• Ziemlich seltsam ist das, ich habe das Gefühl, ich werde mich jetzt ganz neu kennenlernen müssen. Als ob dich plötzlich ein Tor zu einer ganz neuen Welt geöffnet hat und ich keine Ahnung habe, wo ich hingehen könnte. Da hilft wohl nichts als sehr vieles auszuprobieren. ...

    Hallo Horizont,

    so ging (und geht) es mir auch! Dass ich mich neu kennenlernen musste bzw. durfte (und darf).
    Manche schreiben ja, wenn sie trocken werden, dass sie endlich wieder „die/der Alte“ werden wollen, aber so ging’s mir nicht. Ich bin die Neue geworden, die ich entdecke, seit ich mich zur Abstinenz entschlossen habe. Klar, nicht alles ist neu, aber es ist wirklich ein neues Mich-Kennenlernen.

    Ich wünsch dir beim Dich Entdecken weiterhin viel Freude und Geduld.

    Gruß, Thalia

  • Hallo zusammen,

    danke für die Glückwünsche, Aurora und Thalia, freut mich sehr! Ich kann bei mir gar nicht so genau sagen, ob es der Alte oder Neue ist. Es fühlt sich vieles neu an, aber anderes eher so, als würde ich es wiederentdecken. Oder andersherum: Vorher waren große Teile meiner Erinnerungen nicht zugänglich, jetzt kommt vieles wieder. Was insgesamt dazu führt, dass ich mir viel "voller" und "vielfältiger" vorkomme – falls das irgendwie verständlich ist...

    Es ist überhaupt eine gute Gelegenheit, eine Bilanz zu ziehen. In der Politik macht man das ja auch nach 100 Tagen, das (Zwischen-)Ziel habe ich gerade passiert.

    Erst einmal die eher physischen Effekte:

    - ich habe ein paar Kilo abgenommen und damit erstmals wieder das Gewicht von vor mehr als 20 Jahren erreicht. Und das, ohne viel dafür zu tun.

    - meine Haut sieht frischer aus

    - ich schlafe zwar noch nicht immer gut, aber immer wieder. Für jemanden, der seit fast zehn Jahren an teilweise extremen Schlafstörungen herumlaboriert ist das fantastisch. Und das, obwohl ich gerade meine Schlafmedikamente ausschleiche. Scheint so, als ob wirklich der Alkmissbrauch hauptverantwortlich dafür war. Tagsüber habe ich weniger bzw. meisten keine Müdigkeitsattacken, was sicher damit zusammenhängt.

    - meine Gastritis ist verschwunden

    Und nun zum Psychischen:

    - ich kann ohne Übertreibung sagen, dass das der beste Sommer war, an den ich mich erinnern kann. Ich habe wirklich viel unternommen und alles davon ist im Gedächtnis geblieben. Dadurch kommt mir vor, als sei der Sommer mindestens ein halbes Jahr lang gewesen. Absoluter Wahnsinn! 8)

    - ich fühle mich deutlich stressresistenter als vorher. Letzten Herbst habe ich einen neuen Job begonnen und oft gedacht, ich komme gegen die Arbeitsbelastung nicht an. Die ist jetzt auch oft hoch, aber ich kann wesentlich besser damit umgehen, gehe alles viel ruhiger und planvoller an.

    - ich hatte immer wieder Probleme mit Depression bzw habe generell eine eher melancholisch gefärbte Grundstimmung. Ersteres ist komplett weg, zweiteres nur noch vorhanden, wenn ich mich wirklich drauf konzentriere. Riesige Probleme wie Klimawandel, Gewalt etc bleiben Riesenprobleme. Aber die Beschäftigung damit stürzt mich nicht mehr automatisch in zwanghaft-negative Grübeleien. Insgesamt bin ich um ein Vielfaches ausgeglichener. Kann natürlich auch am Sommer liegen, wird sich dann in der düsteren Jahreszeit zeigen.

    - es fällt mir leichter, nein zu sagen. Hier möchte ich aber noch weiter an mir arbeiten.

    - ich lache viel mehr. Das hat mich total erstaunt, denn angeblich ist man mit Alkohol ja sooo lustig. Tatsächlich stellt sich heraus, dass ich es ohne viel lustiger finde.

