nicht klagen: Mein Sportprogramm wirkt, meine Figur ändert sich langsam von einfach nur schlank hin zu durchaus sportlich, ich fühle mich allgemein wieder deutlich Selbstbewusster, ich trage wieder Schmuck und ich entdecke Charakterzüge an mir wieder, die ich schon lange vergessen glaubte: Eine gewisse zur Exzentrik neigende Extrovertiertheit beispielsweise. Die hatte der Alkohol sich genommen, ich war ein stiller Trinker, kein Kneipengänger.

    Damit soll es für heute auch gut sein, ich nehme mir an dieser Stelle zumindest mal vor, mein Tagebuch auch im geschlossenen Bereich demnächst mal wieder in Angriff zu nehmen, damit auch das seinen Nutzen hat und wünsche ansonsten allen eine angenehme Woche bei diesem wunderbaren Wetter :).

    Beispiele.


    Bewusste Risiken, mit der Begründung, ich bin mir sicher das dort nichts passiert. Oder, ich bin mir sicher, dass mein Weg der Richtige ist. Ich bin mir sicher, dass die Flaschen zu Hause mir nichts ausmachen, weil ich das früher auch nicht getrunken habe.


    In dieser Richtung meinte ich das.

    Ist jetzt leichte Wortklauberei, aber: Das klingt mir nicht nach Selbstsicherheit, sondern geht schon eher in Richtung Überheblichkeit. Mag ein schmaler Grat sein zwischen den Beiden, aber sie zu unterscheiden kann im Zweifel ja auch den Unterschied zwischen Rückfall und Abstinenz ausmachen.

    Selbstsicherheit im Umgang mit meiner Erkrankung bedeutet für mich, nach nun fast zwei trockenen Jahren folgendes: Ich weiß, dass ich mich aus für mich gefährlichen Situationen zurückziehen kann. Konkret hatte ich es in meinem Faden beschrieben: Mir wurde dieses Jahr schon Alkohol angeboten und ich kann dann Nein sagen und die Situation verlassen.

    Es wäre jetzt jedoch ein fataler Trugschluss daraus zu folgern, dass ich mich nun problemlos in jedwede brenzlige Situation mit vielen Triggern begeben könnte - oder sogar sollte! -, weil ich damit ja meine Entschlossenheit trainiere. Das wäre Überheblichkeit und würde zweifellos auf kurz oder lang zum Rückfall führen.

    Ich bin allgemein kein Fan davon in dieser Sache bewusst Risiken einzugehen. Unvermeidbaren Risiken zu trotzen ist, worauf ich meine Selbstsicherheit gründe. Darüber was nun "unvermeidbare Risiken" sein sollen, könnte man sicherlich stundenlang diskutieren.

    Mit diesen paar Sätzen hast du sicher vielen Leuten hier aus dem Herzen gesprochen, mir auch.

    Freut mich ungemein. Mir ist ziemlich schnell klar geworden, dass ich nur verlieren kann, wenn ich es nicht schaffe, im alkoholfreien Leben Vorteile zu erkennen. Was zu Anfang noch schwer fiel und mitunter auch konstruiert wirkte, weil ich mich selbst noch davon überzeugen musste, dass ein Leben ohne Alkohol wirklich lebenswert ist, ist mittlerweile Gewissheit geworden: Selbst wenn ich es irgendwie geschafft hätte "kontrolliert" zu trinken, ein Wunsch, den wohl einige haben, wenn sie langsam merken, dass ihnen die Sucht über den Kopf wächst, wäre mein Leben heute schlicht und ergreifend schlechter.

    Es gab, als sich bei mir die Erkenntnis mehrte, dass ich ein ordentliches Problem habe, einen sehr interessanten Moment: Ich sah mir diverse Tabellen an, auf denen versucht wurde, die Alkoholsucht nach Schweregrad zu beurteilen und da fand ich einen Punkt, den ich sonst nirgends wieder gefunden habe. Er lautete in etwa wie folgt: "Der Alkoholiker trinkt bisweilen mit Menschen weit unter seinem Niveau."

