Mein Vater trinkt sich tot

  • Hallo Ihr Lieben.

    Ich habe zwar schon ein paar Antworten verfasst... möchte mich aber trotzdem gerne bei Euch "Kindern" vorstellen.
    Ich bin bald 28 Jahre alt und mein Vater trinkt seitdem ich ihn kenne. Meine Kindheit war ein einziges Desaster, der Vater Säufer, die Mutter depressiv mit hysterischen Zügen. Beide berufstätig, d.h. meine ältere Schwester und ich waren viel und lange alleine zu Hause. Wenn mein Vater von der Arbeit kam, hat er -während er Abendessen gekocht hat- gesoffen, hat schon während der Arbeit seine 7-10 Bier getrunken, stören durfte man ihn nur sehr selten. Kam man in die Küche, gab's entweder anschnauze oder er war freundlich (schätzungsweise war das pegelabhänging).
    Nach dem Essen ist er im Keller verschwunden und hat dort weitergesoffen. Ich nehme an, Schnaps war auch mit dabei. Wenn er voll war, wir Kinder waren meistens schon im Bett, kam er wieder in die Wohnung und hat sich Kopfhörer aufgesetzt und mit seiner Musik mitgejault. Das klang dann oft so, als würde ein Tier gequält werden.
    Die Wochenenden waren die Hölle. Zwangsbesuche in irgendwelchen blöden Freizeitparks (wo wir Kinder uns ohnehin nicht austoben konnten, weil wir von unserer Mutter ständig in irgendwelche Puppenkleider gesteckt wurden- Gott war uns gnädig, wenn diese Flecken hatten). Mein Vater hatte nur Bier im Kopf und wurde stinkig, wenn es nichts zu trinken gab. Die Mutter hat immer nur rumgeschrien und ihn vor allen Leuten zur Sau gemacht.
    Wenn wir nicht in diesen Freizeitparks waren, mußten wir die Eltern meiner Mutter besuchen, die ebenfalls nur gesoffen haben. Es kam oft vor, dass meine Oma total besoffen die Tischdecke mit dem gesamten Essen vom Tisch riss und rumschrie.
    Als sich meine Eltern vor 16 Jahren trennten, ging es bergab mit meinem Vater. Er soff noch mehr und lässt sich nun erst richtig gehen, denn seine zwei Cousins sind nacheinander (ebenfalls am Suff) gestorben. Seine Wohnung sieht total assig aus (braune Wände, alles vergilbt und fertig) und er selbst hat sich halbiert, weil er nichts mehr essen kann und -wie sollte es auch anders sein- nicht zum Arzt geht.
    Es bricht mir das Herz. Ich hänge sehr an meinem Vater und überlege, ob ich ihm nicht einen Brief schreibe in dem ich ihm klarmache, dass er auf mich nicht zählen kann, so lange er weitersäuft.
    Bevor ich vor acht Jahren ziemlich schlimm an Panikattacken erkrankt bin, habe ich ihn jedes Wochenende besucht. Seitdem ich nicht mehr Autofahren kann, sehen wir uns kaum noch.
    Inzwischen geht es mir, was meine Angstzustände betrifft, eigentlich ganz gut. Nur, am vergangenen Freitag habe ich ihn zum ersten Mal seit knapp einem Jahr gesehen- und erstmal eine Panikattacke geschmissen. Er sah so furchtbar aus, kalkweißes Gesicht, kalter Schweiss, zittrig, eingefallen... Einfach zum heulen.
    Ich weiß, ich kann nichts tun. Aber es tut mir sehr weh. Vor allem, seitdem ich hier rumlese, stelle ich fest, wie sehr mich seine Sucht im Griff hat- das war mir nie so bewusst wie heute.

