Die Kunst des Rettens oder: Mein Bruder, der keine Hilfe will

  • Hallo,
    als Einleitung kopiere ich hier rein, was ich im Vorstellungsbereich schon geschrieben habe:

    Mein Name ist (nicht wirklich) Sorra, ich bin hier, da mein Bruder, nennen wir ihn Dylan, alkoholkrank ist.

    Würde ich mich als co-abhängig bezeichnen?
    Ich kann mich in der Definition nur zum Teil wiederfinden, Teile, die in der Vergangenheit pathologisch einzustufen waren, jedoch würde ich meinen heutigen Zustand nicht mehr so drastisch einstufen. Ich sehe mich nicht als co-abhängig, in dem Sinne, dass ich das Suchtverhalten des Betroffenen fördere.

    Momentane Situation:
    Mein Leben ist, ohne in Details gehen zu müssen, für meine Verhältnisse stabil. Seit zwei Monaten gab es einige persönliche Veränderungen bezüglich Wohnen und Beruf/Ausbildung, die mehr Leistung von mir abverlangen und mich unter größeren Stress aussetzen als sonst, an dem ich etwas leide, aber es ist auch aufregend und noch tragbar.

    Unabhängig davon gibt es meine Familie, die bis auf meinen Vater, gesammelt in einer Stadt wohnt die 2-3 Stunden von der Stadt entfernt ist, in der ich lebe. Das ist bewusst von mir vor über 4 Jahren gewählt worden, und ich bin überwiegend glücklich, damals umgezogen zu sein, da ich das Gefühl hatte, ich könnte nicht atmen.
    Ich bin die Jüngste von 3 Kindern, habe zwei ältere Brüder und ich fühle mich wie die Sekretärin und Sozialarbeiterin meiner Mutter und meines mittleren, alkoholkranken Bruders. Der Älteste war immer schon sehr selbstständig und unabhängig.
    Ich fühle mich verantwortlich für beide, ich befürchte, dass meine alleinstehende Mutter in Einsamkeit und Depression versinkt, zudem hat sie zunehmend gesundheitliche Probleme. Mein Bruder ist seitdem ich klein bin, einer der Hauptquellen meines blutenden Herzens, ich habe große Angst um ihn und weiß nicht, wie ich mit ihm in Beziehung treten kann, da er wegen des Alkohols meistens geistig nicht da ist.

    Nun, ich komme aus schwierigen Familienverhältnissen, also diese beschriebenen Probleme und Ängste sind nicht neu, sondern seit vielen Jahren präsent.
    Der Auslöser war der Besuch meines Bruders Anfang dieser Woche. Er hat vor einigen Wochen seinen schrecklichen Job gekündigt und nun viel Zeit. Er war 3-4 Tage hier und es war ... anstrengend und kraftraubend. Es war anstrengend ihn so zu sehen, es war anstrengend meine eigenen Reaktionen und Gefühle zu fühlen und reflektieren und kontrollieren. Dass sich sein Konsumverhalten so verschlechtert hat, habe ich (zum Glück) durch die Distanz nicht mitbekommen. Nun habe ich es mitbekommen und es hat mich dementsprechend (wieder) aufgewühlt.
    Und wenn sowas passiert, wende ich mich an verschiedene Medien, immer öfter natürlich dem Internet. Es führt mich immer an neue Stellen: Literatur, Therapie, philosophische Konzepte, Telefonseelsorge, praktische Lösungen, Beratungsstellen usw.
    Diesmal bin ich hier.
    Diese Dinge haben mir immer schon geholfen, schon als Kind, wenn ich traurig war, habe ich mich in Bücher und Comics geflüchtet. Das Letzte mal hat mir ein Buch sehr geholfen, quasi mein Leben verändert um etwas pathetisch zu werden, ich möchte es euch nicht vorenthalten. Es ist von einem Alkoholiker über Alkoholismus und heißt: "Sich das Leben nehmen" von Jürgen Heckel. Es ist nicht so negativ, wie der Titel scheinen mag. Es ist wirklich gut.

    Zurück zu Dylan. Als er zu Besuch war, habe ich ihm (mehrmals) angeboten, dass ich ihm zu einem AA-Meeting begleite. Er möchte nicht. Ich habe ihm erzählt, dass ich auch schon bei einem Alanon-meeting mit unserer Mutter war. Er gesteht sich (endlich) ein, ein Problem zu haben (nachdem es mir schon seit gut 10 Jahren klar war/ist), aber er möchte keine Hilfe.
    Ich überlege nun, ihn regelmäßig dezent mit Nachrichten zu bombardieren, die Infos über Anlaufplätze beinhalten, á la "Hallo Dylan, ich wollte dich informieren, dass heute ein AA-Treffen um --:-- in der Helferstraße 1 stattfindet. Vielleicht hast du heute Lust hinzugehen" oder "Als Info: Eine gute Suchtberatunsstelle befindet sich am Infoplatz, die können dir bei dem Problem helfen."
    Was meint ihr dazu?

    Mir geht es nicht gut seitdem Besuch. Ich bin sehr wütend auf ihn und auf mich, da ich mich nicht so verhalten konnte wie ich wollte. Es macht mich aggressiv. Mir bricht es das Herz, ihn bei seiner Selbstzerstörung zuzusehen und es fällt mir schwer mich davon zu distanzieren. Ich habe normalerweise einpaar Menschen mit denen ich darüber reden kann, möchte es diesmal aus versch. Gründen nicht. Mir fällt auch auf, wie es mir förmlich meine Lebensenergie raubt.

    Das war's vorerst,
    ich bin an eure Ansichten und Gedanken darüber interessiert.
    Alles Liebe,
    sorra

  • Liebe Sorra,

    Herzlich willkommen hier im Co-Bereich.

    Der Begriff Co-Abhängig ist sehr vielschichtig. Man muss nicht alle Verhaltensweisen haben, um von sich zu sagen, das man co-Abhängig ist. Ich habe zum Beispiel auch nie meinen xy gedeckt, ihm den Alkohol besorgt oder sein leben geregelt. Ich glaube aber, wenn das eigene Leben so sehr beeinflusst wird durch den Alkoholiker, das man sein eigenes Leben in den Hintergrund stellt, und sich alles nur noch um den kranken Partner/ Angehörigen dreht, dann ist dies in einem gewissen Maße eben auch krank.