    Da hat es bei mir Klick gemacht und das wirkt immer noch nach. Es geht mir nicht darum, Menschen in gut und schlecht einzuteilen oder mich selbst überhöhen zu wollen. Es geht nur um folgendes: Mir ist durch die Jahre des Suffs mein eigenes Niveau völlig abhanden gekommen. Dieses jetzt wieder zu finden und einen Freundes- und Bekanntenkreis zu etablieren, der sich auch in selbigem bewegt, der eben schlicht "zu mir passt", das ist eine sehr reizvolle Aufgabe.

    Viel mehr als die Tage zählt ja aber auch bei dir, was du für dich in dieser Zeit erreicht hast. Und das ist eine ganze Menge. Du lebst wieder und du hast Lust auf mehr Leben.

    Das ist richtig, auch wenn ich mitunter in manchen Situationen noch etwas ängstlich, bzw. skeptisch bin. Die letzten zwei Jahre habe ich doch die meiste Zeit sehr isoliert gelebt. Ich finde das aber gut so: Lieber langsam und Schritt für Schritt, mit immer mal wieder innehalten und fragen: "Was macht das mit mir?", "Wie fühle ich mich dabei?" und "Möchte ich das gerade überhaupt wirklich?". Ich denke von dieser Art des reflektierten Umgangs mit dem eigenen selbst, kann man ungemein profitieren.

    Tag 701: So, langsam aber sicher nähere ich mich nun doch dem Ende des zweiten trocken gelebten Jahres und nachdem irgendwie "lange nichts besonderes" war, ist jetzt so die Zeit für "alles auf einmal". Wo fange ich an?

    Hartmut hat mich mal gefragt, ob ich, sollte ich mal den (religiösen) Glauben verlieren, wieder anfangen müsse zu saufen. Ich habe das damals verneint und verneine es heute aus einer anderen Perspektive nochmals: Der christliche Glaube ist für mich im Laufe der letzten Monate irgendwie eher zur Belastung geworden. Vermutlich liegt das daran, dass ich die Sache zu ernst genommen habe, aber an meiner grundsätzlichen Überzeugung, das ich Religion nur dann für zielführend halte, wenn man sie mit allen Konsquenzen auch ernst nimmt, kann ich schwerlich rütteln. Folglich fällt es mir leichter die Religion mehr oder weniger aufzugeben, als halbherzig an ihr festzuhalten.

    Ich bin dennoch unheimlich dankbar dafür, diese Erfahrung gemacht zu haben . Alleine was den Umgang mit meinen Schuldgefühlen angeht, hatte der christliche Ansatz doch etwas wundervolles: "Gott weiß von deinen Sünden, bereue sie aufrichtig und dir ist vergeben." Finde ich immer noch Klasse.

    Ansonsten merke ich, wie mein Gehirn nach Input giert, anders kann ich es kaum beschreiben. Ich war in letzter Zeit öfters mal in Berlin und das ist mitunter so, als würde eine im vertrocknen begriffenen Pflanze wieder Wasser bekommen: Ich kann man mich manchmal gar nicht satt sehen am Leben. Ich sehne mich nach guten Unterhaltungen, nach großartiger Architektur und raffinierter Inneneinrichtung. Kurz und etwas böse formuliert: Mir geht das Kaff in dem ich hier lebe, langsam aber sicher ziemlich auf den Senkel :mrgreen:.

    Als ich hier ankam, war ich dem Tod deutlich näher als dem Leben, das ist nicht überspitzt formuliert und das hier war ein guter Ort um wieder zu mir selbst zu finden und mich neu auszurichten, aber jetzt reicht es einfach. Heute habe ich in der nächstgrößeren Stadt Straßenmusik gemacht und ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir das gefehlt hat. Nicht des Geldes wegen, das sitzt den Leuten verständlicherweise ohnehin knapp genug, sondern weil es so viel Spaß macht und vor allem bei einer Sache hilft, die ich für den Rest dieses Jahres wohl in den Fokus meiner Aufmerksamkeit stellen muss: Beim "Netzwerken".

