ein ständiger Kampf mit mir selbst

  • Hallo Rakel,

    heute ist hier im Forum offenbar recht wenig los, wunder Dich also nicht, wenn hier noch keine Einträge stehen.

    Dann mach ich mal den Anfang, auch wenn ich Dir leider nicht mit Parallelen in meiner Lebensgeschichte dienen kann.

    Wenn man mit grade mal 26 sagen kann, daß man sein halbes Leben gesoffen hat, ist das tragisch. Andererseits bist Du schon mit 26 Jahren bereit, den Alkohol hinter Dir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Das ist doch erstmal positiv.

    Du schreibst, Du kämpfst gegen Deine Dämonen und gegen den Alkohol...dabei geh ich mal davon aus, daß Du den Alkohol zunächst als eine Art Medizin gegen Deine Dämonen verwendet hast.

    Woher kommt es, daß Du den Tod Deines Vaters immer noch nicht verarbeiten konntest (oder vielleicht auch nicht wolltest) ? Und woher kommt denn Dein Selbsthaß ?

    Du schreibst außerdem, Du bist bis auf zwei Rückfälle trocken geblieben...zwei Rückfälle innerhalb eines Jahres sind allerdings nicht ganz ohne. Gab es spezielle Auslöser für die Rückfälle ? Oder ich frag mal anders rum:
    Was unternimmst Du denn, um trocken zu bleiben ?

    Nochmal herzlich Willkommen

    LG Andreas

  • Hallo Rakel,

    erst mal herzlich Willkommen hier.

    Bereits heute am frühen Nachmittag habe ich Deinen Beitrag gelesen und bin nun erst wieder online. Ich habe im Laufe des Nachmittages oft an Dich denken müssen, da mich Deine Geschichte bewegt und ich einige „Parallelen“ bei uns sehen kann.

    Es tut mir leid, dass Du Deinen Vater so früh verloren hast.
    Ich habe meine Mutter vor 9 Jahren verloren und mir geht es wie Dir … ich kann damit einfach nicht umgehen.
    Sobald es mir mal wieder bewusst wird, spüre ich so einen starken Schmerz, mir wird dann regelrecht schwindelig und automatisch schreie ich innerlich NEIN!!!! Und wehre mich mit aller Kraft gegen diesen Gedanken der die Wahrheit sagt. Seit 9 Jahren verdränge ich die Wahrheit. Gerade jetzt, wo ich darüber schreibe halte ich innerlich großen Abstand zum Erlebten. Aber manchmal passiert es auch, dass mir das nicht so gut gelingt … dann höre ich das Wort „Mutter“ und sofort breche ich zusammen. Um den Todestag und Ihren Geburtstag herum (Juli-Aug) geht es mir jedes Jahr sehr schlecht… da gelingt es mir einfach nicht so gut, es wegzuschieben. Ich weiß, dass das nicht der richtige Weg ist, aber ich bin nicht in der Lage da ranzugehen … Ich denke mir, dass ich das irgendwann machen MUSS, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich habe Angst davor. Traust Du Dich auch nicht oder was ist das bei Dir?

    Auch Dein exzessiver Lebensstil, der Selbsthass erinnert mich stark an das Leben, das ich geführt habe, bevor ich meinen Mann kennengelernt habe …

    Wie Andreas schon fragt, würd mich auch interessieren, wie Du es geschafft hast in den zwei Jahren abstinent zu bleiben und in welchen Situationen die Rückfälle kamen? Was möchtest Du in Zukunft anders machen, damit so was nicht mehr passiert?

    Ich bin noch nicht allzu lange abstinent – noch keine 4 Monate – aber ich bin es gerne und auch wenn es nicht immer leicht ist, das Forum hier gibt mir die Unterstützung und den Rückhalt den ich brauche. Ich hoffe, dass ich noch öfter von Dir lesen werde.

