Vergessen alkoholkrank zu sein?

  • Zitat von Mieken

    Mieken hat Folgendes geschrieben:
    Hallo Lennnaaa,
    du hast also vergessen, daß du alkoholkrank bist?
    So ganz verstehe ich das nicht, deswegen frage ich noch mal nach.
    Mieken

    Zitat von RonaldB

    Du hast mich zwar nicht gefragt, aber aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich dir sagen, dass man sehr wohl *vergessen* kann, abhängig (gewesen) zu sein. Mir ist es nach 18 Jahren passiert, so ganz einfach, ja, ganz einfach so. Man glaubt es zwar selber nicht, es ist aber so. Es muss nur etwas Außergewöhnliches geschehen, was das war, das weiß man erst hinterher, wenn man die Sache wieder aufgearbeitet hat. Schön wäre es, wenn man so ganz einfach trocken bleiben würde, da gibt es keine Sicherheiten, die es einem garantieren würden. Einem Rückfall vorbeugen kann man, verhindern aber nicht. Nach jetzt wieder 4 Jahren Trockenheit bin ich noch nicht mal traurig darüber, dass es mich noch mal erwischte. So dumm es sich auch anhören mag, der Rückfall brachte mir ein schönes Leben zurück. Was jetzt nicht heißen soll, ein Rückfall wäre erstrebenswert, nur damit das keiner falsch versteht.

    Ich bin seit ca. 9 Monaten trocken und stehe ja relativ am Anfang meiner Trockenheit.
    Ich versuche mich schrittweise mich vom Alkohol zu entfernen.

    Wenn ich dann lese, daß ich vergessen könnte alkoholkrank zu sein, bekomme ich erstmal einen kräftigen Schrecken und mir drängen sich die Fragen auf:

    Wie kann ich das denn vergessen?
    An welchem wichtigen Punkt hat das gehakt?
    Oder ignoriere ich es und möchte einfach nicht mehr anders sein?

    Meine eigene spontane Antwort (so bin ich nun mal) lautet, dann werde ich wohl die Nüchternheit nicht mehr an erster Stelle gesetzt haben.

    Kann ich das so einfach sagen, oder was greift ineinander, um zu vergessen, daß ich niemals mehr Alkohol trinken darf?

    Ich möchte betonen, daß es nicht meine Absicht ist, hier irgendwen auf die Füße zu treten, sondern mich interessiert das aufrichtig, im Zuge meiner eigenen Trockenheitsarbeit.

