Hallo, Ihr Lieben,
ich bin wieder zu Hause. Es war für mich wichtig, meine Mutter zu sehen. Es geht ihr zwar nicht gut, aber sie ist fitter als ich befürchtet hatte. Sie hat sich sehr über unseren Besuch gefreut, es genossen, nicht allein zu sein und bekocht zu werden.
Ich habe beschlossen, das Negative nicht mehr auf mich zu beziehen. Das klappt gut. Zum Beispiel lobt meine Mutter das aufwendig gekochte Essen, schließt daran jedoch sofort eine hasserfüllte Tirade über zu klein geschnittenes Gemüse (Brei!) an, das mein Mann ihr beim letzten Mal serviert hätte, wo sie doch dann nichts schmecken würde. So ist es bei ganz vielen Dingen. Die kleinsten Unstimmigkeiten in Bezug auf ihre Bedürfnisse werden mit extremen Abwertungen und Tiraden kommentiert.
Das entspricht wohl ihrer Persönlichkeit, denn es war strukturell schon immer so. Der einzige Unterschied ist, dass in solchen Situationen nun auch viel Verzweilfung aus ihr spricht. Aber vielleicht war das auch früher so. Vielleicht konnte ich es damals nur nicht wahrnehmen, weil ich die gegen mich gewandte Aggression damals nicht auf Distanz halten konnte und dem Drama vollkommen ausgeliefert war. Diesen Hass erneut zu erleben, den sie plötzlich hat, ist mittlerweile vor allem befremdlich für mich, auch wenn es mich als Erwachsene schockiert zu sehen, was ich als Kind aushalten musste.
Die Abwertungen und emotionalen Ausbrüche wegen Nichtigkeiten sind so extrem, dass ich heute als Erwachsene gar nicht mehr umhin komme, es als völlig skurril zu sehen. Ich kann es jetzt mit einem gewissen emotionalen Abstand als Teil einer Unfähigkeit mit Emotionen und eigenen Bedürfnissen umzugehen verstehen, auch wenn es das nicht entschuldigt. Meine Mutter kann zum Beispiel um nichts bitten, sondern versucht über Abwertungen indirekt zu erreichen, dass die Dinge so gemacht werden wie sie das will. Das Muster zu erkennen, hilft mir dabei Distanz zu halten. Und es hilft mir bei der Einordnung meiner Kindheitserlebnisse. Das Negative, die Abwertungen, all das, was mir so viele Scham- und Schuldgefühle beschert hat, hatte in erster Linie mit ihrer Persönlichkeitsstruktur zu tun. Vieles entsprang dieser Unfähigkeit und dem dysfunktionalen jähzornigen Verhalten meiner Mutter. Jetzt an ihrem Lebensende hält dieses Verhalten sie leider vollkommen in für sie endlos sich wiederholenden Enttäuschungen gefangen und führt zu einer großen Verbitterung.
Da meine Mutter ja erst am späten Nachmittag aufsteht, hatten wir die Tage dort für uns. Wir haben den Garten auf Vordermann gebracht, was uns selbst große Freude bereitet hat. Auch meine Mutter hat sich darüber gefreut.
Dennoch ist es nach wie vor schwer damit umzugehen, dass es jeder Zeit ganz aus dem Ruder laufen kann, zumal meine Mutter nachts oft so viel trinkt, dass es zum Filmriss kommt (sie trinkt tatsächlich nun aus kleinen Gläsern, die sie aber, wie hier jemand einmal treffend kommentiert hat, nun öfter nachfüllt ).
Meine Mutter ist während unseres Aufenthaltes einmal gestürzt, zum Glück ohne Verletzung. Ich bin vom Rumpeln aufgewacht und habe ihr wie in meiner Kindheit wieder aufgeholfen. Am nächsten Morgen konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Wir haben eine Pflegerin gesprochen, die gestern kam. Das war ein sehr hilfreiches Gespräch. Sie hat berichtet, wie es so läuft mit der Pflege und betont, dass jederzeit eine extreme Verschlechterung eintreten könne, vor allem was die Demenz betrifft. Sie werden mich dann informieren. Die Pflege ist hervorragend und das gibt mir Sicherheit. Absolut professionell, sie sind klar in den Ansagen, aber zugewandt und verurteilen meine Mutter nicht.
Mein Leben geht weiter und ich bin froh über den größer werdenden emotionalen Abstand zu meiner Mutter und ihrer Situation, auch wenn die Trauer dadurch nicht weg ist. Die Aufenthalte sind deshalb so anstrengend für mich, weil ich wie in der Kindheit angespannt bin...immer in Angst, ihr könnte etwas passieren. Zu Hause habe ich diese Anspannung nun zum Glück nicht mehr (das war nach dem Schock des ersten Wiedersehens nach sehr vielen Jahren so), aber wenn ich dort bin, ist es so extrem, dass ich unter Dauermigräne leide. Ich muss sehr gut haushalten mit meinen Kräften und kann es mir deshalb nicht allzu oft erlauben, dort hinzufahren.
Heute ruhe ich mich aus, werkel ein wenig zu Hause herum und gehe noch in die Physiotherapie.
Viele liebe Grüße Siri