    LG
    Julia

  • hallo rakel

    hm, die willst in die pädiatrie gehen, dann weißt du sicher auch wie wichtig urvertrauen ist. wenn du das nie aufbauen konntest, weil dir da vieles verweigert wurde, dann hast du auch schon einen ganz guten anfangspunkt. vielleicht kannst du die trauer nicht zulassen weil sie tief in dir mit einer menge wut verbunden ist und du diesen widerspruch irgendwie nicht leben kannst. in deinem angestrebten job ist auch einiges an psychologie mit drin, nimm dieses wissen um mal zu gucken wie das bei dir gelaufen ist. und dann erlaube dir wütend zu sein. das dir so elementare dinge verweigert wurden. mir hat es sehr geholfen mal so richtig sauer auf mutter zu sein. klar liebe ich sie trotzdem, aber mir hilft es eben über die fehler die sie gemacht hat mal so richtig zu wettern. dadurch kriege ich luft und kann dann auch dinge in angriff nehmen die daraus resultierend falsch gelaufen sind bei mir. einfach mal begreifen das du ein recht dazu hast kritik zu üben und wütend zu sein, auf deine eltern, nicht auf dich, das hilft. damit kannst du arbeiten. wut zu haben schließt ja liebe nicht konsequent aus.

    doro

    Alkohol ist ein prima lösungsmittel es löst familien arbeitsverhältnisse freundeskreise und hirnzellen auf.
    trocken seit 18.10.2001

  • Moin Rakel,

    verschrecken kann man in diesem Forum wohl kaum mehr jemanden...da stehen mittlerweile so viele fürchterliche Geschichten, daß mir persönlich meine eigenen Probleme geradezu winzig vorkommen.

    In Deinem Post finde ich zwei interessante Punkte, vermutlich sogar drei, die man aus meiner Sicht etwas näher beleuchten sollte.

    Zunächst mal die Tatsache, daß Du Dich schon mit 13 geritzt und Alkohol konsumiert hast:

    Ist das evtl. dieser Tatsache geschuldet, daß Deine Eltern extrem ehrgeizig waren und man es ihnen nie recht machen konnte ? Daß sie Dir als Kind nie sagen konnten, daß sie Dich einfach nur lieben ? Der Alkohol und das Ritzen sozusagen als Bestrafung dafür, daß Du ihren Ansprüchen nicht genügt hast und sie Dich deshalb nicht lieben konnten ?

    Meine Eltern haben mir als Kind auch nie gesagt, daß sie mich lieben...und ich selbst habe meinen Kindern wohl auch viel zu selten vermittelt, daß ich sie liebe. Aber ist es tatsächlich so, daß es normal ist, daß die Eltern das machen ? Konkret sagen, daß sie das eigene Kind lieben ? Oder machen wir uns evtl. nur was vor und die Mehrzahl der Eltern ist nicht in der Lage, die Gefühle klar und deutlich auszudrücken ?

    Mein Großer hatte als Jugendlicher mal einen schweren Unfall mit dem Fahrrad und mein Kleiner war dabei und hat bei mir zuhause angerufen...nach seinen völlig verheulten Infos am Telefon mußte ich mit dem Schlimmsten rechnen und ich kann dieses Gefühl auch heute noch nicht beschreiben...als ob einem von einer Sekunde auf die andere die eigene Lebensgrundlage weggezogen wird...als ob das eigene Leben vorbei wäre. Das hat mir z.B. gezeigt, wie viel mir mein Großer bedeutet und ich selbst wußte um meine Gefühle...leider ticken wir zwei ziemlich ähnlich und er hält mit seinen Gefühlen ebenso hinter dem Berg wie ich und ich konnte ihm nie wirklich sagen, wie sehr mein eigenes Leben davon abhing, daß er wieder gesund werden würde. Ich fand es egoistisch, dabei hätte ein einfacher Satz "Ich liebe Dich" genügt, um all das auszudrücken...