  • hallo ms linda!

    herzlich willkommen bei uns kindern!

    das was du erleben musstest ist schlimm und bedarf an beachtung...hinsehen und lernen zu verstehen was die familienkrankheit alkoholismus mit sich bringt

    AUCH FÜR UNS KINDER,deren kindheit zwar "vorbei"ist,jedoch noch "behandelt"werden will..

    ich wünsche dir hier einen hilfreichen erfahrungsaustausch

    liebe grüsse caro :wink:

    dem was über mich einstürmt,möchte ich gelassen gegenüber stehen...

  • Ich danke Dir, Caro.
    Seitdem ich hier rumlese, geht es mir ziemlich bes****. Mir wird nun bewusst, was all die Jahre Fakt war. Was ich nicht sehen wollte und nun ein-sehen muß. Mein Vater säuft sich tot, weil er alkoholkrank ist. All die Bemühungen der letzten Jahre, ihm ein Leben jenseits von Sauferei und Elend/Selbstmittleid und Zerstörungswut zu zeigen, waren vergebens... Das tut sehr weh. Mehr noch als all seine Beleidigungen, die er mir die ganze Zeit an den Kopf knallte... Ich bin gerade sehr verwirrt, sorry, vmtl. schreibe ich auch etwas wirr.

  • Hallöchen Ms_Linda und herzlich willkommen :)
    Deine Geschichte ähnelt meiner sehr.. mein Vater ist vor fünf Jahren am Suff gestorben und meine Mutter arbeitet daran genauso zu enden! Ich kann deine Hilflosigkeit also vollkommen nach empfinden :cry:

    Ich wünsche dir jedenfalls für deine Zukunft alles erdenklich Gute und tausche dich weiterhin mit anderen aus.. das hilft ungemein :)

    Ganz lieben Gruß! :)

    Manchmal ist das Leben einfach nur grausam :(

  • Hi Kaline.
    Das tut mir sehr leid für Dich :( Ich wünschte, man könnte etwas tun. Gerade wütet der Schmerz total heftig in mir. Er ist doch mein Vater! Ich liebe ihn so sehr... Er ist ja nicht nur der versoffene, alternde Mann sondern auch ein guter Mensch... zumindest der Rest der Persönlichkeit, der noch übrig ist. Schlimm... ganz schlimm. Habe in meiner Tasche einen Brief an ihn, den ich heute geschrieben habe. In dem ich ihm sage, entweder er holt sich Hilfe oder wir sehen uns nicht mehr. Bin mir nicht sicher, ob ich ihn abschicken soll.
    Boah, das ist so hart. Ich bin so froh, das hier Menschen sind, die wissen wie sich das alles anfühlt.

  • Ob du den Brief abschicken sollst oder nicht kann ich dir eigentlich nicht wirklich beantworten.. tut mir leid :cry:
    Wir Kinder stehen auch noch vor der Konfrontation mit unserer Mutter.. wenn du nicht aufhörst, dann sind wir weg.. ich hoffe, wir stehen das alle gemeinsam so durch.. bisher wurde ein Bruder von uns immer wieder weich und durch den Kontakt war man immer wieder eingebunden.. und wenn man diesen Weg wirklich geht, dann muss man es absolut durchziehen!!
    Ja deinen Schmerz verstehe ich nur zu gut.. ich bin allerdings schon einen Schritt weiter und sag mir.. wenn wir alle und die Enkel ihr nicht mal die Augen öffnen und dazu bringen den Scheiss sein zu lassen dann soll sie so weiter machen wie bisher.. dann kann ich nur hoffen, dass es schnell geht!
    Du kannst dir meinen Threat auch ansehen.. vielleicht verstehst du meine Gedanken und kannst dir ein bissel Hilfe daraus ziehen!
    Ganz liebe Grüße!!

    Manchmal ist das Leben einfach nur grausam :(

  • Hi Linda, hier Linde! :wink:

    Herzlich Willkommen nochmal im offenen Bereich, komm erst mal in Ruhe an...!

    Zitat


    stelle ich fest, wie sehr mich seine Sucht im Griff hat- das war mir nie so bewusst wie heute.