    LG
    Mieken

  • Da ich ja derjenige welche war, der dir diesen Anstoss gab, will ich mal versuchen es in kurze Worte zu fassen, wie es passieren konnte. Nach 18 Jahren passierte etwas (was, möchte ich jetzt hier nicht widergeben), das mein Leben in eine andere Richtung warf. Der Rückfall ereignete sich nicht spontan, nicht so *was passiert und sofort zur Flasche gegriffen*. Das dauerte eine Zeit lang, wie lange mag ich heute nicht mehr zu sagen. Jedenfalls änderte sich etwas, was sonst mein Leben bedeutend in geregelten Bahnen hielt. Ich will es mal so sagen, stelle dir eine Waage vor, die sich ordentlich eingependelt hat und sich nach und nach in die falsche Richtung neigte, und so wie sich die Waage verschob, so verschwand die Vergangenheit, oder verwischte sie, verschwommen war da noch was da. Mir war völlig bewusst was ich tat, aber es störte mich nicht im Geringsten, ich hatte keinerlei Angst davor. All die bösen Jahre, die ich früher erlebte, waren einfach weg. Für mich stand fest, dass es eine einmalige Angelegenheit wird, den Rückfall meine ich, und so kam es auch. Es war nicht mal dramatisch, kein Absturz und nichts, mir ging es am nächsten Tag gut und ich hatte keinerlei Verlangen weiter oder wieder zu trinken. Das Gefährliche stellte sich erst viel später ein und hierin liegt/lag die Gefahr. Da es mir ja scheinbar gar nichts ausmachte dachte ich mir so ca. ein halbes(?) Jahr später, man könnte ja eigentlich mal einen nehmen. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Der *Rückfall* dauerte so SECHS Jahre lang, in denen ich mich so langsam dem Punkt näherte, an dem ich 24 Jahre davor schon mal war. Dieses wurde mir plötzlich bewusst und mein *richtiges* Gedächtnis meldete sich und sagte mir, dass ich jetzt bremsen muss, Vollbremsung sozusagen, bevor ich ganz abschmiere. Mir ging es nicht schlecht die sechs Jahre, alles klappte wunderbar, beruflich wie privat, nur die Erinnerung an das elende Saufen, welches ich früher hatte, das zermürbte mich. Ich hatte panische Angst davor wieder da zu landen, wo ich als junger Mann schon mal war. Die Frage war nur, wie ich aus dieser Nummer wieder heraus komme. Ich ergriff die Flucht nach vorne und outete mich meinem in den Jahren gewachsenen komplett neuen Umfeld als Alkoholiker. Allgemeines Erstaunen und Nichtbegreifen, das war das erste, was mir entgegen gebracht wurde. Klar, aus deren Sicht war ich doch kein Alkoholiker, ich benahm nicht so und soff ja auch nicht dauernd, ich funktionierte gut. Selbst meine in der Zwischenzeit neu kennen gelernte Frau begriff es nicht, sie fiel aus allen Wolken. Klar hatte ich ihr erzählt was früher mit mir los war und as ich mal ganz erbärmlich soff und mehrere Entgiftungen, dutzende kalte Entzüge und eine sechs monatige Therapie gemacht hatte. Für sie was das aber so eine Art *Jugendsünde*, einfach etwas Vergangenes was vorüber ist. Es hat schon recht lange gedauert, bis ich ihr das so vermitteln konnte, das auch sie es verstand. Wann immer die Möglichkeit besteht geht sie auch mit in die SHG um dort von anderen Partner/innen zu erfahren, was diese mit ihren Partner/innen mitgemacht hatte, was meiner Frau Gott sei Dank erspart blieb, da ich ja gerade noch rechtzeitig *die Kurve* gekriegt habe.
    Von daher auch meine Aussage in dem anderen Fred, dass ich nicht mal traurig bin, dass ich so einen Rückfall hatte (der allerdings nicht erstrebenswert ist). Ich hatte mein schönes Leben wieder.
    So viel habe ich glaube ich noch nie geschrieben, hoffe aber, du kannst es in etwa verstehen, und dir für deinen Weg etwas heraus picken zu können.
    Gruß Ronnie

  • Zitat

    dir für deinen Weg etwas heraus picken zu können...

    Das kann ich. Danke schön !

    Ich hätte da direkt mal noch ´ne Frage ;)

    Zitat

    Ich ergriff die Flucht nach vorne und outete mich meinem in den Jahren gewachsenen komplett neuen Umfeld als Alkoholiker.

    Also wußte dieses Umfeld nicht, daß du Alkoholiker bist? Du warst dabei, ohne zu trinken?

    Zitat

    So viel habe ich glaube ich noch nie geschrieben...

    Da danke ich nochmals für. Nur weiter so ;)

    Mieken

  • Hallo Mieken,

    ob man vergessen kann, dass man Alkoholiker ist kann ich aus meiner Erfahrung nicht beantworten.

    Bei mir ist der Alkohol nicht mehr so präsent wie in den ersten Monaten und Jahren. Er ist in meinem Denken integriert ähnlich wie bei einem Zuckerkranken, der auf die
    Ernährung achten muss oder einem Allergiker der die Inhaltsstoffe der Lebensmittel im Auge hat.

    Ich bin ein reiner Wirkungstrinker gewesen und mir hat Alkohol nicht wirklich geschmeckt (bis auf ganz wenige Ausnahmen), ein Rückfall wäre mein Ende, eine zweite Niederlage würde ich nicht verkraften.

    Ob meine Trockenheit an erster Stelle steht kann ich so nicht beantworten. Ist ähnlich wie die Frage, welches deiner Kinder liebst du mehr.

    Ich hoffe, du kannst mit meiner Antwort etwas anfangen


    Weißbär

    Liebe Grüße
    Weißbär

  • Hallo ihr zwei,

    danke für eure Antworten.

    Ich habe zu Weihnachten einen Bericht über Alkoholkonsum gesehen, in dem aus mehreren Blickwinkel auf Alkohol geblickt wurde. Zum einen aus der Industrie... hat mich nicht so interessiert.