    Nachdem ich es in Frage gestellt und auch unter zuhilfenahme des Gedankens, das ich noch jung genug bin, um mich neu ausrichten zu können, wie ich meine nun von allen Seiten beleuchtet habe, bin ich doch zu dem Schluss gekommen, das mir eine Karriere Abseits der Musik nichts bieten würde, was mich anspricht. Da ich mittlerweile jedoch relativ frei von allzu romantischen Vorstellungen bin, ist mir auch klar, dass ich dafür ein grundsolides Netzwerk an Kontakten knüpfen muss. Wobei muss mir gar nicht so treffend erscheint, ich möchte und will. Dafür bin ich auch bereit für die nächsten Jahre auf vieles zu verzichten, die Freizeit auf ein Minimum zu reduzieren und einen eher bescheidenen Lifestyle zu pflegen.

    Das jedoch nur um, auch für mich selbst, noch einmal klar zu machen, wo ich momentan Gedanklich stehe und wie ich dort hingekommen bin.

    Selbstverständlich ist mir klar, dass das Musikgeschäft voll mit Alkohol und Drogen ist. Ich habe dieses Jahr auch schon, eher aus Zufall, für eine kleine Gruppe von Leuten gespielt, die "Vatertag" gefeiert haben und in dem Zusammenhang wurde mir bereits ungefragt die erste Bierflasche angeboten. Ein einfaches "Nein, Danke", hat jedoch ausgereicht und ich bin mir absolut sicher, dass ich dieses "Nein, Danke" noch sehr oft werde wiederholen müssen.

    Um nicht den Mut zu verlieren und auch weil ich es für realistisch halte, möchte ich jedoch folgenden Gedanken äußern: Im Grunde genommen, ist nicht trinken zu müssen ein sehr großer Vorteil für mich. Ich spare dadurch unheimlich viel Zeit, Nerven und kann damit unter Garantie auch bei Veranstaltern und Produzenten punkten. Abgesehen davon, dass wieder zu trinken für mich ohnehin keine Option ist, da ich es schlicht nicht überleben würde. Dafür kenne ich mein Konsumverhalten zu gut und ich weiß, dass sich das nicht wieder "normalisiert".

    Für heute soll das erst einmal reichen. Es gibt noch ein paar Dinge, die ich loswerden möchte, aber die hebe ich mir für einen anderen Tag auf. Nur eins noch: In Gedanken formuliere ich in manchen Situationen tatsächlich Tagebucheinträge, wie ich sie hier schreibe um dadurch einen etwas klareren Blick auf die Situation zu bekommen - und auch das hilft mitunter.

    Tag 660: Vor ungefähr anderthalb Monaten, also etwa Anfang April kam ich auf die Idee, dass es mal Zeit für einen richtigen Frühjahrsputz wird. Ich würde mich jetzt nicht unbedingt als unhygenisch bezeichnen, aber ich bin auch nie übermäßig ordentlich gewesen. Ich habe es, auch wenn das einigermaßen absurd klingen mag, schlicht und ergreifend nie gelernt.

    Einher mit diesem Frühjahrsputz, der sich über einige Tage hinzog und in dessen Verlauf ich wirklich fast alles einmal putzte, da selbst die Klinken meiner Türen und Fenster mitunter doch nicht mehr wirklich ansehnlich aussahen, ging der Beginn meines Sportprogramms. Sport konnte mich bislang nicht sonderlich begeistern, ich bin einer dieser Menschen, die keine Figurprobleme haben und tendenziell eher zu dünn sind, aber es ging mir um die Herausforderung und darum meinen Alltag mit einer weiteren sinnvollen Beschäftigung zu füllen.

    Um es kurz zu machen: Ich konnte mich bislang von 8 Liegestützen, die ich an manchen Tagen nur mit Ach und Krach am Stück schaffte, auf immerhin 20 pro Satz steigern und mittlerweile habe ich richtig Lust auf Sport, was ich Anfangs nicht für möglich gehalten hätte.

    Das ist die eine Art von Veränderung in mir, die mittlerweile zur Reife gelangt ist, möchte ich sagen: Das erste Jahr wollte ich einfach nur ohne Alkohol leben lernen und das hat geklappt. Jetzt möchte ich mich selbst optimieren und auch das klappt. Darüber hinaus ist mein Alltag wieder deutlich voller, aber dadurch teils auch stressbehafteter geworden, was grundsätzlich kein Problem ist, aber Kurzschlusshandlungen fördert.