    Da hast du was geschrieben, wo du ansetzen kannst. Es ist seine Sucht, er hat sich für sie entschieden und gegen ein lebendiges, verantwortungbewußtes, gesundes Leben. Warum, das weiß nur er. Da gibt es vielleicht uralte Dinge in seiner Biographie, die ihn diesen Weg in die Betäubung haben wählen lassen.

    Es ist seine Entscheidung. Wir Kinder haben da nicht wirklich Einfluß darauf. Der Wunsch zur Veränderung seiner Lebenssituation müßte von ihm kommen.

    Einen Brief zu schreiben ist erst mal für DICH wichtig, um dich zu sortieren und dir klar zu werden, worauf du hinaus willst. Ob du den Brief dann abschickst ist eine ganz andere Sache. Selbst wenn du schreibst

    Zitat

    entweder er holt sich Hilfe oder wir sehen uns nicht mehr.

    heißt das noch lange nicht, daß dein Vater sich davon erreichen läßt und etwas unternimmt. Das sollte dir klar sein, so schmerzhaft das ist.


    Wie schon gesagt, versuche erst mal zur Ruhe zu kommen, die Begegnung nach der langen Zeit war wohl sehr aufwühlend... Gab es dafür eigentlich einen besonderen Anlaß?

    Lieber Gruß, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Hallo Linda,

    nimm' Dir bitte Zeit.. für Dich.. um wieder etwas zur Ruhe zu kommen..

    Der Wunsch ganz tief in Deinem Herzen, daß der Brief bewirkt, daß sich etwas an der Situation, daß sich Dein Vater ändert.. muß durch den Brief nicht in Erfüllung gehen. Das weißt Du sicherlich auch; auch wenn Du etwas ganz anderes hoffst.

    Das ist auch etwas, was uns EKAs ausmacht, die Hoffnung, die uns immer begleitet und all unser verzweifeltes Wünschen, das wir in die Hoffnung legen..

    Komm' etwas zur Ruhe und überleg', ob Du die Enttäuschung, die Du evtl. haben wirst, ertragen kannst.

    Entschuldige die offenen Worte. Aber die Art von Enttäuschung, der Kampf, den DU dann zu kämpfen hast und wirklich konsequent das Gesagte durchzuführen, nämlich ihn nicht mehr zu sehen, den Kampf mußt Du dann kämpfen. Nicht er. Willst Du das?

    Wenn jemand auf einem Sofa sitzt und Du ihm aufhelfen willst, dann geht das nur, wenn er aufstehen will und seinen Hintern ein wenig anhebt. Ich nehme an, daß Du das plakative Beispiel verstehst. Wenn er nicht aufstehen willst, kannst Du noch so an ihm rumzerren, Du wirst ihn nicht vom Sofa hoch bekommen.

    Verzeih', wenn ich mich so offen einmische. Aber ich kann so gut nach voll ziehen, was in Dir vor sich geht. Die Verzweiflung, die Hoffnung, die Ohnmacht und all das.

    Alles Liebe
    Hanna

  • Guten Morgen Ihr Lieben.