    Was ich sagen will:

    Nur weil Väter diesen Satz nicht oder nur selten sagen, heißt das noch lange nicht, daß es nicht so ist.

    Was Dir ganz sicher schwer zu schaffen macht, ist die Tatsache, daß diese eine Chance, Dich mit Deinem Vater vor seinem Tod auszuplaudern, nie mehr wiederkommen wird...wobei das so nicht richtig ist...das Gespräch kann durchaus noch stattfinden...imaginär, versteht sich.
    Vielleicht kommt Dein Selbsthass auch daher, daß Du diese Chance hast verstreichen lassen...aber wer bitte könnte Dir das übelnehmen ? Wie kann man von Dir erwarten, Deine Gefühle zu zeigen, wenn man es Dir gegenüber nie gemacht hat ? Du trägst daran sicher keine Schuld.

    Tja, was mach ich, um abstinent zu bleiben...genaugenommen dasselbe wie Du...ich versuche, Extremsituationen aus dem Weg zu gehen. Mein Leben war vor meiner Abstinenz auch eine ständige Berg- und Talfahrt und ich dachte immer, ohne dieses Auf und Ab würde es mir fürchterlich langweilig werden, ich würde das Leben nicht mehr richtig spüren können. Das war, um es kurz zu machen, völliger Blödsinn. Wirklich leben tu ich erst, seit ich nicht mehr trinke, weil ich nun so viele Projekte durchziehe, die ich im Suff nie hätte managen können. Die Schwerpunkte verschieben sich, ohne daß das Leben langweilig ist. Ganz im Gegenteil...man kann viel mehr erleben, wenn abstinent ist...und das Beste ist, daß man sich sogar noch dran erinnert :)

    Was für Dich wirklich wichtig zu sein scheint, ist diese Spitzen nach oben und unten auszugleichen...auch emotionale Menschen können das ohne den Verlust von Lebensqualität und ohne das eigene ICH verbiegen zu müssen.

    Denn diese Frage hat sich z.B. mir selbst immer wieder gestellt:

    Bleibe ich als Abstinenzler noch der, der ich eigentlich mal war ? Dabei war doch eher die Frage "War ich überhaupt so oder hat mich der Alkohol nur so gemacht ?"
    Nun, nach knapp einem Jahr Abstinenz hat sich die Spreu vom Weizen einigermassen getrennt. Ich bin nicht mehr der ständig lachende, nach außen hin immer gut gelaunte Mensch. Ich bin ernster geworden, hinterfrage Dinge. Allerdings bin ich auch nicht mehr so gleichgültig wie vorher...etwas plakativ gesprochen spüre ich wieder was, spüre, wer ich selber bin...und allein die Tatsache, daß ich das nur dann kann, wenn ich nicht saufe, schiebt dem Alkohol einen gewaltigen Riegel vor. Alkoholfreies Umfeld gehört ebenso dazu wie gewisse Vorsichtsmaßnahmen (z.B. Notfallkoffer, in dem bei mir inzwischen einige Dinge sind, die v.a. abschreckend wirken sollen, Totalabstürze, peinliche Situationen).
    Am Wichtigsten aber ist mir (und das klingt aus meiner Sicht jetzt schon etwas seltsam) der ständige Kontakt hier mit anderen Abstinenten und Langzeittrockenen geworden. Ich schau hier täglich rein, lese bei dem ein oder anderen. Alleine die Tatsache, hier täglich aufzuschlagen, läßt mich wachsam sein, erinnert mich daran, daß mein jetziges Leben keine Selbstverständlichkeit ist. Für mich ist das hier meine SHG geworden, trotz Startschwierigkeiten.

    Puh, das ist jetzt ein ellenlanger Aufsatz geworden und ich fürchte, ich hab mehr über mich geschrieben als Dir wirklich weiterzuhelfen.