    Und zum anderen aus der Sicht eines Alkoholikers, der immer wieder rückfällig wurde. (Nach dem letzten Rückfall ist er auf der Intensivstation wach geworden). Dort wurde er mit einem Kamerateam beim Besuch seiner SHG begleitet. Mit den Worten: Er geht dorthin, um nicht zu vergessen, daß er alkoholkrank ist.

    Dem habe ich für mich entnommen, daß ein Präsent halten ungemein wichtig ist. Habe hier auch schon mehrfach gelesen, daß rückblickend (nach einem Rückfall) geschildert wurde, schrittweise die zuerst so wichtigen Schritte aus der Sucht, nach und nach wieder gelassen wurden.

    Mir stellen sich aber zusätzlich neue Fragen, nach der eigenen Akzeptanz oder Verinnerlichung der Krankheit.

    Wenn ich vergesse kann, daß ich Alkoholikerin bin, habe ich es denn dann wirklich akzeptiert? Ich meine, es geht ja nicht um einen Schnupfen.

    Oder weil ich den Alkohol so aus meinem Blickwinkel halte, daß ich zuletzt gar nicht mehr weiß, warum ich so handele?

    lg Mieken

  • Hallo, erst mal glaube ich nicht, dass ich noch mal so viel schreibe, mir ist die Tipperei zu anstrengend.

    Zu deiner Frage.....
    Wozu hätte ich es Menschen erzählen sollen, die ich erst vor Kurzem kennen gelernt hatte? Ich habe eine andere Meinung, was das Mitteilen meiner Krankheit angeht. Ich habe absolut keinen Nerv mich mit Leuten über das Thema Sucht zu unterhalten, die davon keine Ahnung haben. Das Thema is so komplex, da schrieben Wissenschaftler schon Fachbücher drüber, wie soll ich es da mit ein paar simplen Worten widergeben?
    Du fragtest weiter unten, wie es mit der eigenen Akzeptanz und Verinnerlichung ist. Beides kann vorhanden sein, aber auch genauso gut wieder weniger werden, oder gar nicht mehr greifbar vorhanden. Es verwischt sich, steht nicht mehr dauernd im Vordergrund. Ich stelle mir ein Leben mit der dauernden Angst vor einem Rückfall grauenhaft vor. Wie man es handhaben soll kann ich dir nicht sagen, da muss jeder seinen eigenen Weg finden, mit dem er zufrieden durchs Leben geht. Trockenheit ja, aber nict um jeden Preis. Mir ist persönlich ein Fall bekannt, da hat sich Frau das Leben genommen, weil sie nicht mehr saufen wollte, aber trocken einfach nicht zurecht kam. Was wäre wohl angenehmer gewesen?
    Noch was....
    ich hatte während meiner Rückfallphase überhaupt keine Probleme mit dem Trinken, konnte trinken wie ein *normaler* Mensch. Kritisch wurde es, als mir durch eine plötzliche Eingabe (oder so was in der Art) meine Vergangenheit wieder wie ein Blitz ins Hirn schlug. Hab dir ja geschrieben, dass ich es mir einfach machte und schlicht und ergreifend mit meinen Leuten darüber redete. Mir wäre es zu anstrengend gewesen, es auf anderen Wegen zu versuchen. Einfach gesagt, ich bin Alkoholiker, hab früher gesoffen wie ein Irrer, jetzt ist wieder schluss. Klar kamen dann Fragen, die habe ich kurz beantwortet und das war es dann. Es wird akzeptiert und soll ich dir was sagen? Es fällt gar keinem auf, dass ich nicht mehr trinke, so, als wäre es schon immer so gewesen.
    Jetzt langts erst mal :)
    Gruß Ronnie

  • Hallo Ihr Lieben, hallo Mieken,

    im Urzustand, als ich schlüpfte und einige Zeit danach, da wusste ich nichts von Sucht, von sehnen, von Sehnsucht, Abhängigkeit, Krankheit. Das entwickelte sich 47 Jahre, wissen tat ich davon immer noch nichts, nicht wirklich, das dauerte nochmals 3 Jahre und geht immer weiter.