    Vielen Dank für Euer Feedback!
    Ja, ich hab' gestern wirklich ganz viel und ganz wirr geschrieben. Ich war so aufgewühlt als ich dieses Forum hier gefunden habe und mir all Euere Geschichten durchgelesen habe.
    @Linde: Mein Vater hatte am Freitag Geburtstag, das war der Grund warum ich ihn besucht habe. Da er knapp 90 km von mir entfernt wohnt, konnte ich mir in den letzten Jahren eine räumliche Distanz schaffen. Eine emotionale gar nicht. Ich habe mich in den letzten Monaten meiner Psychotherapie eigentlich immer mit meiner Mutter, ihren Depressionen und ihrem z.T. schwer nachvollziehbaren Verhalten beschäftigt. Mein Vater ging eigentlich ziemlich unter. Offensichtlich hat da mein Verdrängungsmechanismus sehr gut funktioniert... Man hatte ihm vor 2 Jahren den Führerschein abgenommen und er war so am Boden zerstört, dass er mir versprochen hatte nichts mehr zu trinken. Da ich zu der Zeit im Ausland gelebt habe, habe ich ihn zu mir eingeladen. Seinen Flug bezahlt und mich tierisch auf ihn gefreut. Und als er kam, hatte er nur eine Sorge: Stoff! (Alkohol) Alles war schlecht, meine Wohnung, mein Freund, mein Job, das Land an sich... Ich erinnere mich, ich habe ihn nur angeschrien die ganze Zeit und war heidenfroh, als sich unsere Wege wieder trennten. Seit dem haben wir kaum mehr Kontakt. Sehen uns einmal im Jahr und telefonieren vielleicht 1-2x. Sonst nichts mehr. Als ich ihn am Freitag sah, ist mir erstmal bewußt geworden, wie sehr ich ihn vermisse. Wie sehr ich an ihm hing, als ich Kind war und wie schlimm diese ganze Situation ist.
    Sicherlich habt Ihr recht. Ich darf keine Hoffnung mehr haben, dass irgendwas besser wird... dass er aufhört zu Saufen... dass er der Vater wird, den ich mir so sehr wünsche... Gebt mir ein paar Tage, diese Gefühle waren verschüttet und ich muß erstmal damit klarkommen. Ich bin sehr froh, dass es dieses Forum gibt.

  • Zitat von kaline


    Du kannst dir meinen Threat auch ansehen.. vielleicht verstehst du meine Gedanken und kannst dir ein bissel Hilfe daraus ziehen!

    Hab ich gemacht. Hätte am liebsten geheult :cry:

  • Du merkst auch die Zusammenhänge zwischen unseren Geschichten? Ich merke überall Paralellen und zum Teil macht es mich ebenfalls traurig aber auch wieder froh, dass man nicht alleine ist mit dem, was man erlebt hat!!
    Mir tut es wahnsinnig gut hier zu schreiben oder auch mal nur zu lesen.. nimm dir Zeit und verarbeite es für dich.. egal wie lange es dauert!

    Ganz liebe Grüße kaline :)

    Manchmal ist das Leben einfach nur grausam :(

  • Hi Linda,

    die Gedanken der Eltern kreisen ausschließlich ums Suchtmittel, beim Alkoholiker also um den Alkohol, beim co-abhängigen Ehepartner um den trinkenden Ehemann bzw. die trinkende Ehefrau. Da ist kein Platz mehr für uns Kinder.

    Ja klar, paar Sprüche, manchmal Geld oder was auch immer, aber eine echte Beziehung können sie nimmer leben. Ich habe Jahre damit zugebracht und gedacht: da muß doch noch was kommen.... Und es kam einfach nichts, oder nicht das, was ich mir als Tocher erhoffte. Da habe ich jetzt mit abgeschlossen. Sie haben alles gegeben, was sie konnten, mehr ging nicht. Warum das so ist, liegt in den Tiefen ihrer Biographie begründet.

    Tränen dürfen fließen, Waschanlage für die kleine hungrig gebliebene Kinderseele...

    Ich drück dich mal, wenn ich darf.


    Schönen Abend, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Zitat von Linde66

    Ja klar, paar Sprüche, manchmal Geld oder was auch immer, aber eine echte Beziehung können sie nimmer leben. Ich habe Jahre damit zugebracht und gedacht: da muß doch noch was kommen.... Und es kam einfach nichts, oder nicht das, was ich mir als Tocher erhoffte. Da habe ich jetzt mit abgeschlossen. Sie haben alles gegeben, was sie konnten, mehr ging nicht. Warum das so ist, liegt in den Tiefen ihrer Biographie begründet.
    Ich drück dich mal, wenn ich darf.

