Ja, vor zwei Jahren...
Am Dienstag nach Pfingsten 2007 bin ich in die Entgiftung gegangen.
Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde, und das war auch gut so. Ich wurde gebeten, am Freitag vorher nochmal kurz anzurufen, um letzte Feinheiten zur Aufnahme abzuklären, wann ich da sein soll, was ich mitbringen soll etc. Die junge Frau am anderen Ende meinte, dass ich nicht vor 9 Uhr kommen bräuchte, weil davor alle Ärzte beim Blutabnehmen wären. Im Geiste sah ich dieses Procedere mit der Nadel am Arm und erinnerte mich daran, dass man davor ja nichts essen und trinken dürfe, also fragte ich treuherzig: "Äh... muss ich dann also nüchtern sein, wenn ich komme?" Erst später begriff ich, warum die Frau am anderen Ende eine Sekunde stutzte, ehe sie freundlich antwortete: "Nein, das wird nicht nötig sein!" Da rufe ich allen Ernstes auf der Entgiftungstation an, wo täglich Menschen mit mehreren Promille im Blut aufschlagen und frage, ob ich nüchtern kommen soll! So blöd kann auch nur ich sein!
An das Pfingstfest selber kann ich mich nicht mehr erinnern.
Es war wohl, wie bis dahin alle Feiertage - dauerbreit.
Sektfrühstück, dann Frühschoppen, bereits nachmittags schwer angeschlagen, irgendwie durch den Tag vegetiert, vielleicht ein kurzes Nickerchen, dann auf die "blaue Stunde" gewartet, die ich gerne auch mal früher begonnen habe, bis dann der Abend im Totalabsturz endete. Bei schönem Wetter wurde das Trinkgelage gerne auf dem Balkon abgehalten, denn man muss doch auch mal an die frische Luft... Richtig raus aus der Bude, geschweige denn, etwas Schönes unternehmen? Undenkbar! Zu Hause gibt es genau das, was ich mag, es ist billiger, und mein Bett nicht so weit.
Dienstagmorgen stand ich pünktlich auf und wollte mir noch ein paar Blusen bügeln. Schließlich würde ich ja nicht bettlägerig sein und wollte "ganz normal" rumlaufen. Während des Bügelns bekam ich einen leichten Flattermann, den ich als "Lampenfieber" deutete (ich war so naiv und wusste nicht, dass ich wieder entzügig war), also gönnte ich mir noch die letzten anderthalb Gläser Sekt, die noch vom Vorabend übrig waren. Eine neue Flasche traute ich mich nicht mehr zu öffnen, ich wollte schließlich nicht hackestramm da ankommen. Mein Mann fuhr mit mir in die Klinik, auf dem Weg zum entsprechenden Gebäude ging ein wolkenbruchartiger Regen runter, trotz Regenschirms war ich nahezu vollständig durchnässt. Auf der Station angekommen, nahm uns ein großer, fast schon bulliger Pfleger mit langem Pferdeschwanz in Empfang und grinste freundlich: "Naaa, regnet's draußen?" Jeder, der schon einmal in einer extrem angespannten Situation war, weiß, wie erleichternd so ein Lachen dann wirken kann. Ich war sooo dankbar, dass ich mit Humor empfangen wurde!
Die erste "heilige Handlung" war, dass ich pusten musste. 0,06. Mei, es gibt Schlimmeres. Dann die erste D. , ein Psychopharmakum, das verabreicht wird, um die Entzugserscheinungen zu lindern. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich ein unangenehmes Kribbeln in den Nasenflügeln verspürte, eine weitere, bis mein Kopf fast auf den Tisch knallte. Junge, Junge, das Zeug macht müde! Es dauerte noch bis mittags, bis endlich das Bett für mich frei war, dann folgte ein einstündiges Aufnahmegespräch mit dem Stationsarzt. Das war zeitweise fast schon Comedy. Ich wurde gefragt, ob ich Stimmen hörte oder ob ich manchmal Dinge sehe, die nicht da sind. "Au weia", dachte ich, "wo biste denn hier gelandet?" Eine kleine Fliege hatte sich ins Zimmer verirrt und schwirrte mir hartnäckig ums Gesicht, also versuchte ich sie ärgerlich zu verscheuchen. Der Arzt musterte mich schweigend und ich erklärte unsicher, dass da eine Fliege im Zimmer sei. Er schwieg weiter und schrieb. Endlich setzte sich die doofe Fliege auf seinen blütenweißen Ärmel, er bemerkte sie und meinte trocken: "Sie haben Recht. Da ist wirklich eine Fliege im Zimmer!" HUUUUUUUAAAAAAH! HILFE!
Die darauffolgenden Tage verliefen unspektakulär.