    Du schreibst selbst, das sich Dein Bruder zwar mittlerweile eingesteht, das er ein Problem hat, aber keine Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Das musst Du akzeptieren! Es ist sein Leben, damit darf er tun, was er möchte. Du kannst ihm dezent oder mit dem Hammermethode Nachrichten etc. schicken, wenn er nicht möchte wirst Du rein gar nichts damit bezwecken können. Außer das es Dir immer schlechter gehen wird, weil die erwünschte Reaktion von ihm ausbleibt. Ich weiß, wie schwierig es ist, wenn ein geliebter Mensch immer weiter abrutscht, und man sich doch eigentlich nur wünscht, das er sich Hilfe holt. Aber die muss von ihm selbst kommen.

    Es tut mir leid, mehr kann ich Dir leider dazu gar nicht schreiben.

    Liebe Grüße
    Sunny

  • Hallo Sunny,

    danke für deine Antwort.

    Mein Leben wird natürlich von meinem Bruder beeinflusst. Mir ist meine Familie sehr wichtig. Ich würde aber nicht soweit gehen zu meinen, dass ich mein Leben in den Hintergrund stelle und sich alles nur mehr um ihn dreht. Ich lebe mein Leben und habe vielleicht 1-2 mal im Monat wirklich Kontakt zu meinem Bruder. Aber wie gesagt, ist erTeil meines Lebens und seine Abhängigkeit beschäftigt mich natürlich bis zu einem gewissen Grad.

    Natürlich darf er mit seinem Leben tun, was er möchte. Deshalb werde ich ihn auch nicht zu irgendwas zwingen, auch wenn ich das am liebsten tun würde. Ich kann akzeptieren, dass er von mir keine Hilfe will, aber nicht, dass er es allgemein nicht will. Vorallem keine fachliche. Ich weiß, wie solche Geschichten zu Ende gehen, von Leuten die denken, sie können es alleine schaffen.

    Deshalb werde ich ihn weiter auffordern, dorthin zu gehen. Ich sehe es wie bei depressiven Menschen, die keine Kraft haben zum Arzt zu gehen. Unterstützung und Animierung ist wichtig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Dylan auch depressiv ist. Ich vermute auch, dass er unter Borderline leidet, aber das ist nur meine Laien-Diagnose.
    Natürlich bin ich als kleine Schwester in einer benachteiligten Position (wer will denn schon was von seiner kleinen Schwester erzählt bekommen?). Aber seine Sauffreunde werden es nicht tun, wenn ihnen das Ausmaß des Problems überhaupt klar ist.
    Ich weiß, ich klinge auf euch wahrscheinlich wie Don Quijote, der gegen die Windmühlen kämpft, aber ich kann nicht den Kontakt zu meinem Bruder abbrechen. Und ich kann den Kontakt nicht aufrecht halten, und das Problem dabei ignorieren.

    Das habe ich früher versucht. Ich habe mich rausgehalten, mich mit ihm tagsüber, wenn er nüchtern war, getroffen und einfach versucht eine schöne Geschwister-Beziehung zu führen. Aber das ist nicht genug. Ich erwische ihn kaum noch nüchtern.
    Letztens war er nüchtern und wir haben darüber gesprochen. Ich war sehr froh, ihn nüchtern zu erwischen, man kann dann endlich ein normales Gespräch mit ihm führen. Ich versuche immer wieder sehr friedlich und nicht anklagend ihn auf das Thema anzusprechen und durch ihn durchzudringen. Es gibt Momente, an denen er empfänglicher ist, als andere. Natürlich nur nüchtern, betrunken ist es vollkommen sinnlos, zumal sein Charakter in dem Zustand unaushaltbar für mich ist.
    Er meinte, dass er auch, wenn er das Alkoholproblem gelöst hat, hätte er ja noch immer seine alten Probleme. Er meinte er fühlt sich schlecht mit Alkohol, aber ohne auch. Ich habe ihm gesagt, das stimmt, aber erst wenn er nicht mehr trinkt, kann er diese Probleme lösen. Seine From der Selbsttherapie mit Alkohol macht alles nur noch schlimmer. Er hat nichts darauf gesagt. Aber ich denke doch, dass es irgendwo ein wenig angekommen ist, deshalb bin ich froh, dass wir darüber gesprochen haben.
    Das eigentliche Problem ist: Er ist es sich selber nicht wert, dass es ihm besser geht. Ihn ging es so schlecht, als er zu trinken begann, dass ihm die Taubheit lieber ist, als wieder diesen Schmerz zu spüren. Sein Leben ist für ihn nicht lebenswert, um es erträglich zu machen, will er jetzt so lange Trinken, bis das Trinken unerträglich wird (wie schlau....)
    Auch an dem Tag habe ich ihn angeboten zu AA zu gehen. Er hat sich darüber lustig gemacht. Er hat immer andere Ausreden, warum er nicht will, die ich aber gut auszulöschen weiß (bringt trotzdem nichts): da wird soviel geraucht, das ist alles so christlich dort, die sind alle so alt usw.

    Jetzt als er zu Besuch war hat er gekifft und getrunken, sogar für seine Verhältnisse übers Maß. Ich habe ihn in der Nacht im Bad weinen gehört. Und habe dann selber in meinem Zimmer geweint. Wir waren wir zwei Figuren in einer griechischen Tragödie.

    Ich denke ich habe 3 Optionen:
    1) Ich lasse ihn einliefern und zwinge ihn professionelle und meiner Meinung nach auch notwendige medikamentöse Hilfe ihn Anspruch zu nehmen.
    2) Ich mache ihn weiterhin aufmerksam auf die fachlichen Hilfsangebote, gebe ihn Literatur darüber, zeige ihm die Wege auf, ohne ihn das Trinken zu verbieten oder ihn anzuklagen.
    3a) Ich mache nichts und führe eine gute Beziehung mit ihm, in der das Thema Alkoholismus nicht existiert.
    3b) Ich mache nichts und habe keinen Kontakt zu ihm.

    Nr. 1 überlege ich mir immer mal wieder, empfinde ich aber zu radikal und entmündigend. Aber manchmal ist es an der Grenze, an der er eine Gefahr für sich selbst darstellt.
    3a kann ich nicht, da es verlogen, oberflächlich und falsch wirkt.
    3b kann ich mir nicht vorstellen. Ich liebe meinen Bruder, und ich möchte ihn nicht verlieren. Das werde ich wahrscheinlich sowieso zu früh, wenn er so weiter macht und das könnte ich mir dann nicht verzeihen.

