Hallo Claudia,
ob du diesen Brief nun abschickst oder nicht, ist natürlich deine Sache. Bei mir war es ähnlich (und es ist ja auch logisch), dass ich gerade ganz am Anfang des nüchtern seins eine ganz andere Wahrnehmung in Bezug auf alkoholtrinkende Menschen bekommen habe. Eigentlich konnte ich es kaum fassen, wie viele Menschen um mich herum meiner Meinung nach zu viel tranken, gar genauso Alkoholiker sind wie ich.
Gerade zu Beginn, wenn dann so langsam die Augen aufgehen, finde ich es jedoch am wichtigsten sich um sich selbst zu kümmern. Es gibt so viel neues zu lernen und zu beachten, zu verstehen und zu ändern, dass ich heute froh bin, dass ich andere Leute nicht vor den Kopf gestoßen habe. Besser finde ich es da, wenn man anderen helfen will zunächst mal sich selbst zu zeigen. Ich bin Alkoholiker, ich bin jede Nacht stinkend wie eine Brauerei ins Bett gefallen, ich war jeden Tag verkatert, mir war mehr und mehr alles egal, ich bin jeden Abend an die Flasche gerannt, ich habe meine freien Tage mit Bier und Zigarette angefangen, ich hatte keine anderen Interessen mehr. Ich bin der Alkoholiker. Wenn sich jemand dann darin wiederfindet und auf sich selbst schließt, lässt er sich vielleicht helfen - oder eben nicht. Hätte mich jemand, als ich noch getrunken habe, Alkoholiker genannt, hätte ich ihn ausgelacht - ich trink doch nur Bier, meistens.
Es dreht sich um den persönlichen Tiefpunkt. Für mich ist das der Punkt, an dem ich aufhöre es besser zu wissen. Für mich ist das der Punkt in meinem Leben, wo ich wieder anfange zu lernen und zwar aus dem Grunde, weil ich mir selbst eingestehe, dass ich nicht weiß, wie ich ohne Alkohol leben kann. Aus dem einfachen Grunde, weil ich es bewusst noch nie getan habe. Noch nie habe ich vorher bewusst gesagt ich will keinen Alkohol mehr trinken, also als klare, richtungsweisende Entscheidung.
Je nach der Dickköpfigkeit des Menschen, je nach "ich weiß es ohnehin schon alles"-Einstellung, je nach Lernwilligkeit bzw. -unwilligkeit, geht der Tiefpunkt psychisch, physisch und sozial tiefer und tiefer. Es gibt Menschen die wirklich erst alles verlieren müssen, bevor sie bereit dazu sind wieder zu lernen. Bedingungslos lernen, weil man ja mit dem Wissen "wie kann ich ohne Alkohol mein Leben leben, wenn ich doch weiß, dass Alkohol diese ganz spezielle Wirkung auf mich hat" nicht auf die Welt gekommen ist und es nicht einfach so vom Himmel fällt.
Es gibt keinen allgemeingültigen Tiefpunkt. Meinen persönlichen Tiefpunkt hatte ich durch das Forum. Ich hatte noch Auto, Wohnung, Job und ein Konto bei der Bank, als ich merkte Alkoholiker zu sein. Gemerkt habe ichs damals durch die Auseinandersetzung mit dem Thema, vor allem durch das lesen hier im Forum und es hat mich zutiefst schockiert, mich und meine Trinkgewohnheiten hier wiederzufinden. Wenn man ein Problem erkennt ist das ja schonmal gut, damit hat man aber nicht automatisch die Lösung. Das Problem ist, wenn man merkt Alkoholiker zu sein, ist man mit einer Vergangenheit, Lebensumständen, Erfahrungen, Wissen, Meinungen, Verhaltensweisen, Fühlweisen und noch einigem mehr ausgestattet - und all diese Dinge haben insgesamt dazu geführt, dass ich Alkoholiker wurde. Wenn ich jetzt versuche mit dem Wissen, den Erfahrungen und den Meinungen die ich schon habe das ändern zu können, dann wird das nicht funktionieren - denn genau die haben mich ja dahin gebracht. Bewusstgeworden ist mir das erst später, wichtig war vor allem, dass ich wieder angefange habe zuzuhören und zu lernen.
Der persönliche Tiefpunkt ist also keineswegs an die Parkbank-Gosse gebunden. Naja, vielleicht doch. Irgendwo hier steht der Satz "Ich lag nicht in der Gosse, aber die Gosse lag in mir" - da steckt viel Wahres drin, wie ich finde.
Viele Grüße,
Timster