Hallo liebe Forumsgemeinde,
seit ich abstinent lebe, und (v.a. hier im Internet) in der Selbsthilfe tätig bin, begleitet mich die Frage, wie ein trocken lebender Alkoholiker seinen Alltag am besten umstellen kann bzw. muss, um eine stabile, sich-selbst-tragende Abstinenz zu erreichen.
Sehr oft lese und höre ich dann davon, dass sich abstinent lebende Alkoholiker auf keinen Fall "wieder überfordern" wollen, lernen "mehr auf sich selbst zu achten" usw. Vieles geht also tendenziell in die Richtung, dass man sich während der nassen Zeit, sukzessive und systematisch selbst überfordert habe - und dies daher nun (als abstinent lebender Alkoholiker) abstellen wolle.
Ich möchte darüber gerne eine Diskussion anregen.
Meiner Meinung nach ist die Gefahr einer Unterforderung für den trockenen Alkoholiker mindestens genauso gegeben, wenn nicht sogar höher, als die der Überforderung. Denn seien wir mal ehrlich: Natürlich haben wir uns während unserer nassen Zeit überfordert - und zwar solange, bis nichts mehr ging: Wir wollten unsere Sauferei unter einen Hut bringen mit Familie, Arbeit, Freizeit, Freundschafts- und Beziehungspflege, Autofahren usw. Das konnte nicht ewig gutgehen - es musste uns irgendwann überfordern. Lange versuchten wir unsere Alkoholsucht gleichermaßen durch immer massiveren Konsum zu befriedigen und zeitgleich unsere Fassade nach aussen zu wahren. Damit ist man früher oder später ÜBERFORDERT, keine Frage.
Dann aber - an unserem individuellem Tiefpunkt angelangt - haben wir uns entschlossen, diese grauenhafte Ambivalenz aufzulösen - und uns vom todbringenden Ballast des Alkohols zu trennen. Wir brauchten eine Phase der körperlichen Rehabilitation/Genesung/Entgiftung und einen gewisse Anlaufzeit unser Leben neu zu ordnen. Und dann?
Mir kommt es so vor, als ob viele trocken lebenden Alkoholiker davor zurückscheuen, ihre neu gewonnene Freiheit und ihre dazugewonnene Energie und Gesundheit dazu zu nutzen, sich aktiv und engagiert in die verschiedenen Bereiche des Lebens einzubringen: Familie, Beruf, Freiheit. Stattdessen ist vielerorts das Gefühl vorherrschend "bloss sich nicht wieder zu überfordern", "sich nicht zuviel zuzumuten" "mehr Zeit für sich selbst zu haben" usw. Auch wenn da im Einzelfall da was dran sein möge - mir kommt es bei manch einem wie eine Ausrede für die eigene Angst vor, endlich mal durchzustarten, etwas neues anzugehen - sich ganz allgemein etwas zuzutrauen!
Gestern abend viel mir dazu folgendes, bildhaftes Gleichnis ein: Stellen wir uns den Alkoholkranken als einen Marathonläufer vor, der seinen Weg durch den Marathon des Lebens mit einem schweren Rucksack voller spitzer und Steine versucht zurückzulegen. Ganz klar: Im Gegensatz zu den anderen Marathonläufern, die keinen Rucksack mit sich rumschleppen überfordert sich der Alkoholiker. Letzterer wird mit der Zeit immer müder, langsamer, immer schwächer und vereinsamter - weil die meisten um ihm rum die Herausforderungen der Strecke angenommen haben, und sich längst nach vorne verabschiedet haben.
Unser Marathonläufer merkt, dass er so nicht weitermachen kann. Dass er mit seinem Rucksack sein Ziel nicht erreichen wird. Er legt den Rucksack also ab (=hört auf zu trinken). Die neugewonnene Leichtigkeit verunsichert ihn vorerst - und ausserdem schmerzt noch der Rücken und der Rest des Körpers. Nach ein paar ruhigen Schritten bessert sich aber langsam seine Situation. Und er überlegt, ob er nun auch damit beginnen soll, was die anderen Marathonläufer tun - anfangen zu laufen! Er hat aber Angst sich zu überfordern und lässt es daher sein und schleicht weiter vor sich hin. Dabei hat er doch keinen Rucksack mehr! - und könnte laufen. Aber er traut es sich nicht zu.
In dieser Situation - das ist meine Wahrnehmung - befinden sich unzählige trockene Alkoholiker.
Die Gefahr liegt vielleicht darin (um beim bildhaften Vergleich zu bleiben), dass sich unser Marathonläufer, der jetzt zwar ohne Rucksack und gesünder, aber immer noch so langsam wie ein nasser Alkoholiker auf dem Weg, irgendwann denkt - wozu mache ich das eigentlich? Ich bin ja doch nicht schneller/erfolgreicher usw. - und dann sich wieder seinen alten Rucksack umschnallt - also wieder anfängt zu trinken.
Um es auf dem Punkt zu bringen: Ich sehe statt einer Überforderung viel mehr die Gefahr einer Unterforderung, der trockene Alkoholiker mittel- bis langfristig anheim fallen können.
Was haltet ihr davon?
Gruß,
Blizzard