    Deshalb denke ich an Nr 2.
    Was denkt ihr? Habt ihr Lösungsstrategien für die Situation, die (im besten Fall) für alle gut wäre?

    Alles Liebe,
    Don Quijote

  • Ich habe mir auch schon überlegt, zu einem AA Meeting zu gehen und jemanden von dort zu bitten mit meinem Bruder zu sprechen, ohne das davon erfährt, dass ich was damit zu habe. Das sind so meine Fantasien. Ja, nicht nur die Alkoholiker können manipulativ sein.
    Aber wahrscheinlich wird niemand dazu bereit sein, weil sie alle das Gleiche sagen wie ihr (er muss selber wollen), und zudem, wenn mein Bruder das erfährt, wird er das als ziemlichen Vertrauensbruch empfinden. Was ich nachvollziehen könnte.
    Jedoch weiß ich nicht, ob in dem Fall der Zweck nicht die Mittel rechtfertigen würde?
    Wenn jemand eine Gefahr für sich darstellt, weil er zum Beispiel in einer Psychose steckt, in der er Stimmen hört und Dinge sieht, die nicht real sind, würde jeder Psychiater zustimmen, dass das Vernünftigste wäre, den Betroffenen in eine Klink zu schicken, wo er Hilfe bekommt, auch wenn er nicht einverstanden ist.
    Mein Bruder ist offensichtlich nicht fähig klar zu sehen und fügt sich selber Schaden zu, ist also eine Gefahr für sich.
    Wieso wäre es also hier verwerflich?

    Grüße,
    sorra

  • hallo Sorra,

    herzlich willkommen in unserer Onlineselbsthilfegruppe.

    da hast du dir ja einiges ausgedacht, um deinen Bruder vom Alkohol zubefreien. Die haben nur alle einen Nachteil, es wird nicht funktionieren.
    Wenn er trinken will, wird er es weiter tun, deshalb bekommst du von keinem Richter eine Zwangseinweisung.
    Die Mitglieder von AA gehen nicht missionieren und holen jemand von zuhause ab.
    Das Thema totschweigen ist auch nicht sinnvoll, dann denkt er, es sei wieder alles in Ordnung.
    Dir bleibt 3b, denn du kannst nichts tun, solange dein Bruder kein Problembewußtsein hat. Da nützen leider auch die ganzen Hilferatgeber nichts.
    Alles geht nur über ihn.
    Wenn er es nicht einsieht, hast du keine Chance.
    Das habe ich selbst so erlebt, es ist schwer dies zu erleben, und noch schwerer ist es einzusehen, das wir nicht helfen können.


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Hallo Morgenrot,

    ich danke dir für deine Antwort.

    ich freue mich im übrigen hier zu sein und das es dieses Forum als Austausch gibt. Als ich begann, mich über das Thema zu erkundigen und gesehen habe, wieviel es darüber gibt, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Mir ist aufgegangen wie alt dieses Problem schon ist, und wieviele Menschen sich damit beschäftigt haben und es noch immer tun und teilweise die exakt gleichen Gedanken wie ich hatten, vor vielleicht 500 Jahren schon. Ich bin nicht religiös, aber dieser Gedanke lässt mich eine spirituelle Verbindung zur Welt über Generationen hinweg spüren. Und darüber bin ich glücklich. Es scheint vielleicht offensichtlich, dass es mehr Alkis als meinen Bruder gibt, aber ich habe bis zu diesem Moment nie so darüber nachgedacht und es wirklich realisiert, darüber bin ich sehr glücklich.

    Ja, über die Jahren kommen so einige Ideen und Strategien zusammen.
    Ja, du hast Recht, es ist sehr schwer das zu erleben, und ich frage mich, ob das einsehen für mich überhaupt möglich ist.

    Wieso findest du, soll ich gar keinen Kontakt zu ihm haben? Ist das nicht wie Bestrafung? Als würde ich ihm den Rücken kehren, wenn es ihm am schlechtesten geht?
    Unser Kontakt ist schon sehr reduziert, da ich, wie gesagt, woanders wohne und zirka einmal im Monat in die Heimatstadt fahre (und ihn da auch nicht jedes Mal treffe). Ich habe seit zwei Monaten auch offiziell verkündet, nicht an den Familienfeiern teilzunehmen (Geburtstag, Weihnachten, etc.) da der Umgang mir zu negativ und respektlos ist. Ich habe betont, das ich auf niemanden wütend bin, sondern sehr neutral das entschieden habe und mich freue wieder Familientreffen zu machen, sobald es möglich ist, diese respektvoll zu gestalten.

    Wie habt ihr das gemacht Sunny, Morgenrot und auch die Anderen? Ihr habt alle keinen Kontakt zu euren Alkoholikern? Ich kann mir nicht vorstellen, glücklich damit zu sein, absolut keinen Kontakt mehr zu meinem Bruder zu pflegen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und ich kann mir nicht vorstellen, dass Isolation oder Entziehen etwas förderliches sein kann.
    Ich muss auch erwähnen, dass es für mich ein Unterschied ist, ob der Partner ein Alkoholiker ist, da man diesen wählen kann, oder ein Familienmitglied, der nicht wählbar ist und immer diese Stelle haben wird.
    Und ich wäre auch sehr gespannt, von der Sicht der Alkoholiker dazu was lesen zu können.

    Alles Liebe,
    sorra

  • Hallo und herzlich Willkommen hier!

    Ich habe grade eben deine Geschichte gelesen und finde es sehr beeindruckend, dass du so für dich einstehst. Genauso wie dein Bruder, hast aufgrund dem Beziehungsstress zwischen den Eltern, wahrscheinlich schon recht früh, nicht mehr Kind sein dürfen?
    Wie hast du es damals geschafft, dass dich die verbalen Ausraster deines Vater nicht kaputt gemacht haben?
    Weiß zwar nicht, um wie viele Jahre, dein Bruder jünger ist als du. Möglicherweise war er damals gerade in einem Alter, wo er weder vom Vater noch bei der Mutter, eine Bindung und Sicherheit erfahren konnte. Erlebnisse dieser Art prägen sich in eine Kinderseele ganz tief ein, sie wissen nicht damit umzugehen. Wenn immer wiederkehrend enormes aggressives Potential in der Luft liegt, ist das für die Kinder jedes Mal aufs Neue eine "Cortisoldusche".