    Beim nächsten Mal werde ich das "Ich" etwas zurücknehmen...versprochen :)

    Wünsch Dir ne schöne Zeit und alles Gute

    LG Andreas

  • Edit:

    Mir ist noch was eingefallen:

    Es hat mir selbst sehr viel gebracht, mich komplett zu outen...d.h. nicht, daß man jedem auf die Nase bindet, daß man Alkoholiker ist. Aber ich habe keine Ausreden mehr gesucht, sondern auf Nachfragen konkret gesagt, daß ich überhaupt keinen Alkohol mehr trinke, weil ich trocken bin. Das hatte zwei positive Effekte:

    Erstens gab es für mich kein Schlupfloch mehr...die Personen um mich rum wußten, wie es ausschaut.
    Der Druck, irgendwas erzählen zu müssen, war ebenfalls weg.
    Gleichzeitig steigt mit jeder Aussage "ich bin trocken" automatisch die Selbstannahme...und die der eigenen Krankheit.

    Kleiner Tipp noch:

    Schmöker Dich mal durch die Threads der Langzeittrockenen...dort gibt es wirklich viele lesenswerte Dinge und auch Tipps und Tricks, die einem sofort weiterhelfen.

    LG Andreas

  • Liebe Rakel,

    wie geht es Dir heute ?

    Du fragst, ob ich immer mehr getrunken habe, zu „der schlimmen Zeit“. Na klar, da habe ich mich regelmäßig fast besinnungslos betäubt. Weißt Du, in diesem Jahr bin ich genau zur dieser Zeit hier aufgeschlagen und hab es mit Hilfe der lieben Menschen hier geschafft, es zum ersten Mal nüchtern zu erleben...

    Genau wie Andreas schon schreibt ist auch für mich das Forum zu einem sehr wichtigen Teil meines Lebens geworden. Es ist ein Teil meines Trockenfundamentes - meine tägliche Dosis Forum. Auch wenn ich es zeitlich nicht immer schaffe zu schreiben, wenigstens ein paar Minuten lesen, ist meistens drin… Das tut mir ungemein gut, es ist Jedes Mal ein bißchen wie „nach Hause kommen“ … :wink:


    Ansonsten habe ich hier gute Strategien für mich entwickeln können, die ich anwende sobald ich Suchtdruck bekomme (z.B. seeeeeeehr viel Wasser trinken – das hat mich oft gerettet). Risikominimierung steht auch ganz oben an, wobei auch ich vor „Alltagsfehlern“ nicht gefeit bin. Schau Dir mal die Grundbausteine an, auch da findest Du viele Hilfreiche Hinweise.

    Ich finde es gut, dass Du nun gleich offen sagst, dass Du nichts trinkst. Du hast auch sonst tolle Methoden für Dich entwickelt ... naja ... bis auf das Rauchen :wink: Aber auch das ist doch ok, solange es Dir hilft abstinent zu bleiben.

    Deinen näheren Bekannten solltest Du allerdings offen und ehrlich gegenüber sein und nicht die Magengeschichte "auftischen". Das schließt Hinter(hältige)türchen und wie Andreas das so schön ausgedrückt hat, es steigert die Akzeptanz sich selbst und der Krankheit gegenüber.
    Seinem Tipp für Dich, Dich hier in Ruhe bei den erfahrenen Weggefährten einzulesen, kann ich nur beipflichten … mir persönlich half und hilft das auch immer sehr.

    Liebe Rakel, ich hoffe Dir geht es gut, ich freue mich wieder von Dir zu lesen und lass dir viele Grüße hier.

