Es ist nicht immer einfach, den Weg in die Abstinenz ...

  • ... zu finden.

    Guten Morgen zusammen,

    war einige Wochen lang nicht mehr aktiv im Forum. Hatte im September mein Einjähriges, worüber ich mich still gefreut habe und den Entschluss fasste: nun werden die nächsten zwölf Monate angegangen.

    Ich handhabe das mit den Vorsätzen seit Beginn an in dieser Weise: nach dem ersten trockenen Tag nahm ich mir die nächsten 24h vor, nach einer Woche dann die zweite, nach dem Oktober als nächsten Schritt den November usw. Und im Nu war bereits zu Weihnachten ein Quartal um. Jetzt kann ich also bereits in Jahresabschnitten denken. Von „planen“ will ich im Zusammenhang mit Sucht lieber nicht sprechen. Die Abstinenz ist und bleibt aus meiner Sicht ein Tagesgeschäft. Wenngleich ich im Laufe der Zeit gelernt habe, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, Gefahrenpunkte rechtzeitig zu erkennen und „schlechter“ Gesellschaft aus dem Weg zu gehen. Zudem verwandelt sich das körperliche Verlangen nach Alkohol nach einigen Wochen in ein reines Gedankenspiel. Wenn ich heute an Bier und Schnaps denke, dann tue ich das ruhig und zittere nicht mehr dabei so wie noch im Sommer 2011.

    Einen Königsweg in die Abstinenz gibt aus meiner Beobachtung heraus nicht. Es existieren Schnittmengen mit anderen Süchtigen, man kann von ihren Erfahrungen lernen; aber eben nur partiell. Letztlich muss jeder für sich selber entscheiden, ob er die Herausforderung annimmt, und in welcher Weise er sich ihr stellt. Ich hatte mir zu Beginn der (hoffentlich langanhaltenden) Trockenperiode ein Grundgerüst überlegt, an dem ich nun im Laufe der Wochen und Monate Fleisch befestige. Ich höre mir von anderen an, was die zu berichten haben. Was ich für sinnvoll erachte, übernehme ich, den Rest lasse ich eben sein. Zudem taugt mMn nicht jeder Vorschlag, der einem selber hilft, auch für einen anderen. Es gibt viele – auch praxiserprobte – Rezepte, wie man es anpacken kann. Man muss aber für sich individuell den richtigen Mix zusammenstellen und evtl. auch Pfade abseits der Hauptstraße ausprobieren. Wovon ich von Anfang an wenig hielt, war die medikamentöse Unterstützung der Abstinenz. Ich kenne niemanden, bei dem Tabletten dauerhaft geholfen haben. Wenn’s schief läuft, ersetze ich die eine durch eine andere Sucht.

    Als Gründe für meinen Alkoholismus hatte ich recht schnell identifiziert: genetische Veranlagung. Sozialisation, (zu) früh damit angefangen, abendlicher Alkohol war so normal wie das Zähneputzen vor dem Zubettgehen, nie richtig damit aufgehört. Bier und Wodka dienten mir irgendwann nicht mehr zum Genuss, sondern ich setzte den Alkohol wie Medizin ein. Bis dann nach zwanzig Jahren der Punkt kam, der bei mir unweigerlich kommen musste: das erste Erwachen auf einer Intensivstation. Dass ich Alkoholiker war, wurde mir bereits am ersten Tag in der Klinik klar. Die Krankheitseinsicht war nicht so sehr mein Problem. Jedoch zog ich rund vier Jahre lang die falschen Schlüsse bzw. gab mich dem Irrglauben hin, ein Bier muss doch erlaubt sein. Für den Nicht-Kranken kein Problem. Beim Süchtigen zieht das erste Bier aber mit nahezu mathematischer Konsequenz nach kurzer Zeit die erste Flasche Wodka nach sich. Um diese Testreihe zu beenden, habe ich lange gebraucht. Erst im Herbst vergangenen Jahres wurde mir endgültig bewusst, dass jeder neue Versuch mich unweigerlich ins Krankenhaus oder vllt sogar auf den Friedhof bringen wird. Ab diesem Moment, in dem mir das klar wurde, habe ich keinerlei Gedanken mehr an kontrolliertes Trinken verschwendet. Ich wusste bzw. weiß, dass es bei mir nicht funktioniert, und ich kenne die tödlichen Konsequenzen. Seitdem kann ich auch zusehen, wie andere es tun, ohne selber Durst oder gar Suchtdruck zu bekommen.