    Leider können sich in dem Moment die Kinder auch nicht zur Mutter flüchten, weil die selbst im Streit auf 180 ist und den Schutzbedürftigen
    zusätzliche Angst übermittelt.
    Dein Bruder hat schon einen Grund, warum er trinkt. Es ist sein Bewältigungsmechanismus, mit Belastungen umzugehen. Du hast irgendwo geschrieben, ist derzeit arbeitslos, depressiv, ev. finanziell angespannt.
    Daher reguliert er sich mit dem Alkohol runter, um mit der Situation umzugehen, sich auszuhalten. Was anderes kennt er nicht (Trost, Geborgenheit, Schutz, Vertrauen,..). Willst du ihm also den Alkohol wegnehmen, wird er das eher von dir als Verrat empfinden.

    Traurig ist, dass er sich mit der Sauferei und dem Kiffen jetzt so ruiniert, weil die Eltern eben mal Sch ...e waren. Letztendlich, wenn er immer
    mehr in die politoxische Sucht reinkippt, wird es auch mal für Therapeuten ganz schwer, ihn noch zu retten.

    Dennoch, sollte es hier ja besonders auch um DICH gehen. Ich wünsche dir, dass du lernst, von deinem Bruder das zu bekommen, was dir gut tut.
    Und wenn du mit ihm telefonierst oder sonst Kontakt hast, gut auf dich achtgibst, dann den Kontakt unterbindest, wenn es dir zu viel ist.
    Thema: Selbstführsorge.
    Glaube auch, dass du "ihm" nicht helfen kannst, da bräuchte er viel eher eine Traumatherapie, die er aber nicht bekommt, solange er säuft.

    Zeige ihm, zeige dir, dass es auch anders geht, dass das Leben Sinn macht und schön ein kann.

    Alles Liebe
    Emma

  • Liebe Sorra,

    Den Kontakt abzubrechen ist nicht als Bestrafung gedacht. Du selbst musst entscheiden, ob Du das so weiter mitansehen kannst oder ob es nicht aus reinem Selbstschutz besser wäre, den Kontakt lieber abzubrechen. Denn wie schon gesagt, helfen kannst Du ihm nicht.

    Indem Fall was Du vorhast rechtfertigt der Zweck nicht die Mittel! Denn auch wenn er alkoholkrank ist, so ist er doch immer noch eine selbstständige Person, der seine eigenen Entscheidungen treffen darf und auch sollte. Nur für Dich selbst kannst Du etwas tun! Nach allem was ich hier von Dir gelesen habe hattest Du auch eine sehr schwere Kindheit. Der Kontakt zu Deiner Familie ist schon sehr eingeschränkt, weil Du merkst, das es Dir zu negativ und respektlos ist. Wenn Du z.B. stundenlang im Internet forscht, wie Deinem Bruder zu helfen ist, dann finde ich schon das Dein Leben davon beeinflusst wird.

    Ich habe noch Kontakt zu meinem Ex-Mann. Das geht aber auch nur, weil ich mittlerweile weiß, das ich ihm nicht helfen kann. Ich lass ihn sein Leben leben, ich will ihn nicht mehr bekehren oder ähnliches. Manchmal tut es mir schon leid, zu sehen wie er sein Leben wegschmeißt, aber er könnte es ja ändern! Er weiß, wo er Hilfe kriegen könnte, er ist aber einfach noch nicht soweit. Oder wird es vielleicht auch nie sein. Ich habe es akzeptiert, ich habe jetzt mein eigenes Leben und bin für mich verantwortlich. Und meine Aufgabe ist es mich glücklich zu machen!

    Ob Familienmitglied oder Partner, es ist immer schwer einen geliebten Menschen an den Alkohol zu verlieren. Für mich war mein Ex-Mann meine Familie, da macht es keinen Unterschied, weh tut beides!

    Erkundige Dich bitte lieber, wie Du Dir helfen kannst mit der Situation umzugehen, das ist erfolgsversprechender und wird Dir auf Dauer mehr bringen.

    Liebe Grüße
    Sunny

  • Hallo Emma und Sunny,

    vielen Dank, dass ihr euch Zeit genommen habt, das zu lesen und zu antworten.

    Ich denke es gibt einpaar Missverständnisse bezüglich meiner damaligen Familienverhältnisse, und möchte es kurz erklären.
    Mein Vater war psychisch und physisch gewalttätig. Er war kein Alkoholiker. Die Wut hat sich gegen alle gerichtet. Mein Bruder, der älter ist als ich, hatte es mit Abstand am schlimmsten. Mit Abstand. Es war... brutal. Warum gerade er kann man sich jetzt fragen, aber Antworten wird es viele geben. Ich denke, er hatte meinem Vater unwissend genug Angriffsflächen gegeben und hat sich selbst in meinem Bruder sehen können, wer weiß.

    Meine Mutter hat nichts dergleichen gemacht, sie war sehr weich. Ihr Problem war, dass sie teilweise nicht mitbekommen hat, was passiert, es nicht wahrhaben wollte, zu wem ihr Mann geworden war, und dachte (wie so viele Frauen leider) sie könnte ihm "helfen"/ändern. Zudem wurde sie auch von ihm fertig gemacht bzw. in seinen verrückten Machtspielchen involviert. Sie sagt auch selbst, dass sie sehr naiv war damals. Sie hat sich zu unserem Schutz getrennt von ihm, auch wenn erst spät. Ich mache ihr keine Vorwürfe, vielleicht kann ich mich als Frau auch besser in ihre Situation damals hineinversetzen, meine Brüder haben eine etwas andere Meinung dazu.
    Mein Vater hat ziemlich sicher eine psychische Krankheit, ich weiß aber nicht genau was. Er war sehr irrational, leicht gereizt, und irgendwie auch paranoid.
    Wichtig ist auch zu erwähnen, dass meine Familie Migrationshintergrund hat.
    Wenn man in ein neues Land kommt, gibt es viele große Herausforderungen und Belastungen, die man sich schwer vorstellen kann, wenn man es selber nicht erfahren hat. Es geht über finanziell, sprachlich, sozial, kulturell usw. Vorallem wenn die Kinder noch so jung sind, wie wir es waren. Da meine Mutter beteuert, dass er damals nicht so war, vermute ich, dass die Migration zum Ausbruch der Krankheit geführt hat. Weil er die ganzen Belastungen und Verpflichtungen nicht standhalten konnte. Aber vielleicht wäre es auch ohne dem, dazu gekommen, dass kann man natürlich nicht wissen.
    Es ist nur meine Vermutung, ich bin kein Fachexperte. Ich schätze aber, dass es viele Migranten gibt, die unter vielen psychologischen Problemen leiden, als Folge von den Problemen der Migration.