    Julia

  • Zitat von Rakel

    Lieber Andreas,

    vielen Dank für deine Antwort, ich bin fast überrascht dass du mich schon so verstanden hast! Ich bitte Dich, erzähle weiter von Dir, das hilft mir wirklich sehr! Du beschreibst genau die Gefühle und Ängste die ich habe:

    Ich war immer ein Party-Mensch, das war Teil meiner Identität, jedenfalls dachte ich das. Ich habe so viel und so gerne gefeiert, war dann immer total kommunikativ, habe ständig neue Leute kennengelernt, war selbstbewusst und lustig. Jetzt gehe ich gar nicht mehr feiern. Ich habe eine regelrechte Panik davor. Vielleicht, weil es eben in den letzten Jahren nicht mehr so war, dass alles immer witzig und aufregend war, sondern ich habe mich zu Tode blamiert, habe unglaublich peinliche und moralisch verwerfliche Dinge getan und war vor allem einfach nur unglücklich.
    Aber ich habe das Gefühl, die Euphorie der Abstinenz lässt nach einer gewissen Zeit nach und man vergisst schneller die negativen Seiten des Trinkens. Ich habe am Anfang so sehr das Aufwachen morgens ohne Schädel und das Bewusstsein, so richtig Sche*** gebaut zu haben, ohne dass man weiß, was genau war , genossen! Und zu arbeiten und nicht permanent Angst zu haben, jemand könnte die Fahne riechen. Und nicht permanent mit Müdigkeit zu kämpfen und nur auf den Abend zu warten. Aber andererseits fehlt mir die Aufregung, die Spannung manchmal so sehr! Ich habe schon wahnsinnig viel erlebt in der Zeit!

    Jetzt habe ich einen festen Freund, den ich liebe, die Aussicht auf einen sicheren Job mit gutem Verdienst, mache viel Sport und esse gesund. Ist das nicht totlangweilig?? Das hätte ich früher auf jeden Fall gedacht. Meistens bin ich jetzt glücklich darüber, dass alles so "stabil" ist. Aber es fehlen halt auch die "Spitzen nach oben", wie Du gesagt hast. Ich weiß aber, ich kann nie wieder zu dem fröhlichen, unkomplizierten Party-trinken zurück, sondern ich würde alles riskieren, allem voran meinen Job und meine Beziehung. Der Gedanke daran ist es, der mich am effektivsten vom Trinken abhält. Das mit dem Notfallkoffer ist eine sehr gute Idee, da könnte ich einige peinliche Stories reinpacken...

    Hi Rakel,

    es liegt halt immer im Auge des Betrachters, was nun todlangweilig ist...und ich fürchte (oder hoffe), es ist auch eine Generationsfrage. Partys fehlen mir nun wirklich nicht, für mich waren sie immer Mittel zum Zweck. Im Rückblick wundere ich mich über mich selbst...Du nennst es kommunikativ, ich nenne es bei mir selbst verquasselt...ich habe unter Alkoholeinfluß Gespräche geführt, die ich nüchtern abgelehnt hätte...ich konnte unter geringem Alkoholeinfluß durchaus charmant sein und die Party rocken, drei Stunden später wurde ich vulgär und anzüglich und noch zwei Stunden später hab ich mich entweder geschlagen oder lag besoffen in der Ecke, während die anderen weitergefeiert haben.
    Rückblickend hab ich niemals Maß und Ziel gekannt...weder beim Alkohol noch bei anderen Dingen...das kurze Gefühl, mich blendend zu fühlen, mußte eigentlich immer einem Kater oder einem schlechten Gewissen weichen. Aber ich wollte dieses kurze, blendende Gefühl wiederhaben...egal, ob der ganze nächste Tag versaut war oder es dadurch Streit gab.
    Nun hab ich irgendwann verinnerlicht, daß das blendende Gefühl nicht echt ist...und nie echt war. Ich hab mir immer etwas vorgemacht und klar macht es Spaß, auf der Überholspur Gas zu geben. Aber irgendwann geben Dir 180 Sachen auch nix mehr und Du drehst auf auf 220...bis Du aus der Kurve flatterst.
    Ich setze meine Prioritäten jetzt einfach anders. Sport machen z.B. ist überhaupt nicht todlangweilig, im Gegenteil...mach mal bei einer Laufveranstaltung mit und Du wirst im Handumdrehen genausoviele neue Bekanntschaften machen...nur, daß die halt nüchtern sind, am nächsten Tag noch genauso ausschauen wie in der Nacht zuvor und Du ihren Namen noch weißt und Du ihren :)
    Ein sicherer Job ist sicher etwas spießig...die Vorstellung, jetzt jahrzehntelang immer denselben Job zu machen, ist für viele Menschen fast unerträglich. Mich ängstigt das nicht, weil ich meinen Traumberuf hab...gut, auch der ist manchmal etwas nervig, aber nie spießig :)
    Tja, was war noch...achso, fester Freund...find ich auch nicht spießig, sondern ich denke, nach Deinen vielen Männerbekanntschaften kann Dir eine feste Beziehung durchaus auch mal Halt geben und Dich erden. Und vielleicht ist es sogar der Richtige...das wirst Du sehen.
    Gesund ernähren...damit rennst Du bei mir momentan offene Türen ein...auch nicht spießig...spießig sind täglich Schweinebraten und Klöse, oder täglich McFress oder Leberkässemmeln.