    Die Sorgen und Probleme, die in der Vergangenheit als Auslöser oder Entschuldigungsgründe für meinen exzessiven Konsum dienten, haben sich natürlich nicht alleine deshalb verflüchtigt, weil ich nun trocken bleibe. Allerdings weiß ich, dass der Rausch sie nur für einige Stunden abdämpft, sie jedoch nicht löst. Wusste ich letztlich auch vorher, was mich aber nicht davon abhielt, die gefährliche Gewohnheit beizubehalten. Seit einem Jahr lege ich abends Musik auf, lese ein Buch oder schreibe selber, um mich abzulenken und zu entspannen. War anfangs gewöhnungsbedürftig; funktionierte aber nach einigen Wochen genauso gut wie vier Flaschen Bier. Sport und ein strukturierter Alltag sind sicherlich wertvolle Unterstützer, um der Droge fernzubleiben. Wobei ich eben auch jahrelang unter Alkoholeinfluss arbeitete und halbwegs funktionierte, weshalb der Wecker morgens früh um 6h und der tägliche Gang ins Fitnessstudio für mich kein Allheilmittel darstellen. Sie bilden (wichtige) Teile eines größeren Entwurfs.

    Verzicht auf „falsche“ Freunde, Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel habe ich allesamt vollzogen. Sind hilfreiche Meilensteine; für sich alleine genommen bringen sie aus meiner Erfahrung heraus wenig. Denn saufen kann ich auch in der neuen Umgebung. Die Selbsthilfegruppen sind eine Angelegenheit für sich: mitunter sind sie sehr interessant, dann wiederum sterbenslangweilig und manchmal nerven diejenigen, die sich vor lauter Selbstlob, weil sie nun seit fünf oder zehn Jahren nüchtern sind, andauernd selbst auf die Schulter klopfen. Deshalb besuche ich die dann, wenn ich Lust dazu verspüre. Dasselbe ist es mit der Psychologin. Wenn es Wichtiges zu besprechen gibt, treffen wir uns 1x/ Woche, andernfalls vereinbaren wir längere Intervalle bis zur nächsten Sitzung. Mit zwei Mitpatienten, von denen ich weiß, dass sie ernsthaft an ihrer Abstinenz arbeiten, verabrede ich mich hin und wieder auf eine Tasse Kaffee. Die gehen andere Wege als ich. So lange das alles individuell funktioniert, ist das aus meiner Sicht völlig in Ordnung.

    Meine Hauptauslöser fürs Trinken kenne ich mittlerweile. U.a. gehört zu viel Nähe zu einer anderen Person dazu. Deshalb halte ich mich von engeren Freundschaften fern. Bzw verbringe meine Abende zu 80% alleine. Das ist sicherlich eine Sache der Gewöhnung, hängt aber vermutlich auch stark vom eigenen Typ ab. Der eine fühlt sich schnell einsam, der andere hingegen genießt es eher, wenn er alleine ist und seine Ruhe hat. Ich gehöre der zweiten Gruppe an.

    Die vielen Jahre der Klinikaufenthalte haben allerdings meine Sinne für Dinge geschärft, auf die ich vorher nicht so geachtet hatte: „Richtige“ von „falschen“ Freunden/ Bekannten zu unterscheiden, wesentliche Dinge im Leben zu erkennen (bspw. das eigene Überleben), mit wenig zufrieden zu sein, den Penner von der Parkbank als gleichwertigen Mitpatienten zu akzeptieren usw.

    Ich habe kein Problem damit, offen über meine Krankheit zu sprechen, wenngleich ich nicht jedem auf die Nase binde, dass ich Alkoholiker bin. Gestern habe ich es einem neuen Nachbarn erzählt, der vergangene Woche neben mir eingezogen ist. Er hat mich anfangs angeschaut wie einen Alien vom Mars, hat nach Worten gesucht (ihm schien die Situation unangenehmer zu sein als mir), nuschelte daraufhin, „Kann ja jedem von uns passieren“ und verabschiedete sich schnell von mir. Nun weiß er es, und gut ist es.