    Wie ich damit klargekommen bin? Schlecht. Ich habe viele Probleme. Es hat mich auch kaputt gemacht, so wie alle, das ist nicht zu leugnen. Ich bin aber bei der Reparatur, das dauert aber ein Leben lang und oft auch darüber hinaus. Aber es geht schon viel besser. Ich war sehr depressiv. Dadurch, dass ich sooft die Gewalttaten mitansehen musste, habe ich so ein großen Rettungsdrang. Und natürlich die fehlende Sicherheit, man ist ständig in Alarmbereitschaft, weil die Gefahr immer kommen könnte. Das schlimmste war die lähmende Machtlosigkeit, die man als Kind verspürt. Deshalb fällt es mir als Erwachsene sehr schwer, vollkommene Machtlosigkeit zu akzeptieren.
    Was mir geholfen hat: Kunst/Literatur, (Haus)tiere, und 1-2 starke (weibliche) starke, soziale Stützen und Vertraute. Ich denke, dass dies für jeden eine heilende Wirkung haben kann.

    Emma, ich stimme dir vollkommen zu, mein Bruder sauft wegen dieser Erlebnisse, er hat früh zu trinken begonnen. Und wäre mir das Gleiche passiert, würde ich wahrscheinlich auch saufen. Und ja, es ist tragisch und traurig. Er war manchmal in Therapie, aber da gebe ich dir auch Recht, das hat nur Sinn, sobald er trocken ist.
    Interessant finde ich, dass er einer Therapie zumindest etwas aufgeschlossener ist/war als die AA.
    Aber ja prinzipiell braucht er nicht seine kleine Schwester, die ihm das Leben richtet, sondern professionelle Hilfe.

    Danke für deinen Ratschlag Emma, ich kann mir das noch am Besten vorstellen zu realisieren.

    alles Liebe,
    sorra

  • Sunny, du schreibst, er ist trotzdem ein selbstständiger Mensch, aber wo ist die Grenze zur Unselbständigkeit? Es gibt doch Menschen die so psychisch krank sind, oder so süchtig, dass sie eben nicht mehr als selbstständig anzusehen sind? Es fällt mir schwer, die Grenze zu sehen.
    Ich weiß, was du meinst, aber gefühlsmäßig fühlt es sich trotzdem wie eine Bestrafung an, aber vielleicht bin ich da einfach zu weich.

    Ja mein Leben beeinflusst es auf jeden Fall, das streite ich nicht ab. Aber ich denke, trotzdem dass ich ein selbstständiges Leben führen kann und mich trotzdem damit befassen kann. Es dreht sich ja nicht automatisch alles darum. Ich muss sagen, die örtliche Distanz hilft immens. Früher hätte ich das nicht sagen können.

    Das mit deinem Ex-Mann klingt sehr interessant. Wie macht ihr es möglich? Ist er trocken? Wie wird über das Thema Alkohol, wenn überhaupt gesprochen? Gibt es Rahmenbedingungen (zB nur zu bestimmten Zeiten, nur nüchtern etc.).

    Es tut mir leid, ich wollte nicht Leid untereinander aufwiegen zwischen Familienmitglied oder Partner. So was ist individuell und sollte nicht verglichen werden. Ich wollte nur damit sagen, dass die Konstellation anders ist, da ich viel im Forum gelesen habe, wo die alkoholkranken Menschen hauptsächlich Partner sind. Und ich finde doch, dass durch die Position als Schwester, wie als Frau sich eine andere Problematik ergibt und das einen Unterschied macht. Ein Partner kann zum Ex-Partner werden, ein Geschwisterteil wird nie aufhören, dass zu sein und du kannst keinen neuen finden. Aber schwer ist es immer, tut mir leid, falls es anders verstanden worden wurde.

    Ich erkundige mich natürlich auch für mein Wohl, danke für deine Anteilnahme.

    Mir hilft jede Antwort, aber ich möchte nochmals betonen, dass es mich auch interessiert, was die Alkoholiker dazu zu sagen haben. Ich bin neu hier und ich habe noch nie mit trockenen Alkoholiker über das Thema gesprochen, es würde mich sehr freuen und bereichern. Ich möchte die Sicht besser verstehen, ich denke das würde mir helfen.
    Danke.

    Alles Liebe,
    sorra

  • Hi Sorra,

    ich wollte keinesfalls was schlechtes über deine Eltern sagen. Als Kind trägt man ja auch einen Teil der Eltern in sich und sicher war auch nicht alles schlecht. Auch aus religiöser Sicht, gilt es im gewissen Sinn, seine Eltern zu achten. Das wird so von Generation zu Generation weitergeben, weil ein Teil in uns will ja auch in Liebe mit den Eltern verbunden sein.

    Aus der Sicht deines Bruder, wurde er von seinem Vater gequält und von seiner Mutter nicht geschützt, daher hat er zu Beiden keine Beziehung.
    Die Gründe, dass der Vater krank war und die Mutter in Abhängigkeit und in der Not, konnte die Kinderseele nicht differenzieren.
    Es gibt viele dramatische Geschichten, durch Krieg, Flucht, Missbrauch etc., Traumen, die über Generationen weiter wirksam sind.

    Ich kenne dich zwar nicht, aber entnehme aus deinen Erfahrungen und deiner Ausdruckskraft, dass du die Kreativität und den Willen hast, auch wenn es schwer war und ist. Es kostet halt enorm Kraft, sich mit möglichen Belastungen auseinander zu setzen, für sich und die Angehörigen zu kämpfen.
    Deine Mutter hat es sicher nicht leicht gehabt und ist, nach deinem Gefühl zu ihr entnommen, eine gute Frau.
    Hilfreich ist immer, sich seiner Stärken und seiner Resilienz bewusst zu sein, sich innerlich einen Raum zu schaffen (Fantasiereise), der Schutz und Halt gibt, soziale Kontakte zu pflegen, die Kraft geben und Verbindung schaffen.

    Ich hoffe, für deinen Bruder, dass er sich Rat und Hilfe in allen Lebensfragen, bei den zuständigen Beratungsstellen zu holen vermag. In den Drogenberatungsstellen gibt es Angebote und geschulte Sozialarbeiter, auch dann, wenn man nicht suchtfrei ist.
    Dafür sind sie da.