    Nicht alles, was nichts mit dem alten, aufregenden Leben mit einer Spitze nach der anderen zu tun hat, ist gleichbedeutend mit langweilig oder öde.
    Jeder muß seinen Weg selber finden, aber oft ist es eine Gesamtentwicklung, die man als Abstinenter durchmacht.

    Wir brauchen uns nix vormachen...ich vermisse die Spitzen manchmal genauso noch wie Du...ich hab auch manchmal den Eindruck, mir würde etwas Spice fehlen :) Aber das sind Momente, kurze Phasen...und sie sind selten geworden.
    Die Anfangseuphorie hat auch bei mir nachgelassen...logisch, weil es irgendwann auch normal wird, nix mehr zu trinken. Irgendwann bringt es einen nicht mehr zum Saltoschlagen, daß man früh um 6.00 Uhr fit aus dem Bett kommt, ohne Augenringe, ohne Flecken auf den Klamotten und mit der Gewissheit, gestern nicht wieder irgendeine Scheiße gebaut zu haben. Aber es stellt sich eine latente Zufriedenheit ein, die lt. Langzeittrockenen noch besser wird.

    Nochmal zu todlangweilig oder spießig...ich laß mich da nicht mehr vorschreiben, was spießig ist und was nicht. Ich mache Dinge, die mir Spaß machen...egal, ob die typisch für nen 20jährigen oder nen 60jährigen sind.

    Und letztendlich ist das die große Befreiung...Dinge tun zu können, weil man nüchtern ist und dazu in der Lage.

    Schöne Zeit

    LG Andreas

  • Hallo Rakel,

    Wie geht es Dir mittlerweile? Du beschreibst, dass Du nach Deinem letzten Rückfall das Gefühl hattest, dass sich „ein Schalter umgelegt hat“ in Deinem Denken – Dir wurde bewusst, dass Du Dich auf furchtbar dünnem Eis bewegst … :shock: ... von woher kam das Gefühl? War es "plötzlich da" ?

    Ich war mir da noch nicht so klar, jedenfalls nicht bis zu dem Tag an dem ich hier her kam … Ich kam nicht mit dem Plan, ab sofort (und möglichst für den Rest meines Lebens) abstinent zu leben. Ich kam mit der Hoffnung im Gepäck, hier „Gleichgesinnte“ zu finden, jemanden der mich versteht … mit dem ich vielleicht gemeinsam Jammern kann, über diese Ungerechtigkeiten und das böse, böse Leben … :roll:

