Körperliche / Psychische Toleranzgrenzen ?

  • Bevor ich mich hier im Forum angemeldet hatte war ich in dem Glauben, dass Alkoholabhängigkeit in erster Linie eine körperliche Abhängigkeit ist. Nun nach dem Lesen hier scheint der körperliche Entzug doch eher das zweitrangige Problem zu sein. Die Überwindung hin zur Trockenheit ist eher psychischer Natur und auch das Trockenbleiben. Sehe ich das richtig?
    Was ich aber bis heute nicht richitg verstanden habe: Es wird gesagt, dass der Alkoholiker selber den Tiefpunkt erreichen muß und den Willen zum Aufhören selber haben muß. Dann andererseits lese ich an anderen Stellen immer wieder, dass der Alkoholiker trinken "muß", da er ja abhängig ist und das nicht eine Frage des "Willens" sei.
    Das klingt für mich so, als ob er nur darauf warten kann, dass er irgendwann einmal seinen Tiefpunkt erreicht und bis dahin - auch mit eignem Willen - immer nur gegen die Wand rennen würde.

    Erklärt das , dass einige immer wieder Versuche starten, die dann scheitern und zu Rückfällen führen, weil der "absolute Tiefpunkt" noch nicht erreicht war? Sind hier Menschen , die ebenfalls wie wir Coabhängige gut wegstecken können hier im Nachteil?

    Alles in der Sucht scheint mir plötzlich um eine Art "Toleranzschwelle" zu gehen, die bei Nichtsüchtigen viel höher liegt. Die können nein sagen, die wissen wann Schluß ist, die lassen nicht alles mit sich machen...

    Wir Süchtigen hingegen können ( haben es so gelernt?) sehr viel ertragen.
    Körperlich als auch psychisch.

    Wie entsteht eine solche Toleranzgrenze? Ist sie nur manchen Menschen gegeben? Sie ist ja mehr als das, sie ist ja regelrecht überlebenswichtig.
    Womit hat diese zu tun, wenn nicht mit dem Willen? Eigentlich sollte man da doch instinktiv das Richtige tun. Aber das funktioniert bei uns nicht ( mehr?) oder?

  • Hallo,

    das mit dem körperlichen Entzug stimmt so nicht. Aber weil normalerweise nach 3 Tagen die starken Anzeichen verschwunden sind, tritt er oft in den Hintergrund. Es ist aber nicht zu vergessen, dass der körperliche Entzug absolut lebensgefährlich ist und keiner Aussagen über seinen Verlauf treffen kann. Ich habe Leute erlebt, die nach über einer Woche sonst keine weiteren Anzeichen mehr hatten, aber plötzlich Krampfanfälle bekamen.
    Mit den psychischen Folgen der Sucht muss ich mich zwangsläufig mein ganzes Leben beschäftigen. Deshalb treten sie nach dem körperlichen Entzug in den Vordergrund und erfordern in der ersten Zeit meine ganze Kraft.
    Das Erreichen des Tiefpunktes verbindet sich für mich mit der Erkenntnis, dass es so nicht weiter gehen kann. Ich erkenne das gesamte Lügengerüst, dass ich hauptsächlich für mich selbst aufgebaut habe. Und daraus konnte ich dann die Kraft für eine Änderung schöpfen, was nicht vielen Süchtigen gelingt, vor allen über längere Zeit.
    "Gut wegstecken" können alle Süchtigen, sonst wären sie ja nicht da gelandet. Es ist ein unheimlicher Kraftaufwand neben der Sucht ein "normales" Leben aufrecht zu erhalten. Deshalb geht der Abstieg in die Sucht auch immer weiter, weil die Kraft nicht mehr da ist. Ich habe z. B. 50 - 60 Stunden die Woche gearbeitet, nebenbei noch andere Sachen gemacht. Dann kam auch noch das Saufen dazu. Heute weiß ich gar nicht mehr, wann ich noch geschlafen habe. Und es geht immer weiter abwärts, was man dann nicht sehen will.
    Es wird ja gesagt, dass es Menschen mit und ohne Veranlagung zur Sucht gibt. Für mich heißt das aber nur, dass einige vielleicht leichter und schneller süchtig werden. Das es nur am "wegstecken" liegt, glaube ich nicht.
    Das Gefühl (Instinkt) beim Süchtigen funktioniert nicht mehr richtig, weil es durch den ständigen Gebrauch total auf das Suchtmittel "gepolt" ist. Das ist für mich auch ein Grund, warum es bei vielen mit der Trockenheit nicht klappt. Es gelingt ihnen eben nicht, das zu erkennen, erst mal dagegen zu handeln und neu zu lernen damit umzugehen.. Mit den Jahren der Trockenheit reguliert sich das wieder einigermaßen, aber ganz in Ordnung wird das nie wieder kommen.