    Ich finde, deine Entwicklung ist sehr beachtlich, mach weiter so!
    Alles Gute
    Emma

  • Liebe Sorra,

    das ist eine schwierige Frage wo die Grenze zur Unselbstständigkeit anfängt... aber solange er nicht für sich direkt oder andere Menschen eine Bedrohung darstellt kannst Du meiner Meinung nicht aktiv in sein Leben eingreifen.

    Mein Ex-Mann ist leider weiter am trinken. Er hatte bereits einen Entzug, ist aber rückfällig geworden. Ein Kontakt geht mittlerweile nur, weil ich gelernt habe, ihn so zu nehmen wie er ist. Wir behandeln uns mittlerweile wieder mit Respekt, jeder hat sein Leben. Er ist der Typ der zuhause alleine trinkt, das schaue ich mir natürlich nicht mehr an. Aktiv spreche ich ihn nicht mehr auf den Alkohol an, es ist doch eigentlich auch alles gesagt worden in den letzten Jahren.

    Ich habe leider auch bei meiner Schwester das Gefühl das sie entweder schon süchtig oder kurz davor ist in die Sucht zu rutschen. Ich habe sie einmal darauf angesprochen, ihr meine Bedenken dazu mitgeteilt. Sie hat es bestritten, auch wenn mein Schwager mir es eigentlich bestätigt hat. Ich kann auch da nichts machen!

    Ich kann für mich nur darauf achten, das mich so etwas nicht mehr so mitnimmt. Notfalls den Kontakt einschränken. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, und gerade wenn es um eine Sucht geht, rennt man einfach gegen Windmühlen.

    Sunny

  • Hallo sorra,

    ich bin Alkoholikerin und war sehr dankbar für deinen Beitrag an anderer Stelle, in dem du deine Erlebnisse mit einer Therapeutin geschildert hast.
    Ich bin derselben Meinung wie diese Therapeutin.
    Es ist und bleibt übergriffig, wenn sich jemand (egal wer) anmaßt zu wissen, was für jemand anderen gut wäre und ihm vorschreibt, was zu tun ist. Jedenfalls ist es das so lange, wie der Betroffene noch für sich selbst entscheiden kann.
    Ich bin nicht nur trockene Alkoholikerin, sondern litt sehr lange auch unter Depressionen. Mich hättest du zu meinen Tiefstzeiten mit irgendwelchen Animationen eher aggressiv gemacht, als motiviert. Ähnlich verhielt es sich bei mir, als ich noch soff. Gutes Zureden, Verständnis oder gar andauernde "versteckte" Hinweise auf Therapien hätten mich schlichtweg genervt.
    Was mir letztlich geholfen hat, waren echte Konsequenzen und Ansagen. Mehrere Menschen in meiner Umgebung haben mir gesagt, dass sie meinen Suff nicht mehr aushalten wollen (können) und brachen den Kontakt zu mir ab. Es lief darauf hinaus, dass ich ganz allein dastehe.
    Ich wählte den wahrscheinlich vollkommen unlogischen Weg und beendete auch noch den letzten Rest an Beziehung und begann nochmal ganz allein. Allerdings so, wie ich es nun wollte, abstinent.
    Nachdem ich eine Weile trocken war, fand sich der eine oder andere wieder bei mir ein. Dabei waren auch welche, die, ohne Alkoholiker zu sein, zu wissen meinten, was gut für mich wäre und was nicht. Schließlich war ich aufgrund ihrer Intervention trocken!
    Ich habe seither niemals wieder Kontakt zu einem dieser Menschen gehabt. Ich zog anfangs ihren Unmut und die Wut auf mich. Aber das war es mir wert. Ich war es mir wert. Wer weiß, wären sie weniger aufdringlich gewesen, wären sie vielleicht heute noch meine Freunde.
    Was ich sagen will. Loslassen bedeutet nicht, jemanden fallen zu lassen, sondern ihm seine Entscheidungen zuzugestehen. So schwer es auch mir manchmal fällt; jeder hat ein Recht auf sein eigenes Glück, aber auch auf sein eigenes Unglück.
    Auch dein Bruder. Ich bin sogar der Meinung, dass du Gefahr läufst, ihn zu verlieren, wenn du ihn nicht loslässt.
    Du scheinst unter deiner Nähe (gefühlsmäßig) zu deinem Bruder zu leiden. Also schau, dass du dich von deinem Bruder unabhängig machst, so schwer das auch ist. Dein Bruder darf seine eigenen Entscheidungen treffen.
    Du kannst für dich sorgen, indem du deine eigenen Grenzen erkundest und sie mit deinem Bruder besprichst.
    Vielleicht bewegt es etwas in ihm, wenn er deine Grenzen zu spüren bekommt? Keine Ahnung. Aber dich kann es eventuell etwas entlasten.
    Ich wünsche dir alles Gute.
    Penta

  • hallo Sorra,

    ich bin dir noch eine Antwort schuldig.

    Zitat

    Wieso findest du, soll ich gar keinen Kontakt zu ihm haben? Ist das nicht wie Bestrafung? Als würde ich ihm den Rücken kehren, wenn es ihm am schlechtesten geht?


    Das Verhalten im Umgang mit Suchtkranken ist ein anderes, als mit vielen anderen kranken Menschen.
    Du kannst keinem Suchtkranken helfen, wenn er es nicht will, du solltest dich schützen, da ist es egal ob Bruder, Partner oder Freund.
    Ich habe auch mal einen solchen Satz in der Suchtberatung gehört, vom "Größenwahnsinn der CO`s". zuerst war ich sehr wütend, aber als ich mich immer weiter vorgearbeitet habe, wußte ich, das dieses Dame recht hat.
    Gestehe dir deine eigene Hilflosigkeit doch erst einmal ein, denn nur dann kannst du den nächsten Schritt gehen.
    Solange du immer noch denkst, dies und das könnte ich noch tun, wird das nichts.
    Es ist in den meisten Fällen so, das der Alkoholiker seinen persönlichen Tiefpunkt braucht, und den sollte kein CO hinauszögern. Denn das tun wir, mit unserer Hilfe.
    Es hat lange gedauert bis ich das so annehmen konnte, und es umsetzen konnte.
    Räumlich habe ich mich nicht getrennt, wir haben unter einem Dach gelebt, aber ich habe mich nicht mehr um seine Belange gekümmert, ihn nicht versorgt.
    Er ist für sich selbst verantwortlich und ich habe mich Schritt für Schritt in ein Leben gewagt, wie ich es wollte, egal was der nasse Alkoholiker dazu sagte.
    Er hat sich in dieser Zeit sehr vernachlässigt, sah teilweise sehr schlecht aus, und ich hatte ihn aufgegeben, ich habe gedacht, er lebt nicht mehr lange.
    Irgendwann kamen 2 Ereignisse, wo es anscheinend bei ihm gefunkt hat, auf jeden Fall hat er jetzt seit einem Jahr nicht getrunken.