    Um ein Beispiel zu geben: Vor kurzem kam ich von einer Reise aus Berlin zurück und auf dem letzten Zwischenstopp wollte ich mir noch etwas zu trinken holen. Ich hatte ziemlich schweres Gepäck dabei und war noch dazu alles, was man im Idealfall nicht sein sollte: Ich war hungrig und müde, dadurch irgendwie auch ärgerlich, also es hat wirklich nur noch lonely gefehlt um die "H.A.L.T." Regel komplett zu machen. In diesem Zustand wollte etwas in mir im Bahnhofskiosk dann nach einer Bierdose greifen. Habe ich selbstverständlich nicht gemacht, aber ich musste mich bewusst davon abhalten - und das fand ich dann doch etwas gruselig.

    Im Endeffekt ist es eine Erinnerung daran, dass ich gewisse Automatismen der Sucht nie ganz loswerden kann und das diese eben besonders dann greifen, bzw. ich dafür anfällig bin, wenn mein Allgemeinzustand es zulässt. Deshalb ist es so wichtig auf sich selbst Acht zu geben und ich finde es nicht negativ, daran wieder erinnert worden zu sein. Hätte ich tatsächlich ein Bier gekauft, wäre das etwas anderes, dann müsste ich jetzt hinterfragen, ob mir nicht irgendwo ein Grundsatzfehler unterlaufen ist.

    Zum Abschluss möchte noch sagen: Es gab im Verlauf dieser 660 Tage bislang viele Tage, an denen es mir so gut ging, dass ich mit dem Allgemeinzustand zufrieden war. Es gab jedoch auch einige Tage, an denen ich mit dem Allgemeinzustand überhaupt nicht zufrieden und teilweise auch fast verzweifelt war. Es gab jedoch keinen Tag, an dem ich mit meiner Alkoholabstinenz unzufrieden war. Ich stelle sie schlicht nicht zu Debatte und wenn mal etwas unangenehmes passiert, wie das oben beschrieben Szenario am Kiosk, dann versuche ich hinterher zu rationalisieren warum die Situation eingetreten ist und damit fahre ich ganz gut.

    Im Moment lese ich hier auch wieder verstärkt mit und ich kann allen Neuankömmlingen, die auch wirklich dabei bleiben möchten nur sagen: Gebt euer bestes, es lohnt sich. Auch wenn der Umgangston mal etwas direkter ist oder dem ein oder anderen die ein oder andere Regel nicht gefällt: Nichts davon ist gegen jemanden gerichtet und der einzige Sinn des Forums ist, dass ihr euch selbst helfen lernt. Niemandem sonst, und wenn das jeder verinnerlicht und hinbekommt, dann ist am Ende trotzdem allen geholfen :).

    Nur war es ja bei mir nicht so schlimm wie bei einem ‚richtigen‘ Alkoholiker…..dachte ich. Ich funktionierte (meistens), zumindest nach außen, hatte Arbeit, keine Schulden, stand nicht mit ner Schnapsflasche hinter‘m Bahnhof…

    Da ich jetzt schon öfters mal diesen Vergleich gelesen habe, möchte ich mal etwas anmerken: Was hier beschrieben wird, ist der klassische Obdachlose, der steht meist wirklich mit der Schnapsflasche am Bahnhof und der kann - muss aber nicht zwangsläufig - Alkoholiker sein. Ich habe auch schon welche kennen gelernt, die trotz akuter Wohnungslosigkeit alles getan haben um halbwegs manierlich auszusehen und wenig bis keinen Alkohol getrunken haben. Es ist folglich ein Klischee.

    Wenn man diese Begriffe allerdings so vermengt, dann ist es kein Wunder, wenn man sich nicht als Alkoholiker bezeichnen möchte, denn das ist ja - überspitzt formuliert - den Bahnhofspenner vorbehalten.

    Die Bezeichnung Alkoholiker wird für Alkoholkranke Menschen verwendet, für Süchtige. Ich empfinde es als so wenig abwertend, wie ich die Bezeichnung Drogensüchtiger für einen solchen als abwertend empfinde. Da bräuchte es dann schon das Wort "Junkie", dessen abwertende Intention außer Frage steht, da es eine Ableitung von "Junk" also Müll ist.