    Schönen Tag

    H.

    Ich bin jetzt erwachsen - Trocken seit 18 Jahren (Mai 2005).

  • Möglicherweise beeinflussen aber auch körperliche und psychische Abhängigkeit einander in dem Sinne, dass wenn man körperliche Entzugserscheinungen hat eben auch meint, das Suchtmittel zu "brauchen".

    Wären es "nur" die körperlichen Entzugserscheinungen für ein paar Tage dann wäre die Sucht wohl um einiges leichter zu überwinden. Leider weiß man am Anfang ja nicht wie lange diese Phase dauert und ein einziger Tag ist schon eine Ewigkeit. Und man weiß in dem Moment ja auch nicht wie lange dieser Zustand noch andauern wird.
    Erst wenn man eine Sucht erfolgreich überstanden hat kann man im nachhinein vielleicht sagen: Es waren ja "nur drei Tage".

    Aber die psychischen Ursachen / Folgen begleiten uns alle ein Leben lang, egal ob wir nun Coabhängig, alkholabhängig oder gar beides sind.
    Sehr gefährlich sind solche Trigger, Auslöser, die sich an das Suchtgedächtnis wenden. Ich könnte mir vorstellen, dass es sowas in der Art bei Coabhängigen auch gibt.

    Dass man weniger rückfallsgefährdet ist wenn man einen richtigen tiefen Tiefpunkt hatte könnte ich bei meinem Vater schon bestätigen, der lange zeit ( ca 20 Jahre) brauchte um ganz tief nach unten zu fallen, schon an die Grenze des jenseits geriet und aber seitdem fast 30 jahre trocken ist.

  • Hi Paddy,

    ich sehe mich heute so: nicht trinken wollen bedeutete gegen ein durch Giftstoffe künstlich verursachtes Verlangen anzukämpfen. Das funktioniert irgendwann nicht mehr, führt in den Tiefpunkt oder bis zum Tod. Der tägliche Lifezustand meiner Exfrau und das Forum mit dem ich mich identifizieren konnte, bewahrten mich davor. Es ist nicht natürlich Giftstoffe in seinen Körper zu pumpen, das hat sich nur der Mensch zu eigen gemacht. Dahinter stehen Ursachen, die erst dazu führen zu einem Ersatzbedürfnis zu greifen.

    Erst wenn Du aufhörst gegen die Natur zu sein, also aufhörst zu wollen kann der natürliche Heilungsprozess stattfinden. Paradox und kaum denkbar, denn in unserer Gesellschaft werden wir von klein auf abgerichtet

    Wenn ich aufhören will zu trinken, wird mich die körperliche Abhängigkeit immer wieder zurücktreiben und wenn ich die Abhängigkeit los bin, wird mich mein „Wollen“ immer wieder überfallen, bis ich aufhöre zu wollen.