Es gab ein regelmäßiges Tagesprogramm, das akribisch eingehalten wurde, dazu die Medikamentenausgabe unter Aufsicht, da habe ich es manchmal bereut, dass ich so oft "Einer flog übers Kuckucksnest" geguckt habe, es fehlte also der nötige Ernst... Aber das ist mir wirklich in Erinnerung geblieben, dass wir viel gelacht haben. War die Situation wirklich so urkomisch? War es Galgenhumor? Ich glaube, es war einfach das Bewusstsein, nun endlich wirklich was gegen die Sauferei zu unternehmen und es nicht bei halbherzigen Lippenbekenntnissen zu belassen. Ich persönlich habe den Kontext "Klinik" gebraucht, um mir über die Ernsthaftigkeit meines Vorhabens bewusst zu werden. Hier zu Hause hätte ich vermutlich nur eine weitere Runde des Rumeierns eingeläutet. Und ich hatte einfach auch ein bisschen Glück. Als ich dort war, war zufälligerweise gerade eine Truppe von Mitpatienten da, zu denen ich gerade gut gepasst habe (z.B. altersmäßig) Die "Chemie" hat sozusagen gestimmt. Freilich nicht mit allen, aber mit den meisten. Das führt dazu, dass ich heute noch gerne an diese Zeit zurückdenke und mir sage "Jawoll, das haste richtig gemacht!"
Als ich von der geschlossenen auf die offene Station kam, ging's mir nicht mehr so gut. Ich bekam ein bisschen mehr Abstand und konntes manches kritischer betrachten. Da sind mir zum ersten Mal die Dummschwätzer aufgefallen, die für alles eine Erklärung oder einen Schuldigen finden - aber nie bei sich hinschauen. Auf der offenen gab's auch kein D. mehr, ich konnte mich also nicht mehr trösten mit dem Gedanken, dass der entweder einfach noch blau war oder bereits D. genommen hatte - der war tatsächlich so! Das hat mich ziemlich runtergezogen und das war auch die Zeit, in der ich öfters geweint habe und raus wollte. Naja, nach einer knappen Woche war das dann auch geschafft.
Wenn ich heute so zurückdenke, stellt sich bei mir ein eigenartiges Gefühl ein. Einerseits ist das alles schon zwei Jahre her, und doch sind die Bilder so plastisch vor meinem geistigen Auge. Kennt ihr das? Die Erinnerung an etwas, das ja nun doch schon ein Weilchen zurückliegt, aber dennoch so klar erscheint, als war's erst neulich gewesen? Ja sicher kennt ihr das. Warum sollte das nur bei mir so sein...
Falls das hier jemand liest, der sich noch nicht so sicher ist, ob er's wirklich wagen soll, dem kann ich nur sagen: Mach' es! Du wirst es nicht bereuen! In einer Suchtklinik stehen dir Menschen zur Verfügung, die ihr Handwerk beherrschen, die auf unsere Krankheit spezialisiert sind und wissen, was zu tun ist. Löse dich von der Vorstellung, dass dort die Hölle auf dich wartet, das stimmt halt einfach nicht! Du wirst nicht ans Bett festgebunden, da ist niemand, der dir ungerührt zuguckt, wie du schwitzt und zappelst. Das ist bullshit, und sowas sieht man nur in irgendwelchen reißerischen Filmen. Die Realität ist viel unspektakulärer. Und das ist gut so.
Ich bin dankbar und froh, dass ich diesen Weg gegangen bin. Ich habe es nicht auf Anhieb geschafft, ab dem Zeitpunkt keinen Alkohol mehr zu trinken. Es folgten noch 13 elende Monate, in denen ich mal mehr, mal weniger (meistens aber mehr) getrunken habe. Ende Juni letzten Jahres war es dann mal wieder soweit - entweder erneute Entgiftung oder aber endgültig das Ruder herumreißen. Ich ging zu den Ärzten und erneut wurde mir geholfen - ich bekam ein Antidepressivum. Ich weiß, dass die Vergabe eines ADs nicht ganz unumstritten ist. Es gibt so viele Depressionserkrankte, die ihre Depressionen mit Hilfe des Alkohols wegspülen, und gleichzeitig ist es bekannt, dass jahrelanger Alkoholmissbrauch Depressionen überhaupt erst entstehen lassen. Es ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei, was war zuerst da? Für mich hat es irgendwann keine Rolle mehr gespielt, ob erst die Depressionen oder erst der Alkohol da war. Nächsten Sonntag lebe ich 11 Monate konsequent abstinent und habe auch nicht im Geringsten vor, daran noch etwas zu ändern.
Euch allen vielen Dank fürs Lesen und einen wunderbaren sonnigen Pfingstsonntag!
Alles Liebe
espoir