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Hallo Emma,


    ich wollte keinesfalls was schlechtes über deine Eltern sagen.


    Kein Problem, ich habe es auch nicht gedacht, dass du diese Intention hast. :)


    Als Kind trägt man ja auch einen Teil der Eltern in sich und sicher war auch nicht alles schlecht. Auch aus religiöser Sicht, gilt es im gewissen Sinn, seine Eltern zu achten. Das wird so von Generation zu Generation weitergeben, weil ein Teil in uns will ja auch in Liebe mit den Eltern verbunden sein.
    Aus der Sicht deines Bruder, wurde er von seinem Vater gequält und von seiner Mutter nicht geschützt, daher hat er zu Beiden keine Beziehung. Die Gründe, dass der Vater krank war und die Mutter in Abhängigkeit und in der Not, konnte die Kinderseele nicht differenzieren.
    Es gibt viele dramatische Geschichten, durch Krieg, Flucht, Missbrauch etc., Traumen, die über Generationen weiter wirksam sind.

    Ich bin zwar gar nicht religiös, stimme dir aber zu, was du über die Generationen sagst. Vorallem mit dem Älterwerden, sehe ich das immer deutlicher, wie Traumen und andere Themen von Generation über Generationen weitergegeben werden.

    Danke für deine aufbauenden Worte.
    Alles Liebe,
    sorra

  • Hallo Sunny,

    du hast du wohl Recht mit den Windmühlen, es ist so frustrierend.


    Mein Ex-Mann ist leider weiter am trinken. Er hatte bereits einen Entzug, ist aber rückfällig geworden. Ein Kontakt geht mittlerweile nur, weil ich gelernt habe, ihn so zu nehmen wie er ist. Wir behandeln uns mittlerweile wieder mit Respekt, jeder hat sein Leben. Er ist der Typ der zuhause alleine trinkt, das schaue ich mir natürlich nicht mehr an. Aktiv spreche ich ihn nicht mehr auf den Alkohol an, es ist doch eigentlich auch alles gesagt worden in den letzten Jahren.


    Aha, das finde ich sehr beachtlich, dass ihr weiter respektvollen Kontakt haben könnt, obwohl er trinkt. Wie ist den die Stimmung so? Ich habe bei meinem Bruder oft das Gefühl, als wäre aufgrund der Sucht, diese Mauer bzw. dieses unausgesprochene Problem zwischen uns, die es verhindert, dass die Atmosphäre wirklich entspannt ist.
    Hast du Kinder mit deinem Ex-Mann oder seid ihr einfach so in Kontakt? Fühlst du dich irgendwie verpflichtet mit ihm den Kontakt zu halten, oder gibt es dir auch was?


    Ich habe leider auch bei meiner Schwester das Gefühl das sie entweder schon süchtig oder kurz davor ist in die Sucht zu rutschen. Ich habe sie einmal darauf angesprochen, ihr meine Bedenken dazu mitgeteilt. Sie hat es bestritten, auch wenn mein Schwager mir es eigentlich bestätigt hat. Ich kann auch da nichts machen!


    Das tut mir Leid, wegen deiner Schwester. Sie ist wahrscheinlich noch an einem anderen Punkt. Wie verhält sich ihr Mann diesbezüglich?

    Alles Gute,
    sorra

  • Hallo Penta!


    ich bin Alkoholikerin und war sehr dankbar für deinen Beitrag an anderer Stelle, in dem du deine Erlebnisse mit einer Therapeutin geschildert hast.
    Ich bin derselben Meinung wie diese Therapeutin.
    Es ist und bleibt übergriffig, wenn sich jemand (egal wer) anmaßt zu wissen, was für jemand anderen gut wäre und ihm vorschreibt, was zu tun ist. Jedenfalls ist es das so lange, wie der Betroffene noch für sich selbst entscheiden kann.

    Ich bin eigentlich auch dieser Meinung. Ich bin mir diese ganzen Dinge bewusst, aber wenn es um meine persönlichen Probleme geht, kann ich diese Gefühle, die wie Reflexe hervorkommen, leider nicht umlenken. Dieser Widerspruch in mir, macht das Gefühl der Hilflosigkeit leider nur noch größer.


    Ich bin nicht nur trockene Alkoholikerin, sondern litt sehr lange auch unter Depressionen. Mich hättest du zu meinen Tiefstzeiten mit irgendwelchen Animationen eher aggressiv gemacht, als motiviert. Ähnlich verhielt es sich bei mir, als ich noch soff. Gutes Zureden, Verständnis oder gar andauernde "versteckte" Hinweise auf Therapien hätten mich schlichtweg genervt.
    Was mir letztlich geholfen hat, waren echte Konsequenzen und Ansagen. Mehrere Menschen in meiner Umgebung haben mir gesagt, dass sie meinen Suff nicht mehr aushalten wollen (können) und brachen den Kontakt zu mir ab. Es lief darauf hinaus, dass ich ganz allein dastehe.


    Was ich sagen will. Loslassen bedeutet nicht, jemanden fallen zu lassen, sondern ihm seine Entscheidungen zuzugestehen. So schwer es auch mir manchmal fällt; jeder hat ein Recht auf sein eigenes Glück, aber auch auf sein eigenes Unglück.
    Auch dein Bruder. Ich bin sogar der Meinung, dass du Gefahr läufst, ihn zu verlieren, wenn du ihn nicht loslässt.
    Du scheinst unter deiner Nähe (gefühlsmäßig) zu deinem Bruder zu leiden. Also schau, dass du dich von deinem Bruder unabhängig machst, so schwer das auch ist. Dein Bruder darf seine eigenen Entscheidungen treffen.
    Du kannst für dich sorgen, indem du deine eigenen Grenzen erkundest und sie mit deinem Bruder besprichst.
    Vielleicht bewegt es etwas in ihm, wenn er deine Grenzen zu spüren bekommt?