    Vielen Dank, liebe Linde. du sprichst mir aus der Seele. Ich weiß, daß ich mich damit abfinden muß... ich weiß auch, daß mein Vater als Kind und Jugendlicher sehr unter seiner Familiensituation gelitten hat und schon früh damit anfing, sich regelmäßig zu besaufen. Damit beginnt der Teufelskreis. Aber er ist ja kein dummer Mensch! Deswegen verstehe ich nicht, warum er nicht einfach seine Familie als Rettungsanker nahm und einfach versuchte es besser zu machen als er es erlebt hat!? Er hätte doch alles haben können!! Stattdessen hat er jedwede Möglichkeit ein schönes Leben zu führen zerstört durch seine Sauferei. Und nun ist er ein abgemagertes, ausgezehrtes Häufchen Elend mit zig Krankheiten und ertrinkt nach wie vor im Selbstmittleid... Blind für meine Tränen oder die meiner Schwester. Mein Verstand scheint nicht über die Kapazitäten zu verfügen das nachvollziehen zu können... :(
    Ich drück' dich zurück!

  • Hi Linda!

    Zitat

    Aber er ist ja kein dummer Mensch! Deswegen verstehe ich nicht, ...


    Wenn intelligente Menschen Sucht verhindern könnten, gäbe es keine alkoholkranken Professoren...

    Zitat

    Mein Verstand scheint nicht über die Kapazitäten zu verfügen das nachvollziehen zu können.


    Du könntest eine IQ von xyz haben, es gibt Dinge, die sprengen den Rahmen. Vielleicht geht es auch nicht darum es zu verstehen oder nachzuvollziehen, sondern es anzunehmen als das was es ist, eine Krankheit.

    Für einen Alkoholiker kann die Familie auch nicht der Rettungsanker sein, die Familie wäre damit heillos überfordert. Dafür gibt es professionelle, ärztliche, therapeutische Begleitung - wenn der Alkoholiker das von sich aus annehmen will.

    Als Familienmitglied kommt man sehr schnell in die Rolle des Co-Abhängigen, man meint helfen zu können bzw. helfen zu müssen. Kann man aber nicht, man kreist nur noch um den Alkoholiker und entfernt sich immer mehr von sich selber. Also aufpassen...

    Danke für's Drücken! :wink:

    Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Mein Vater war nun im Krankenhaus und hat einen Herzkatheter bekommen. Diagnose: Das Herz hat sich vergrößert, die Arterien sind ziemlich verkalkt. Wenn er seinen Lebensstil nicht ändert, hat er maximal noch 5 Jahre zu leben. Wenn überhaupt. Im Moment geht es ihm ziemlich schlecht. Er hat oft Atemnot und kann kaum etwas essen...:cry:
    Bin am Dienstag mit ihm ins Krankenhaus gefahren und habe ihm ein bisschen seelische Unterstützung geben können.
    Den Kontakt über zwei Jahre abzubrechen, war keine gute Idee. Aber ich bin sehr froh, daß ich das jetzt erkannt habe. Mache mir sehr große Sorgen und bin sehr, sehr traurig.
    Ich weiß, es ist alles seine Sache, seine Entscheidung, sein Leben. Es tut nur sehr weh. Verdammt sogar.
    Gruß, Linda