    Ich kann lernen dem was in mir nicht OK ist den Saft abzudrehen, zumindest wenn ich wach und bei Verstand bin, bei meinen unbedeutenden 4-6% Bewußtsein. Der Teil meines gefährdeten Verstandes gehört wieder zurück ins Unterbewusstsein, angeschlossen an das was die Natur mir ursprünglich mitgegeben hat. Die Natur richtet das schon, wenn ich zeitig abgebe, das versuche ich weiter. Der ungute Umgang mit Dingen mit denen ich es mir jahrelang besorgt habe gehört da weg, der gehört raus aus meinem Bewusstsein, abgegeben an meine Dummheit. Wenn das „weg da“ unbewusst wird, ist doch alles OK, das wird schon. Zurück in die Dummheit, also ins Vergessen. Vergessen und Vertrauen auf meine Instinkte ist mir lebenswichtig. Die Vollendung meines Lebens ist das Vergessen.

    Das betrifft vielleicht nicht nur alkoholkranke Menschen, ein paar eingefleischte Kinderchen und hartnäckige Cochen können sich vielleicht und eventuell auch mal mit an die Nase fassen.

    LG und schönes Wochenende Kaltblut

    Sie standen dar und fragten sich warum und nur einer meinte: warum nicht.

  • Hallo Ronni,

    Ich kann da viel für mich entnehmen und wenn du es nicht tippst, erfahre ich doch nix :-(, was mir weiterhelfen könnte.

    Meine Eingangsfrage war ja: Kann man vergessen alkoholkrank zu sein?

    Das hast du mir geantwortet und deswegen gebe ich (vorerst) Ruhe ;)

    Mir ist dennoch aufgefallen, daß du etwas wesentliches verändert hast.

    Zitat von RonaldB

    Einfach gesagt, ich bin Alkoholiker....

    Vielen Dank nochmals.

    Mieken

  • Keine Ursache :D

    Noch was,
    mich stört es absolut nicht, dass ich Alkoholiker bin und ich sage es auch jedem. Jedem, der es mir wert ist, Gespräche darüber zu führen.
    Gruß Ronnie, der jetzt aber was arbeiten muss :):):)

  • Hallo Ronnie,

    Zitat

    mich stört es absolut nicht, dass ich Alkoholiker bin und ich sage es auch jedem.

    Damit tue ich mich immer noch schwer. Lese jedoch aus Berichte wie Deinem, das dies ein ganz wesentlicher Punkt bei der Trockenheitsarbeit ist.

    Zitat

    Jedem, der es mir wert ist, Gespräche darüber zu führen.

    Das habe ich bereits erfahren dürfen, das es eine weite Palette gibt, wie der/das Gegenüber reagiert. Langsam bekomme ich ein Gespür dafür, wo ich frei erzählen kann und möchte, oder wo ich einfach den Mund halte und mich der Situation nicht aussetze.

    Ich denke jedoch, es ist überaus wichtig, Leute um sich herumzuholen, die mich erinnern, wenn ich in´s Vergessen gerate. Das können die aber wohl nur, wenn sie wissen, worum es überhaupt geht.

    Zitat von Weißbär

    Ob meine Trockenheit an erster Stelle steht kann ich so nicht beantworten.


    Darauf möchte ich nochmal zurück kommen.
    Ich kann mir für mich nicht vorstellen, daß sie ihren Platz nicht an erster Stelle hat.
    Ich habe eine ausgeprägte Orientierungsschwäche und ich vermute das spiegelt sich in meinem Innern wider.
    Alles was ich tue, baut sich auf meiner Trockenheit auf. Denn ohne meine Trockenheit, wäre alles nix mehr. Ich müsste ins dunkel zurück. Da will ich nicht mehr hin!

    Weil ich mich jedoch immer wieder verzettel, nehme ich meine Nüchternheit als Abfahrtspunkt. Nur von diesem Punkt aus, kann meine Reise beginnen.

    Wie seht ihr das?

    Lg Mieken

  • Hallo Mieken,

    Ich habe mich gerade in Dein Thema eingelesen und einen Satz gelesen der mich sehr anspricht.

    Ich müsste ins dunkel zurück. Da will ich nicht mehr hin!

    Den werd ich mir merken und als Anregung nehmen.

    Danke

    Liebe Grüße

    Neraa

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