    Kann es folglich sein, dass bei manchen ein Problem mit dem Begriff Alkoholiker entsteht, weil die Trennschärfe fehlt, eine gewöhnliche Krankheitsbezeichnung unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation zu sehen? Das ist zumindest der Eindruck, der bei mir des öfteren entsteht und eine nicht unproblematische herangehensweise, den sie verstellt den Blick auf die tatsächliche Faktenlage. Man kann auch als auf Lebenszeit abgesicherter Multimillionär Alkoholiker sein, alles schon gesehen und die landen Erfahrungsgemäß selten bis nie an den Bahnhöfen der Nation.

    Hallo Allerseits,

    Nachdem ich nun wirklich mal länger nichts mehr geschrieben habe und ich auch im geschlossenen Bereich nicht besonders aktiv bin, dachte ich mir: Wäre doch nett mal kurz zu erzählen, wie es mir so geht. Eins noch vorweg: Auch wenn ich nicht schreibe schaue ich dennoch fast täglich hier rein und es ist mir oft eine große Freude die vertrauten Namen zu lesen und einfach zu wissen, dass ich hier gewissermaßen dazugehöre.

    Es ist ein etwas alberner Witz, denn ich am Beginn meiner Abstinenz öfter gemacht habe, dass wir trockenen Alkoholiker ja gewissermaßen Teil eines unheimlich exklusiven Clubs sind. Dabei hatte ich vor allem die hohen Rückfallqoten im Sinn und da ich ein recht kompetetiv veranlagter Mensch bin, sehe ich uns Trockenen gewissermaßen auf der Gewinnerseite. Anders gesagt: Wir sind die wenigen Prozentpunkte die den Absprung schaffen und daraus entsteht die Exklusivität, denn teilnehmen kann ja jeder mit einem Alkoholproblem, machen nur leider die wenigsten..

    Das mal beiseite, ich stelle gerade fest: Es ist schon Tag 601! Wie die Zeit vergeht. Damit habe ich zwar noch keine zwei Jahre geschafft, aber ich bin auf einem guten Weg dahin und das freut mich ungemein.

    Leicht war es ganz gewiss nicht immer. Gerade im Winter hatte ich einige Tiefs und es gab auch einen Tag, an dem war ich kurz davor hier mal die Notfunktion zu benutzen, weil ich mich unendlich einsam und traurig gefühlt habe. Das Forum ist jedoch gewissermaßen mein letzte Nothilfe, wenn die anderen nicht mehr greifen, die ich mir nun aufgebaut habe und die griffen dann doch. Dabei geht es um einen recht überschauberen Kreis von Menschen, die ich auch im echten Leben kenne, die von meinem Problem wissen und in solchen Situationen für mich da sind. Die haben aber natürlich auch nicht immer Zeit, ging dann aber doch und bereits eine kurze Unterhaltung sorgte dafür, dass ich mich wieder besser fühlte und die Situation Unfallfrei überstand.

    Das soll es für das Erste dann aber auch mal wieder gewesen sein. Ich habe vor in absehbarer Zeit einmal meinen Faden hier in Ruhe zu studieren, denn ich weiß tatsächlich nicht mehr so besonders viel von dem, was ich geschrieben habe. Gerade die Anfangszeit ist mir kaum noch im Gedächtnis und das möchte ich mal nachholen. Dabei fällt mir nämlich auf, wie viel sich eigentlich getan hat. Auf menschlicher Ebene meine ich und entwicklungstechnisch gesehen. Man stagniert ja unheimlich während der Sauferei, wenn es nicht sogar einfach nur noch abwärts geht und jetzt mal das Gegenteil davon zu erleben, das macht tatsächlich Spaß.

    Naja, wie gesagt, ich bin eigentlich ohnehin nie weit weg, auch wenn ich nicht schreibe und das hier ist in erster Linie als Feedback für diejenigen gemeint, die von Beginn an meinen Weg verfolgt haben und sich vielleicht ab und an mal fragen, wie es mir so geht: Gut :) .

