Sucht – Alkoholismus – Moral
Hallo zusammen,
mit diesem Beitrag möchte ich meine Erfahrungen und die sich daraus ergebene, heutige (meine) Perspektive auf die o.g. Themen zusammenfassen.
Einige dieser Erfahrungen habe ich auch schon in früheren Beiträgen geschildert.
Alkoholismus ist für mich eine Form von Suchterkrankung.
Der für mich wesentliche Kern von Alkoholismus besteht darin, dass ich Alkohol nicht kontrolliert trinken kann, und zwar unabhängig von meiner Lebensgeschichte und meiner aktuellen Lebenssituation.
Um diese Tatsache anzuerkennen habe ich 10 Jahre gebraucht. 10 Jahre von den ersten Gedanken über mein Trinkverhalten bis zur endgültigen Kapitulation. Am Ende habe ich rund um die Uhr getrunken. Alkohol hatte für mich fast den selben Stellenwert wie Atmen. Auch nur einen Tag auf Alkohol zu verzichten, dass war für mich unvorstellbar.
Auslöser für meine Kapitulation war ein Entzugsdelir, auf dessen schreckliche Einzelheiten ich an dieser Stelle nicht eingehen möchte.
Ich weiß nicht warum, aber ich war von Beginn meiner Trockenheit an davon überzeugt, dass meine Lebensgeschichte oder meine aktuelle Lebenssituation nichts mit meiner Unfähigkeit Alkohol kontrolliert trinken zu können zu tun haben.
Mit der Tatsache, dass ich süchtig geworden bin haben sie allerdings etwas zu tun. Im Laufe der letzten Jahre ist mir mehr und mehr klar geworden, dass Sucht eine Abwehr-, Verdrängungs- und Schutzkrankheit ist.
Mit meinem Suchtverhalten habe ich Anteile in mir abgewehrt und verdrängt, die ich nicht sehen wollte/konnte. Ich habe mich vor einer Auseinandersetzung mit diesen Themen geschützt.
Ich habe den unbewussten Weg der Sucht gewählt.
Um es nochmal klar zu sagen:
Die Unfähigkeit Alkohol kontrolliert trinken zu können ist für mich das Eine.
Die Entwicklung (m)einer Suchterkrankung ist das Andere.
Ich trenne diese beide Aspekte strikt voneinander.
Für mich gibt es keine Kausalität zwischen „schwieriger Lebensgeschichte/Lebenssituation“ und „viel Alkohol trinken“.
Es gibt sehr viele Menschen, die weitaus schwierigere Lebensgeschichten/Lebenssituationen hatten bzw. haben und die deshalb nicht alle Alkoholiker geworden sind. Sie haben möglicherweise andere (Sucht)erkrankungen entwickelt, aber es sind eben nicht alle Alkoholiker geworden.
Zum Thema „Moral“:
Häufiger lese und ich höre ich, im Zusammenhang mit Berichten über die nasse Zeit von jetzt trockenen Alkoholikern, Sätze wie diese:
- Ich wollte einfach saufen
- Ich bin geflüchtet, davongelaufen, etc.
In diesem Sinne sind die (noch) Trinkenden allesamt „Säufer“, „Weglaufende“ und „Flüchtende“. Hinzu kommen dann noch Begriffe wie „Lügner“, „Schauspieler“, etc.
Wenn trockene Alkoholiker diese Begriffe verwenden, dann tragen sie m.E. mit dazu bei, dass das Bild von Alkoholikern in der Gesellschaft so bleibt wie es weitverbreitet ist: willenlose Säufer, die vor dem Leben davon laufen.
Interessanterweise werden bei anderen Suchtformen, wie Arbeitssucht, Kaufsucht, Geltungssucht, etc. nicht so abwertende Begriffe verwendet, obwohl die Symptome und Verhaltensweisen sich ja stark ähneln.
Vielleicht trägt auch dieses Bild von „willenlosen Säufern“ mit dazu bei, dass viele so große Scham dabei empfinden sich ihre Alkoholsucht einzugestehen.
Würde man Alkoholsucht schlicht auf das Faktum herunterbrechen, dass es Menschen gibt, die Alkohol nicht kontrolliert trinken können, dann würden sich m.E. die vielen moralischen Kategorisierungen zumindest abschwächen.
Und wir könnten uns auf das fokussieren, worum es bei einer Suchterkrankung m.E. im Kern geht:
Um Abwehr und Verdrängung von belastenden Lebensereignissen und Anteilen unserer Persönlichkeit.
Das gilt dann auch für die so genannten workoholics und alle anderen Suchterkrankten.
Um es mal etwas pathetisch zu formulieren:
Wenn wir alle etwas mehr Mut hätten unsere gesamten Anteile zu leben, wir alle sozusagen etwas „bunter“ wären, statt uns an den bestehenden Normen (sprich: dem Normalen) zu orientieren, dann gäbe es m.E. auch weniger Suchterkrankungen.
In diesem Sinne möchte ich also nicht „normaler“ werden, sondern „bunter“.
LG Manfred