  • Hallo an euch.
    Ich habe mich 2009 schon hier angemeldet und ein paar Beiträge bezüglich meines Vaters verfasst, dann aber wieder aufgegeben. Ich kann nicht sagen, warum.
    Vielleicht weil ich es selbst nicht ertragen konnte, vielleicht aber auch weil man nur ein gewisses Kontigent an Kraft zur Verfügung hat und mein eigenes Leben zu diesem Zeitraum eine Katastrophe war...
    Mein Vater war alkoholkrank und hat getrunken seit dem ich ihn kannte. Ich weiss nicht, ob ich es als „Glück“ beschreiben kann, dass er weder handgreiflich noch aggressiv zu mir oder meiner Schwester war. Wenn ich euere Schicksale so lese, erfüllt mich eine gewisse Dankbarkeit eben dafür. Mein Vater war „nur“ dem Alkohol verfallen und lebte in seiner eigenen Welt. Wenn er aus dieser herauskam, war er ein wunderbarer Mensch, der mit mir als Kind Drachensteigen ging, mit mir als Jugendliche Musik hörte (auch wenn ihm mein Musikgeschmack nicht sonderlich gefiel), der mich auf ein Konzert meiner Lieblingsband fuhr und draussen in der Kälte auf mich wartete, weil es nur noch eine Karte auf dem Schwarzmarkt gegeben hatte und mit dem man gute Gespräche führen konnte.
    Nach und nach ging es bergab mit ihm. Er wurde krank. Zuerst die Gelenke, dann kam Gicht, schliesslich eine Herzinsuffizienz. Er lachte das oft weg. Betitelte seinen Hausarzt als Kinderarzt. Begab sich selten in ärztliche Behandlung. Die Folgen waren ein Desaster. 2007 der erste Herzinfarkt (noch nicht einmal dann hat er es ernst genommen), bekam immer schlechter Luft, sah zunehmends immer fertiger aus.
    Im letzten Jahr wurde ihm eine Herzkapazität von nur noch 23% diagnostiziert. Er schien zeitweilig einsichtig, vermutlich je nach Pegel. Liess sich einen Schrittmacher einsetzen und dachte, er bräuchte von nun ab keine Medikamente mehr zu nehmen. Die hatte er ohnehin nur eingenommen, wenn das Wasser in den Körper kam und es ihm schlechter ging. Am 23.10. wurde er beschwerdefrei aus dem Krankenhaus entlassen.
    Unser letztes Telefonat war am 28.01., wo er mir mitteilte das es ihm sehr schlecht ging. Er konnte kaum reden, wurde ständig von Hustenanfällen gebeutelt. Ich weinte. Das habe ich noch nie zuvor getan. Und ich hatte Angst. Entsetzliche Angst. Bot ihm an zu kommen, was er ablehnte.
    Am 01.02. rief mich die Assistenzärztin an und erzählte mir, er wollte aus dem Krankenhaus abhauen, wäre mit dem Auto in den Graben gefahren. Die Polizei musste ihn mit Hilfe eines Psychologen dazu zwingen ins Krankenhaus zurückzugehen. Er war inzwischen schon blau angelaufen, niemand wusste genau, wie lange er im Auto sass. Kaum Klamotten an. Ein Wunder sowieso, dass er es in seinem Zustand geschafft hatte, sich anzuziehen und sich zum Auto zu schleppen. Am selben Abend sackten seine Werte in den Keller und er musste ins künstliche Koma versetzt werden. Die Oberärztin rief mich am Samstagmorgen an und teilte mir mit, es stünde sehr schlecht um ihn und ich sollte mich auf den Weg machen.
    Ich wohne seit 3 Jahren im Ausland, war an diesem Wochenende mit meinem Freund in einer 900 km entfernten Stadt; da er ein Konzert spielen sollte und wir uns eine Auszeit nehmen wollten. Das ist aber eine andere Geschichte.
    Wir haben nach dem Anruf keinen vernünftigen Flug zurück bekommen, eine Bahnreise hätte 15 Std. gedauert. Letzte Rettung ein Mietwagen. Wir fuhren knapp 11 Std. über verschneite Bergpässe, schliefen gefühlte 5 Minuten und flogen am Sonntagmorgen endlich nach Deutschland. Der Flieger hatte ein technisches Problem und ich war dem Nervenzusammenbruch nahe. Glücklicherweise ging aber alles gut und ich stand knapp 6 Std. später endlich an seinem Bett.