    Das ist die Sinnlosigkeit einen süchtigen Menschen mit Trinkverboten trocken zu bekommen. Ich durfte als Kind lernen: du darfst nicht, zu sollst nicht, du musst… Niemand kann den Ursprung einer Sucht abstellen, das kann der Betroffene nur selbst. Die Grundbausteine des Forums befolgen ging ganz einfach, irgendwann trank ich nichts mehr. Mich körperlich und geistig von meiner Frau zu trennen und das als etwas Natürliches, nicht mehr Gewolltes zu sehen, war ein ziemlich schwachsinniger Weg, auf dem mir viele Betonpfeiler im Weg standen. Paradoxerweise musste ich gegen jeden einzelnen gegenlaufen.

    Wer sind denn „Wir Süchtigen“, bezieht sich das nur auf Co +Alk oder auch auf allgemein, auf Drogen, Tabletten, Spiel und 6ssucht, ärztlich verordnete Dauerpharmazeutika, wie Abführmittel, Herzmittel, Salben oder auch auf Kosmetika oder Süßigkeiten, Kunstlebensmittel oder Konsum von PC + Fernseher, Kaufen, arbeiten, krank sein, konditionierte Angewohnheiten …. Also wenn ich mir das genau ansehe frage ich mich, ob es überhaupt „nicht Abhängige“ geben kann.

    Zitat

    „Eigentlich sollte man da doch instinktiv das Richtige tun. Aber das funktioniert bei uns nicht ( mehr?) oder?“

    Genau, wenn es oder wenn es wieder richtig funktioniert, natürlich ist, dann ist das auch nicht mehr so wichtig, den wir sind dann anders und auf dem richtigen Weg.

    LG Kaltblut

    Sie standen dar und fragten sich warum und nur einer meinte: warum nicht.

  • Hallo Paddy,

    ich finde Formulierungen wie,......"man", "wir" und "uns" immer etwas problematisch,....es mag vielleicht in manchem Ähnlichkeiten geben,.....aber ich kann immer nur von MIR ausgehen,.....aber das nur mal so am Rande und meine ganz persönliche Einschätzung.

    Ich hab mich in der Vergangenheit sehr intensiv mit dem Thema Sucht im allgemeinen,.....und dann zwangsläufig auch mit meinen eigenen Suchtstrukturen auseinandergesetzt die schon in der Kindheit begannen, wie ich heute weiß.
    Auch so vermeintlich "harmlose" Dinge wie Schokolade bei mir als Kind, können schon Suchtcharakter haben,.... wenn damit etwas anderes als GENUß kompensiert wird.

    Sucht kennzeichnet den Kontrollverlust,......das "richtige" Maß-Verhalten fehlt einfach.

    Wo "andere" wie du selbst schreibst einfach AUFHÖREN, kann ein Süchtiger das nicht, darum ist das alleine mit dem WILLEN (fast) nicht möglich, wenn ich die "Hintergründe" meiner Sucht nicht kenne.

    Ob es nun ein Sucht-Gen gibt, vererbbar ist oder evtl. auch zusätzlich "falsch" vorgelebtes Verhalten ist,....ich weiß es nicht,....zumindest gibt es Menschen die generell eher zu vermehrten Suchtverhalten neigen als andere.

    Als Kind war es bei mir die Schokolade, 1kg Nougat an einem Tag ist wohl kaum "normal", später als Jugendliche war es der Sport, mein damaliges Berufsleben war meine Anerkennung und mein zuhause.

    Eßstörungen in beide Richtungen, Depressionen, Medikamentenabhängigkeit und später der Alkohol kamen hinzu.

    Weiter, höher, schneller,.....mehr, mehr, mehr,..... war mein Motor bis zum oft völligen Zusammenbruch und Suizidversuchen.

    Es hat lang, sehr lang gedauert bis ich obige Sucht-Stoffe nicht mehr GEBRAUCHT habe und sie STOPPEN konnte,.....psychisch labil und gefährdet bleibe ich weiterhin, ....GENUß ist für mich weiterhin leider ein Fremdwort geblieben, .....so sehr ich mich auch bemühe.

    Gruß Rose

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