    Theoretisch müsste ich auch eine ganze Menge Geld gespart haben, allerdings habe ich mir so viel "gegönnt", dass sich das vermutlich die Waage hält. Macht auch nix, Sparen war eh nicht nötig und von den ganzen Sachen habe ich länger was als von Blackouts und Katertagen. Insgesamt kann ich sagen, dass das wahrscheinlich die beste Entscheidung meines Lebens war. Ich hab mich selten so gut und aufgeräumt gefühlt wie in den letzten Monaten. Zweifelsfrei habe ich mich wesentlich besser gefühlt als in den letzten zwanzig Jahren. Ich bin wirklich froh, nichts mehr trinken zu müssen. Es gibt natürlich noch Entwicklungspotenzial, daran will ich arbeiten. Und mir fehlt ein größeres Projekt, eines, auf das ich mich lange und intensiv konzentrieren kann. Das suche ich gerade. In den zig Jahren vorher habe ich sowas nicht mal in Angriff genommen, weil ich weder die Kraft dazu hatte noch mir überhaupt vorstellen konnte, irgendetwas Längerfristiges abschließen zu können.

    Was mir allerdings auch fehlt, das habe ich schon einmal in einem anderen Thread angerissen: Der Besuch einer "Parallelwelt". Dieses (auf wenige Gelegenheiten beschränkte) Rauschhafte, Entrückte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass sich das mit Meditation erleben lässt, allerdings muss man dazu auch wirklich intensiv meditieren. Und mit "intensiv" meine ich tagelang jeweils viele Stunden am Stück. Mich fasziniert diese Weltwahrnehmung einfach, die sämtliche Filter ausschaltet, die unser Gehirn im Normalzustand nutzt. Der Alkoholrausch hatte solche Momente bisweilen, wenn auch nur kurz und sehr gedämpft (und am nächsten Tag vergessen und damit von vornherein sinnlos). Ich mache hier nicht die Tür zum Rückfall auf, weil mir vollkommen klar ist, dass es sich dafür nicht lohnt. Auch andere suchterzeugende Substanzen kommen nicht in Frage. Aber die Reise ist hier nicht zu Ende.

    Das wärs einmal mit der Spontanbilanz. Wünsche euch einen schönen Tag!
    Horizont

  • Hallo Horizont,
    dass du so gut voran kommst, ist echt klasse, bald kann die Sache 3stellig werden und dieser Abstand ist dein Verdienst.
    Den Rausch zu vermissen, hatte ich auch damals beobachtet.
    Dazu sagte ein alter Hase dann, "kling gut, weil es ist normal" ..
    Und ich wollte gerne, dass es sich normal bei mir entwickelt. Das gebe ich mal an dich weiter ;)
    Du liest dich sehr reflektiert, respektvoll der Sache gegenüber, druckfrei und ohne Angst.
    Ganz selbstverständlich ist es nicht unbedingt.
    Bei der Mehrheit der Leute, die ich zu dem Thema kennengelernt habe, zeigten sich Symptome, die bis dato durch den Alkohol unterdrückt waren.
    So unterschiedlich kann es laufen.

    Ein besonderes Merkmal waren und sind allerdings immernoch überraschende Glücksgefühle.
    So kann es auch laufen.
    Weiterhin viel Erfolg und Spaß dabei, taxi

  • Hallo Taxi, danke für deine positiven und gleichzeitig nachdenklich machenden Worte! Die "Sache" ist ja schon dreistellig, bis zur vierten Stelle wirds jetzt etwas länger dauern... ;)

    Was meinst du mit "normal entwickelt"? Das kann ich irgendwie nicht richtig zuordnen gerade, bin auch ein bisschen müde.

    Die spontanen Glücksgefühle kann ich durchaus nachempfinden, z.B. eben, als ich mit dem Rad im Sonnenuntergang heimgefahren bin. Oder gestern bei einem spätabendlichen Gespräch, wo mir bewusst wurde, wir klar ich denken konnte. Hätte es noch vor Kurzem nicht gegeben. Negatives ist dafür oft schwieriger, weil ungefiltert. Jedenfalls währenddessen, nachher ist es wieder besser, weil mit klarem Kopf durchlebt.

    Ich bin derzeit relativ selten hier unterwegs, weil ich das Gefühl habe, weniger Theorie und Rückhalt durchs Netz zu brauchen, sondern mehr in der Praxis ausprobieren und erleben will. Ich bin aber trotzdem unendlich dankbar, dass ich hergefunden habe. Danke noch mal euch allen!

    Dir auch alles Gute, Taxi!
    Horizont

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