    Ich verstehe, was du mir sagen willst und ich danke dir, dass du es mir sagst. Von Betroffenen zu hören, wie sie das Verhalten der Angehörigen wahrgenommen haben, hilft mir die Dinge besser zu verstehen, auch zuzüglich mit dem Aspekt der Depression. Und es bestärkt mich natürlich, zu hören, dass Leute es schaffen, mit dem Trinken aufzuhören.
    Ich versuche mich unabhängig zu machen und es ist schon viel besser geworden. Jedoch bin ich von der Idee des Tiefpunkts noch nicht komplett überzeugt.
    Für mich ist dieses Loslassen wie russisches Roulette, vielleicht geht alles gut, vielleicht auch nicht. Viele Leute schaffen den Absprung nicht. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit? Ich soll mein Leben leben und hoffen,dass mein Bruder irgendwie zu sich kommt? Und wenn nicht, stirbt er halt, Pech gehabt. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen könnte bzw. diesen Weg gehen kann...

    Danke dir trotzdem für deinen Beitrag, deine Worte waren hilfreich und auch wenn ich es nicht schaffe, mich von meiner Einstellung zu lösen, dein Rat ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen.

    Alles Liebe,
    sorra

  • Hallo Morgenrot,


    Gestehe dir deine eigene Hilflosigkeit doch erst einmal ein, denn nur dann kannst du den nächsten Schritt gehen.
    Solange du immer noch denkst, dies und das könnte ich noch tun, wird das nichts.
    Es ist in den meisten Fällen so, das der Alkoholiker seinen persönlichen Tiefpunkt braucht, und den sollte kein CO hinauszögern. Denn das tun wir, mit unserer Hilfe.

    Der Tiefpunkt ist eine psychologischer Ansatz, der auf mich sehr riskant wirkt. Ich bin leider noch immer etwas skeptisch gegenüber.
    Zur Hilflosigkeit muss ich sagen:
    - Ich denke, Hilflosigkeit ist so ziemlich das Schlimmste für mich. Hilflos zu sein, kommt für mich gleich auf = ich habe keinerlei Wirken auf der Welt. Aber wenn ich mit diesem Gedanken lebe, denke ich mir, wieso dann noch überhaupt auf der Welt sein? Dann ist es doch sinnlos. (Außerdem ist es ja auch nicht wahr, ich spüre es ja an mir, wie andere Menschen ein Wirken auf mich haben und mich positiv oder negativ bewegen.)
    Dieser Gedanke ist tief in mir verankert, und hindert mich wahrscheinlich am meisten daran Hilflosigkeit zu akzeptieren.



    Räumlich habe ich mich nicht getrennt, wir haben unter einem Dach gelebt, aber ich habe mich nicht mehr um seine Belange gekümmert, ihn nicht versorgt.
    Er ist für sich selbst verantwortlich und ich habe mich Schritt für Schritt in ein Leben gewagt, wie ich es wollte, egal was der nasse Alkoholiker dazu sagte.
    Er hat sich in dieser Zeit sehr vernachlässigt, sah teilweise sehr schlecht aus, und ich hatte ihn aufgegeben, ich habe gedacht, er lebt nicht mehr lange.
    Irgendwann kamen 2 Ereignisse, wo es anscheinend bei ihm gefunkt hat, auf jeden Fall hat er jetzt seit einem Jahr nicht getrunken.


    Wow, das ist unglaublich, dass du diese Distanz schaffen konntest, obwohl ihr räumlich so nah beieinander wart. Ich könnte mir das, bei mir nicht vorstellen. Vorallem diese Nachlässigkeit mit sich selbst beobachten zu müssen, klingt sehr hart. Wie ist eure Beziehung heute? Wohnt ihr noch immer unter einem Dach?

    Alles Liebe,
    sorra

  • Der Tiefpunkt ist eine psychologischer Ansatz, der auf mich sehr riskant wirkt. Ich bin leider noch immer etwas skeptisch gegenüber.
    Zur Hilflosigkeit muss ich sagen:
    - Ich denke, Hilflosigkeit ist so ziemlich das Schlimmste für mich. Hilflos zu sein, kommt für mich gleich auf = ich habe keinerlei Wirken auf der Welt. Aber wenn ich mit diesem Gedanken lebe, denke ich mir, wieso dann noch überhaupt auf der Welt sein? Dann ist es doch sinnlos. (Außerdem ist es ja auch nicht wahr, ich spüre es ja an mir, wie andere Menschen ein Wirken auf mich haben und mich positiv oder negativ bewegen.)
    Dieser Gedanke ist tief in mir verankert, und hindert mich wahrscheinlich am meisten daran Hilflosigkeit zu akzeptieren.

    Hallo Sorra,

    im Prinzip ist es nur fraglich, wann der Betroffene seinen Zustand als nicht mehr wünschenswert anerkennt. Es gibt hier Beispiele von Personen, die obdachlos wurden, aber auch von Personen, die ein noch scheinbar normales Doppelleben führten. In beiden Beispielen trinken die Personen nichts mehr. Beide Personen hatten ihren Tiefpunkt, obgleich er relativ war.

    Grüße

  • hallo Sorra,

    Zitat

    Hilflos zu sein, kommt für mich gleich auf = ich habe keinerlei Wirken auf der Welt.


    so in diese Richtung ging es bei mir auch, und als ich meinen nassen Alkoholiker zuhause losgelassen hatte, fing ich an, mich auf die zu "stürzen" die mir auf der Arbeit begegneten. Ich arbeite nämlich auch noch in diesem Bereich.
    Im Bereich Sucht bist du ein hilfloser Helfer, für den nassen Alkoholiker.
    Investiere deine Energie in dich, denn du bist es wert.

    Zitat

    Wohnt ihr noch immer unter einem Dach?


    ja, er ist jetzt seit einem Jahr abstinent. Deshalb ist aber noch lange nicht alles gut.
    Plötzlich hast du jemanden im Haus, der sich wieder einbringen will, der sein neues Leben leben möchte. Das ist eine 180° Wendung, und da sind beide gefordert.
    Ich bin gespannt, wie es sich weiter entwickelt. Nach so langen nassen Jahren, traue ich mich noch nicht von einer Trockenheit zu schreiben.
    Da spüre ich immer wieder, wieviel Vertrauen da verloren gegangen ist.


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

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