    Ich denke da selten drüber nach, aber wenn ich jetzt doch mal tue: Ich wollte mich nicht mit meinen Problemen befassen. Ich hatte eigentlich so ab dem 20. Lebenjahr immer sehr unschöne Lebensumstände: Meine erste eigene Wohnung hatte richtig miese Nachbarn (Ex-Berufskriminelle Alkoholiker) und danach war ich eigentlich immer Wohnungslos, wenn auch äußerst selten Obdachlos.

    Ich habe dann halt bei Freunden gewohnt, Straßenmusik gemacht, Konzerte gebucht und Songs aufgenommen, aber ich bin nie so richtig zu Rande gekommen, nie wirklich zufrieden gewesen und das habe ich dann immer vornehmlich mit Alkohol weggeschoben, anstatt mich um meine Probleme zu kümmern. Das ging auch erstaunlich lange "gut", aber halt nie so richtig und auch nur, bis es dann halt irgendwann gar nicht mehr ging, weil ich süchtig geworden war.

    Deshalb habe ich auch keine Probleme damit, mich mit Alkohol "belohnen" zu wollen, weil das bei mir nie ein Thema war. Ich habe Alkohol immer zum verdrängen getrunken, wenn ich traurig oder niedergeschlagen war und da man von genug Alkohol irgendwann dauerhaft traurig und niedergeschlagen ist, geht der Teufelskreis halt los.

    Heute hilft mir diese Erkenntnis, denn heute kommen bei mir zuerst die Probleme, das Leben und dann mit einigem Abstand erst die Kunst. Die kann einem zwar bei der Problembewältung helfen, aber nur emotional: Der Song mag noch so gut sein, der wird für mich nicht zum Zahnarzt gehen, das muss ich schon selbst tun. Inwiefern da noch die Sucht innerhalb meiner Familie reinspielt wäre wieder eine andere Frage, aber so ungefähr lief es bei mir ab.

    Hallo Achelias,

    Suchtdruck wie noch zu Beginn verspüre ich kaum noch, ich würde fast schon überhaupt nicht sagen. Andererseits spüre ich gerade wenn ich mich wirklich traurig fühle wie sich Gedanken einschleichen möchten, dass doch alles wieder in Ordnung wäre, wenn ich saufen würde. Zuletzt im Kontext mit meiner Mutter hin und wieder mal gehabt.

    Erklären tue ich mir das gar nicht. Ich nehm's, wie es kommt. Ich theoretisiere zwar gerne mal herum, aber im Moment fehlt mir dafür schlicht die Zeit/der Nerv und jetzt bin ich auch im geschlossenen Bereich angekommen, wo es enorm viel zu lesen gibt, nur der Tag wird davon leider auch nicht länger :),

    Grüße, LfL

    Nee, ich glaube Achilias hat 450 Tage umgerechnet in ein Jahr plus ein Vierteljahr, was ziemlich genau hinkommt und ansonsten: Das war mir schon klar, nur war ich etwas verwundert, weil ich nun wirklich nicht all zu lange für die Antwort gebraucht habe. Ich arbeite ja auch am Rechner und da stehe ich hier sicher meistens auf online, nur das heißt nicht, dass ich auch immer sofort antworten kann :).

    Grüß Dich Linde,

    Dankeschön für die Gratulation. Hilberts Hotel, ja, da war was mit unendlich vielen Zimmern und Platzproblemen, es bleibt leider meist ziemlich wenig hängen bei mir, aber tatsächlich: Ich habe den Herrn Spannagel gerade gesucht und ich habe sein Video zu Hilberts Hotel sogar schon einmal gesehen :). Meist habe ich bislang Weitz / HAW Hamburg geschaut und vorrangig habe ich mich auf Primzahlen fokussiert, weil da steige ich zumindest noch ansatzweise durch. Solche Denksportaufgaben halten in jedem Fall das Gehirn fit und das ist immer begrüßenswert.