    Was für ein Anblick! Im ersten Augenblick sah er richtig gut aus. Wieder kräftig, eine gesunde Gesichtsfarbe. Die letzten Male war er immer aschfahl im Gesicht, abgemagert und sah einfach... alt aus.
    Das Wasser im Körper gab ihm diesen „starken, kräftigen“ Anblick. Seine Füsse sahen aus wie die eines Elefanten. Die Hände waren ebenfalls angeschwollen.
    Und die Worte der Ärztin waren vernichtend. Es sah schlecht aus. Zwar war er stabil aber die Hoffnung, dass er durchkommt war gering.
    Dennoch, die Hoffnung stirbt zuletzt, oder?!
    Ich war fast jeden Tag bei ihm. Einmal war er wach und erkannte mich. Er wollte etwas sagen. Aber es ging nicht, wegen dem Beatmungsschlauch. Sie mussten ihn in einen tieferen Schlaf versetzen, weil sein Puls auf 155 hochschoss und das für sein Herz lebensgefährlich war.
    Wir hörten Musik mit ihm, ich sprach mit ihm. Hielt seine Hand. Weinte manchmal. Hoffte.
    Als wir ihn am 13.02. besuchten, wusste ich es. Ich konnte nicht sagen, warum. Wollte es auch nicht laut sagen. Alles, was man nicht sagt, ist auch nicht wahr.
    Es war immer schwer zu gehen, an diesem Tag besonders. Ich schlief noch schlechter als sonst, wachte oft auf, das Handy lag ja immer neben mir.
    Rief am nächsten morgen, wie jeden Tag, unverzüglich auf der Intensivstation an. Man wollte mir dort keine Auskunft geben, verwies mich an die Ärztin. Mir war schlecht vor Angst. Richtig schlecht.
    Die Ärztin sagte mir, er hätte über Nacht eine Lungenembolie bekommen. Man würde ihn mit Blutverdünner therapieren, es sah nicht gut aus . Ich sollte in 2 Stunden nochmal anrufen.
    Eine Stunde konnte ich warten. Dann plötzlich bekam ich den Impuls mich fertig zu machen. Sofort und ohne Umschweife. Dennoch hatte ich das Gefühl, mich in Zeitlupe anzuziehen. In Zeitlupe stiegen wir ins Auto. Das Krankenhaus war knapp 70 km entfernt. Keine Autobahn, nur Bundesstrasse. 20 km vor dem Ziel rief die Ärztin an. Sie war erleichtert dass wir schon unterwegs waren. Es sah sehr schlecht aus. Man reanimierte ihn inzwischen, er hatte Herzrhythmusstörungen.
    Ich konnte kaum aus dem Auto aussteigen. Musste mich zwingen zur Intensivstation zu gehen. Nach dem Gespräch mit der Ärztin gingen wir zu ihm. Er war wie durch ein Wunder wieder stabil. Dennoch war da Ende nahe. Wir waren gewarnt worden, dass das Bild schrecklich sei.
    Schrecklich ist kein Wort für dieses Bild. Mir fällt bis heute keines ein.
    Ich wollte seine Hand nehmen und schob das weisse Laken zurück, doch der Körper war ganz blau. Ich konnte nicht. Konnte mich nur verabschieden, irgendwie. Küsste ihn ein letztes Mal und rannte raus. Und schämte mich, dass ich ihn auch jetzt alleine lassen würde. Aber ich konnte einfach nicht bleiben.
    Eine gefühlte Ewigkeit später kam der Pfleger raus und teilte mir mit, dass mein Vater verstorben war.
    Nach wie vor kann ich es nicht glauben. Auch nicht, als ich noch einmal hineinging um mich nochmal zu verabschieden. Man bekommt das immer geraten, vor allen Dingen dann, wenn das vorherige Bild ein grausames war. Da lag er nun. Friedlich sah er vermutlich aus, weil mein Freund das sagte. Mir gab das Bild nichts. Ich hatte nur das vorherige im Kopf. Habe ich nach wie vor.
    Ich kann im Moment nicht sagen, wie es mir geht. Ich warte immer noch darauf, dass das alles nur ein Albtraum ist und ich darf aufwachen und will dann alles besser machen. Will ihn nicht mehr aus meinem Leben ausschneiden, ihn nicht mehr hassen und wütend auf ihn sein, weil er lieber säuft anstatt zum Arzt zu gehen. Weil er sooft dummes Zeug redet und nur Vorwürfe macht. Ich muss jetzt erstmal aufhören zu schreiben, werde von einem Heulkrampf nach dem anderen geschüttelt.
    Lg

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