    Zu meinem Glück kam es aber anders – mir wurde klar(gemacht), dass ich mich „ums Leben bringe“, wenn ich so weitermache …dass ich selbst Urheber meines Lebens und Werdeganges bin ... dass rumjammern mich nicht weiter bringt, dass Taten zählen und ich es zu jeder Zeit selbst in der Hand habe und plötzlich hat es auch bei mir „klick“ gemacht (das war wohl der Schalter von dem Du schreibst :wink: ) …

    Du fragst, ob ich das Gefühl habe, es zu schaffen, „trocken“ zu bleiben… Weißt Du Rakel, auf ein momentanes Gefühl kann ich mich langfristig nicht verlassen, es verändert sich … ich fühle mich stark und schwach, bin überzeugt aber auch unsicher, freue mich aber hege gleichzeitig Zweifel und werde nachdenklich… ich habe hier gelernt, dass es nur einen einzigen Grund gibt, jemals wieder zu saufen … nämlich den Grund, dass ich wieder saufen will :!:
    Derzeit will ich das unter keinen Umständen und ich genieße jeden Tag mit klarem Kopf auch wenn es nicht immer einfach ist …
    und hoffe dass es noch viele, viele „rückfallfreie“ Tage geben wird.
    Dafür bin ich bereit dranzubleiben …an mir und meiner Abstinenz, ganz aktiv und engagiert zu "arbeiten" und vor allem achtsam zu sein…

    Zitat

    ich freue mich, dass andere ähnliche Gedanken haben und ähnliches erlebt haben wie ich!

    Das hier zu erleben, gibt einem einfach ein Gefühl von „nicht alleine dastehen zu müssen“ … für mich fühlt sich das auch sehr gut an :)


    Wenn Du Deine Krankheit für Dich behälst, kommst Du irgendwann zwangsläufig in Erklärungsnotstand. Trotzdem denke ich genau wie Du, dass "man" genau abwägen sollte, wem man wie viel von sich erzählt …

    Dass Du bzgl. Deiner Offenheit bereits schlechte Erfahrungen gemacht hast, deckt sich mal wieder mit meinem Werdegang … Da ging es um meine Angststörung und die Depression - es ist mir so unbegreiflich wie unglaublich dreist manche Menschen derartige Wissen über einen zum eigenen Vorteil ausnutzen und damit auch noch durchkommen :shock:
    Auch Deine Zweifel wegen der unklaren beruflichen Zukunft sind absolut berechtigt.

    Zitat

    Jetzt habe ich einen festen Freund, den ich liebe, die Aussicht auf einen sicheren Job mit gutem Verdienst, mache viel Sport und esse gesund. Ist das nicht totlangweilig??

    nöööö find ich überhaupt nicht 8)
    Nach vielen vermeintlich lustigen (und z.T. unmoralischen) Party-Jahren kann ich für mich sagen: Angelegt zu haben, beruhigt die Seele und ist alles andere als langweilig :wink:
    Immerhin kann ich heute meine Tage, mein Leben gestalten, ohne dass sich alles ständig nur ums Saufen dreht … denn so geht es zwangsläufig irgendwann jedem der nicht aussteigt ...

    Zitat

    Das mit dem Notfallkoffer ist eine sehr gute Idee, da könnte ich einige peinliche Stories reinpacken...

    Einige der lieben Weggefährten hier haben übrigens genau das getan … ich habe mir eine ausführliche Inventur für die Zeit kurz vor dem Jahreswechsel vorgenommen, wenn es beruflich ruhiger wird … Ansonsten passt in den Notfallkoffer all das, was Dir persönlich in schwierigen Situationen helfen kann ... für mich in der Abstinenz unentbehrlich.

    :)

    Viele Grüße
    von
    Julia

  • Liebe Rakel,

    ich möchte dir nur eine kurze - vielleicht ketzerische - Frage stellen, wenn ich darf: wie kann etwas mit dir und deiner ureigensten Identität untrennbar verknüpft sein, wenn es nur unter Alkoholeinfluss auftritt?

    Viele Grüße
    Lea

    If you know where you stand
    then you know where to land ...

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