    Tag 450: Auf diesen Tag habe ich gewartet, einfach weil ich die Zahl mag. Ich habe tatsächlich einen kleinen Spleen für Mathematik auch wenn ich ziemlich unbegabt bin. Mir gefällt einfach, das Zahlen im Grunde genommen ja "unsere Erfindung" sind, anders als zum Beispiel in der Physik, wo in erster Linie versucht wird Prozesse zu verstehen, die eben ohnehin schon da sind, haben wir Menschen uns Zahlen ja "ausgedacht". Es gibt im englischen den schönen Spruch "that escalated quickly" und das fasst Mathe für mich ganz gut zusammen, weil selbst so scheinbar harmlose Fragen wie, was ist eigentlich 10 geteilt durch 3 endlos weit führen können. Schlussendlich nimmt man dann die Behelfslösung von 3,33 Periode, weil es sich damit eben arbeiten lässt, aber es ist eben nur ein Behelf und ich habe ohnehin keine Ahnung: Ich schaue nur hin und wieder gern Mathevideos :mrgreen: .

    Ansonsten, tja, egal was kommt: Jeder Tag ist ein Geschenk, das kann ich nicht anders sagen. Ich hatte befürchtet, dass mir Cannabis mehr fehlen würde, aber es ist tatsächlich nicht weiter wild. Kiffen macht faul, dumm im Kopf und ist teuer, das wars. Was Alkohol angeht, mache ich mir keine Illusionen: Ich möchte nicht trinken und kontrolliert schon gar nicht. Ich wüsste nicht, was ich mit einem Bier anfangen sollte und Zehn davon brauche ich noch weniger. Es ist schon alles gut, so wie es ist, ohne Alkohol, ohne Cannabis mit klarem Kopf und deutlich mehr Energie, als ich das bislang gewohnt war.

    mal hin und wieder besoffen, ist doch o.k

    Wenn es halt nur das besoffen sein wäre, abgesehen davon, das ich hin und wieder noch nie gut konnte, oder wollte: Flaschen besorgen, Flaschen entsorgen, Kater aushalten, wieder fit werden, dann ewig und dreit Tage dran denken "Wann kann ich trinken, wann nicht und wieviel?!". Wird auf kurz oder lang fast ein Vollzeitjob, weil man ständig mit irgendwas beschäftigt ist, das im Kontext Alkohol steht, während die Lebensqualität flöten geht. Da erübrigt sich die Frage, ob es "das wert ist" eigentlich vollständig.

    Sei froh, daß du noch relativ früh wach geworden bist

    Bin ich, jeden Tag auf's Neue. Ich finde die Vorstellung ziemlich erschreckend, wie lange das bei vielen braucht und dann bin ich wieder richtig froh, die Sache relativ früh endgültig geklärt zu haben. Also, ich versinke nicht im Selbstmitleid, keine Sorge, es ist nur, wenn ich überhaupt mal drüber nachdenke, das einzige um das es mir leid tut. Aber von leid tun wird halt auch nichts besser, insofern: Alles gut :).

    darf ich fragen wie?

    Wenn du damit leben kannst, dass meine Antwort nicht mehr als: Ich bekomme ihn finanziert lautet, dann ja :). Nicht von meiner Familie übrigens, gibt auch andere Wege und mehr möchte ich dazu nicht sagen.

    Ich habe meinen Schein übrigens nie verloren, Kunststück, denn das wird mein Erster. Ich weiß allerdings ein bisschen, wie man Auto fährt (auf Privatgelände geübt) und Trecker kann ich sogar recht ordentlich fahren. Sollte allso nicht all zu schwer werden, ob ich mir danach allerdings einen PKW werde leisten können, ist wieder eine andere Frage.

    Grüß Dich Seb,

    Kann mich Elly nur anschließen: Essen, Trinken und eventuell mal Spaziere gehen/Ablenken. Letzteres natürlich ohne Geld dabei um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Die Art von Suchtdruck, die du beschreibst, hatte wohl jeder schon mal und das kann einen sehr ungünstig erwischen. Ich hatte das hin und wieder mal in Kombination mit Zahnschmerzen und weißt du was? Geht auch vorbei. Teils habe ich einfach Literweise Wasser getrunken, also wirklich deutlich mehr, als ich das sonst tun würde. Das hilft, beruhigt und irgendwann geht der Druck wieder vorbei, alles gute :).