Liebe Oiseau,
lieb dass Du an mich denkst .
Gestern hatte ich ein sehr schönes Telefonat mir meinem Mann. Als er mich fragte (!) wie es mir ginge, habe ich ganz fröhlich geantwortet:"Gut! Wir kriegen das hier prima hin. Du fehlst uns zwar, aber mach Dir mal keine Gedanken, wir schaukeln das Kind schon." Er wurde auch gleich fröhlich, und wir haben uns nur lustige Sachen erzählt. Ich habe nichts gefragt, ausser wie es ihm geht, und die Therapie war mal ganz aussen vor. Ich denke, Eure Ausführungen hier bewirken endlich mal was bei mir. Es geht mir zwar nicht besonders besser, aber ich versuche anders mit der Situation und den Gesprächen mit meinem Mann umzugehen. Ja ich bin verdammt glücklich mit meinem Mann, und ich war es auch vor der Therapie, aber natürlich lag immer der Schatten der tiefen Depressionen und des Alkoholmissbrauchs über uns. Vielleicht kann ich ja die Hoffnung haben, das nach seiner Wiederkehr alles besser wird. Aber ich habe eben genauso Angst, dass er aus der "anderen Welt" der Therapie zurückkommt, und der Alltag ihn zu hart packt; er ist dort doch wirklich in einer anderen Welt: malen, Gespräche, Gruppentherapien, Achtsamkeitstraining, Entspannung....rundum in Watte gepackt, auch wenn es für ihn ein harter Weg ist, aber eben wattiert.
Ich bin ein elendiger Pessimist, nach schwarz kommt allenfalls noch dunkelgrau. Ich fühle mich im Moment jedenfalls so. Naja, ich werde die nächsten 4 Wochen noch irgendwie hinter mich bringen, habe ja genug zu tun, und das mit GEDULD!!!!
Ich war richtig neidisch auf Dich, liebe Oiseau, dass Dein Mann so lange mit Dir telefonieren wollte, aber als ich gründlich darüber nachdachte fiel mir ein, dass ich dann auch wieder skeptisch wäre, dass es ihm nicht gefiel, dass sein Heimweh zu groß ist um sich auf seinen Genesung zu konzentrieren. Ach, in mir wohnen zwei Seelen .
Wenn ich meiner Familie nun sagen würde, ja, mein Mann ist Alkoholiker, wäre es eventuell ja ganz einfach. Alle würden schlucken, ihn bemitleiden und gut. ODER alle würden ihn wie einen Aussätzigen behandeln, und mich, wie ein armes Aschenputtel. Schon eher, ich kenne sie ja. Wenn Du Deine Freunde schon lange kennst, kannst Du sie auch einschätzen?! Meinst Du, sie hätten kein Verständnis? Die Familie kann man sich ja leider nicht aussuchen, und glaube mir, wären ein paar davon nicht in erster Linie mit mir verwandt, ich hätte niemals Kontakt zu ihnen!! Aber Freunde, die kann man sich aussuchen. Sie kommen, bleiben eine Weile auf Deinem Lebensweg, gehen wieder oder bleiben auch länger oder für immer. Das sind dann gute Freunde, und die würden auch das Alkoholproblem verstehen und damit umzugehen wissen ohne dass es Dich verletzen würde. Die anderen werden eben Deinen Lebensweg an diesem Punkt verlassen,was im erstenMoment auch wieder Verlust bedeutet, aber Du wirst sicherlich neue Menschen kennenlernen, die zu Freunden werden. Langsam aber stetig.
Ich habe zu den blöden Sprüchen nichts gesagt, weil ich mir bei meinen Geschwistern eine "Stille" angewöhnt habe. Weißt Du, ich bin mit Abstand die Jüngste (meine älteste Schwester ist 11 Jahre älter), und glaube mir, ich kann alt werden wie eine Kuh, sie wissen immer alles besser. Ich bin und bleibe die kleine, unerfahrene Schwester. Die nimmt man doch nicht ernst. Und aus dieser Prägung heraus wurde ich der "Kasper" der Familie, ich wollte irgendwann von denen gar nicht mehr ernst genommen werden. So ertrage ich mit Großmut so manchen blöden Spruch .
Ich würde mich auch sehr freuen, wenn unser offener Kontakt irgendwann mal inoffiziell werden könnte, denn ich kann mir gut vorstellen, dass wir uns vielmehr zu erzählen hätten!
Ganz liebe Grüße, Bokins