    Ansonsten freue ich mich darüber, dass meine Kinder in dieser schwierigen Zeit zu mir gehalten haben (was ich weiß Gott nicht von allen Familienangehörigen behaupten kann) und ihrerseits froh sind, wenn sie einen nüchternen Vater zu Gesicht bekommen. Das war einige Jahre lang nicht der Fall. Sie haben mich zwar nicht betrunken gesehen, sondern überhaupt nicht. Weil ich von mir aus jeglichen Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte, um das Elend nun nicht auch noch vor Kinderaugen vorzuführen. Seit zwölf Monaten klappt das reibungslos, und alleine das ist ein wichtiger Streif am Horizont, um jetzt gutgelaunt und frohen Mutes in Jahr Zwei meiner Trockenheit einzutreten.

    Das ist mein kurzer Bericht zum Einjährigen.

    Vg Caligula

    Das Leben ist eine Komödie für jene, die denken, eine Tragödie aber für jene, die fühlen. (Oscar Wilde).

  • Hallo Caligula

    von mir auch alles Gute zu deinem ersten Geburtstag in einem selbstbestimmten Leben :) Weiter so .

    Gruß Hartmut

    Gruß Hartmut

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    Wer will, findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe!

  • Hallo Caligula,

    herzlichen Glückwunsch zu Deinem ersten Jahr ohne Alkohol. Ich wünsche Dir auch für's zweite Jahr einen guten Weg. Danke für Deinen Bericht, der wirkt auf mich sehr klar und zuversichtlich. Würde mich freuen, auch weiterhin von Dir gelegentlich etwas zu lesen.

    Liebe Grüße, zerfreila

  • Guten Morgen Karsten, Hartmut und zerfreila,

    vielen Dank für eure netten Glückwünsche zu meinem Einjährigen. Habe mich sehr darüber gefreut. Ich hatte den Tag im September gar nicht an die große Glocke gehängt. Mit mir selber einen Cappuccino beim Italiener getrunken und gut war es.

    Natürlich werde ich weiterhin den ein oder anderen Beitrag von mir posten.

    Vg Caligula

    Das Leben ist eine Komödie für jene, die denken, eine Tragödie aber für jene, die fühlen. (Oscar Wilde).

  • Hallo Caligula,

    schön daß du wieder schreibst. Hatte ich erstmal gar nicht mitbekommen da ich immer nur in dem andren - dem "Newcomer" - Bereich rumfuhrwerke (mit Handy ists schwer den Überblick über das Gesamtforum zu behalten).

    Also verspätet aber sehr sehr ernst gemeint: alles Gute und herzlichen Glückwunsch zum "Einjährigen"!

    LG Frank

  • Hallo Frank,

    herzlichen Dank für deine Glückwünsche!

    Habe ich mich sehr drüber gefreut.

    Bin gerade dabei, ein neues Buchprojekt auf den Weg zu bringen. Völlig anderes Genre. Eine Auftragsarbeit. Bin gespannt, ob es mir gelingen wird, den richtigen Ton zu treffen.

    Wünsche dir eine gute Zeit!

    vg Henning

    Das Leben ist eine Komödie für jene, die denken, eine Tragödie aber für jene, die fühlen. (Oscar Wilde).

  • Hallo Henning
    ich hab gerade Deinen " kurzen Bericht " über Dein Einjähriges mit Spannung gelesen und dabei auch etwas Interessantes für mich gefunden, was ich bis jetzt noch gar nicht in Betracht gezogen habe aber auch so erlebe ( oder ähnlich) nämlich die Nähe zu Anderen zu ertragen....

    Herzlichen Glückwunsch und Danke für Deinen Bericht
    Karin
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  • Hi Caligula,

    ich möcht dir schöne Weihnachtstage wünschen und ein weiteres trocknes Jahr.

    Was du schreibst (leider nicht oft aber wenn mal), das sind immer Sachen die mich sehr stärken und weiterbringen, jedenfalls Klarheit schaffen. Das sind Superbeiträge. Dss ist stark.

    Dafür bedank ich mich mal.

    LG Frank! Schreib mehr! Lohnt sich!

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