Ich verstehe die Aufregung hier und stelle folgendes einfach mal zur Diskussion, um etwas daraus zu lernen. Vielleicht mag ja der Eine oder Andere darauf eingehen.
Da ist also jemand mal so eben einen Monat (oder zwei, drei Monate) alkoholfrei und möchte angeblich trocken werden, verkrümelt sich aber aus dem Forum, sobald der erste stramme Wind aus Westen kommt. Da gibt ein Alkoholiker also einem anderen Alkoholiker die Macht darüber, was er/sie tut und wo er/sie sich wohl fühlt? Zieht sich jeden Schuh bereitwillig an, der ihm/ihr hingestellt wird? Sieht sich (wieder) in der Opferrolle? Und findet auch noch jede Menge Unterstützung darin? Und zum Abschluss des Sich-Zurückziehens dann die bei Alkoholikern nicht unüblichen Selbstzweifel, ob man denn überhaupt „richtiger“ Alkoholiker sei.
Ein recht nasses Denken und Handeln, welches ich von mir nur aus meiner nassen Zeit kenne.
Wer sich in diesem Forum anmeldet, hat mit seiner Anmeldung bestätigt, dass er/sie ein Leben ohne Alkohol erlernen möchte. Dazu gehört die Bereitschaft, sich auf dieses Forum einzulassen. Wenn mein eigener Weg in der Vergangenheit so „richtig“ gewesen wäre, wenn ich alleine zufrieden trocken werden könnte, warum bin ich dann hier? Eben, ich bin hier, um jeden Tag auf’s Neue für mich was zu lernen.
Seit ich nicht mehr trinke, weiß ich, dass nur ich für mein Handeln verantwortlich bin. Ich bin kein hilf- und wehrloses Opfer, sondern ich kann aktiv meine Rolle definieren. Ich kann für mich Hilfe nachsuchen. Ich erhalte die gewünschte Hilfe auch, ich muss sie aber dann auch zulassen, annehmen und umsetzen. Ich weiß (wie im "richtigen Leben"), dass nicht jeder Schuh, der hier rumsteht, mir auch passt. Also ziehe ich mir nur die Schuhe an, die mir passen. Die anderen lasse ich stehen für denjenigen, dem sie passen.
Und weiter: warum soll ich für jemand anderes sprechen? Jedes Forumsmitglied hier ist erwachsen und in der Lage, für sich selbst zu sprechen. Ist es meine/unsere Aufgabe, für die Belange anderer auch noch Begründungen und Rechtfertigungen zu suchen? Ich habe für mich gelernt, sobald ich anfange, mich für andere zu rechtfertigen, ist etwas nicht stimmig und ich muss bei mir nachsehen, warum ich mich aufrege. Und wenn ich in meiner nassen Zeit jemand „in Schutz“ genommen habe, dann nur, um von meinen eigenen Unzulänglichkeiten/Defiziten abzulenken. Es war viel bequemer, mich auf Nebenkriegsschauplätzen als Samariter zu präsentieren, der ach so geschundenen Kreatur beizustehen, als mich mit meiner eigenen Trockenheitsarbeit auseinanderzusetzen.
Thema Rückzug: ich bin in meiner nassen Zeit immer dann geflüchtet und habe mich zurückgezogen wenn ich gemerkt habe, dass ich an einem Punkt angelangt war, an dem ich mich hätte verändern müssen. Veränderung im Sinne von tatsächlich etwas gegen meinen Alkoholmissbrauch, gegen meine Alkoholabhängigkeit, gegen meine Sucht zu unternehmen. Ich weiß nur für mich, dass ich genau diese Flucht vor der Realität seit meiner Trockenheit nicht mehr möchte. Ich sehe seither lieber der unangenehmsten Wahrheit ins Auge und stelle mich der jeweiligen Situation, als mich durch Flucht vor mir selbst wieder in meine alten, verlogenen Suchtmuster zurück zu begeben. Ich finde lieber Wege um trocken zu bleiben, anstatt Gründe zu suchen, warum etwas nicht geht.
Und schlussendlich: der Selbstzweifel, „bin ich’s“ oder „bin ich’s nicht“? So lange ich den noch hatte, wollte ich kein Alkoholiker sein und konnte mich nicht darauf einlassen, trocken zu werden. Ich machte Trinkpausen, aber keine Schritte in die Trockenheit. Ich belog mich und Andere, indem ich mir durch Aktionismus vorspiegelte, etwas zu unternehmen. In Wahrheit wartete ich nur auf eine Gelegenheit, um wieder trinken zu können. Erst als ich mir eingestand “ich bin Alkoholiker“, konnte ich auch die Hilfe anderer, trockener Alkoholiker annehmen. Auch wenn ich mit deren Ansichten zu Beginn nichts anfangen konnte, so habe ich die Verhaltensweisen einfach umgesetzt. Denn deren Weg hatte mir gezeigt, dass es möglich ist, loszukommen vom Trinken. Meine Wege in der Vergangenheit hatten nur immer zurück zum Alkohol geführt, also versagt.
Wem soll und will ich glauben? Ich halte mich nach wie vor lieber an die Menschen (und deren gelebte Erfahrung), die bereits langfristig ohne Alkohol leben.
Und heute? Nun, heute stelle ich Dinge fest, die mir auffallen. Auffallen nach knapp fünf Jahren Trockenheit, viel aktiver Selbsthilfe und dem permanenten Kontakt zu vielen Alkoholikern. Ich hinterfrage auch Dinge, die mir so nicht einleuchten oder nicht stimmig erscheinen. Was ich definitiv nicht mache, ist Menschen hier vorsätzlich zu vergraulen, um danach schenkel-/schulterklopfend und lachend vor dem Rechner zu sitzen. Wer das glaubt, unterschätzt mich und überschätzt sich selbst masslos. Was ich auch nicht mache: ich rede niemand nach dem Mund. Schon gar nicht irgendwelchen "halbtrockenen" Alkoholikern, die das gerne hätten.
LG
Spedi