• Die Zeit nach meiner Therapie begann drei Wochen vor dem Ende derselben.

    “Externe Tage” hieß der Ausflug aus der Käseglocke. Jeder bekam zwei bis drei Tage Heimataufenthalt: Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag. Der Sinn dieser therapeutischen Maßnahme lag unter anderem in der Vorbereitung der Vorbereitung: Genaue Planung der Fahrt vom Verlassen der Klinik bis zur Rückkehr (Fahrplanstudium, Verbindungen etc.), Anlaufen bestimmter Stellen vor Ort (u.a. Arbeitgeber, Beratungsstelle, Arzt) mit entsprechender Terminvereinbarung und anzusprechender Themen und natürlich Zurechtfinden und Bewähren in der gewohnten Umgebung. Die Planung musste vor dem Team vorgestellt werden und wurde natürlich rückgemeldet.


    Ich bekam drei Tage genehmigt, hatte mir eine Fahrkarte im Nachbarort gekauft und bestellte mir eine Woche vorher ein Taxi, um den ca. 30 km entfernten Bahnhof zu erreichen. Wegen der frühen Stunde fuhr noch kein Bus und Frühstück musste ich am Abend zuvor “bunkern”.

    Der Tag nahte und ich fühlte mich gut gerüstet: Fahrkarte vorhanden, Taxi mit 45 Minuten Zeitpuffer zum Fahrplan bestellt, Termine gut gelegt, so dass ich Zeit genug hatte, meine privaten Besuche abzustatten.

    Ein bisschen gespannte Neugier hatte sich meiner bemächtigt. Meine erste Reise alleine seit sechzehn Jahren mit Bus und Bahn. Keine Spur aber von den Beklemmungen, die ich früher bei dem Gedanken hatte. In den letzten Monaten war ich ja mit der Gruppe hin und her gebust und gebahnt. Nun also alleine. Mit Umsteigen.

    Der Tag graute bzw. weißte, wie mir ein Blick aus dem Fenster zeigte.

    Ausgerechnet heute!!! Wochenlang hatten wir auf Schnee gewartet (wenn unsere Gruppe keinen Winterdienst hatte :? ) und nun das. Ich erledigte meine Morgentoilette und verließ leise (morgens um halb sechs) Zimmer und Station.

    Im Foyer rief ich das Taxiunternehmen an und fragte, ob mein Termin gehalten würde. “Jaa…, aber etwas später. Es hat geschneit” war die Auskunft.

    Nun, das Taxi kam und ich hatte noch zwanzig Minuten “Reserve”. Es war eine sehr ruhige Fahrt durch den morgendlichen Wald und Schneewehen, hin und wieder farblich unterlegt von den Rundumlichtern der Schneepflüge. Und wie das in den Bergen so ist, so kam es dann: Je tiefer wir kamen, desto Matsch.

    Ich war fünfzehn Minuten vor der Zeit am Bahnhof und rauchte mit dem Taxifahrer noch eine Zigarette.

    Der Zug kam… ”etwa fünfzehn Minuten später” quäkte der Fahrdienstleiter aus dem Lautsprecher. Beim ersten Umsteigen musste ich einen Intercity erreichen (zum ersten Mal ein IC!), dazu hatte ich dreißig Minuten Zeit auf einem unbekannten, großen Bahnhof. ICs warten nicht.

    Der Zug kam und gleich darauf eine Überraschung, die mich freundlich fragte, ob ich einen Kaffee möchte. TOLL!

    Als ich den Kaffee getrunken (und bezahlt) hatte, war der Zug kaputt. Wir standen auf einem ländlichen Bahnhof. Der Zug blockierte das Heimatgleis und mein IC würde ohne mich fahren. Was nun?

    Aus der anderen Richtung wurde ein Ersatzzug nach irgendwo geschickt und ich beschloss spontan einzusteigen. Lieber im Warmen sitzen und fahren als in der Kälte stehen und warten. Alles Weitere würde sich zeigen. Ich war erstaunt, wie gelassen ich die Situation meisterte, hatte mich doch sonst schon die Anwesenheit auf einem Bahnsteig Schwindel und Schweißausbrüche gekostet.

    Um´s kurz zu machen: Mit Nahverkehr und S- Bahn im Zickzack NRW durchkreuzt rollte ich mit knapp einstündiger Verspätung in den heimatlichen Bahnhof. Ein seltsames Gefühl nach so langer Zeit. Alles kam mir so bekannt vor, aber irgendwie auch weit weg. Hier komme ich her, will ich wieder hierhin?

    Ich stieg aus und ging durch die Stadt. Ich fühlte mich beobachtet, obwohl ich ausnahmsweise mal keine Bekannten traf.

    Gehöre ich hierhin? Noch? Wieder?

    Fremde Heimat nach Heimat in der Fremde...

    "Meine" Straße, "mein" Haus, "meine" Wohnung. Geheizt. etwas im Kühlschrank. Blumen auf dem Tisch: “Herzlich willkommen”

    Eine SMS an meinen Zimmergenossen: Angekommen.

    Geduscht, umgezogen und die ersten Besuche, keine Zeit vergeuden.

    Zuhause-

    unterwegs…

    unterwegs...

  • Hallo kommal,

    schön, dass Du uns an Deiner Reise wieder teilnehmen lässt!

    Ich warte wieder ganz gespannt auf die Fortsetzung!

    Lieben Gruß
    Speedy

  • Zuhause-

    unterwegs…


    Das Gespräch bei meinem Hausarzt dauerte nicht lange. Der kennt mich lange genug um zu sehen, wie es mir geht. Es hätte nicht vieler Worte gebraucht (hab ich aber), um mein Befinden zu schildern. .

    In der Beratungsstelle ging es nicht viel anders. Oft genug hatte ich hier gesessen und bin meinem “starken Mitteilungsbedürfnis” nachgekommen. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass mein Gesprächspartner selbst in “meiner” Klinik ein paar Tage hospitiert hatte.

    Ernsterer Art war da schon das Gespräch bei meinem Arbeitgeber. Hier hatte ich mir vorher so meine Gedanken gemacht. Nicht nur in den Therapiegesprächen, nein, auch jetzt wo ich in meiner alten Umgebung war. Die zentrale Frage war natürlich: “Wie soll es weitergehen?” Genauer gedacht: Was soll ich tun, wenn ich wieder zurück bin? Meine Arbeit ging ja ab und an schwanger mit Alkohol.

    Ich war rechtzeitig genug in der Firma, um mit einigen Kollegen “ein paar” Worte zu wechseln. Im Gespräch mit meinem Abteilungsleiter schilderte ich zunächst den Verlauf und die Erfahrungen aus den letzten Monaten. Auch meine Vorstellungen über meine zukünftige Tätigkeit und den betrieblichen Kontakt mit Alk brachte ich vor.

    Hilfreich war auch die Erkenntnis, dass sich in meiner Abwesenheit gleich drei Kollegen um meine Vertretung bemüht hatten. Stichwort: Überstunden.

    Im Laufe des Gespräches entwickelte sich das weiter, was ja im Vorfeld schon angedacht war: Ein anderer Arbeitsplatz. Aus diesem Gedanken heraus sollte sich im Lauf der nächsten Wochen ein Prozess entwickeln an dessen Ende eine Lösung stand, mit der alle zufrieden waren.

    In allen Gesprächen bekam ich aber auch rückgemeldet, dass durchaus e Veränderungen mit mir vonstatten gegangen waren. Ich bemerkte auch, dass ich zuhören und meine Gedanken zu einer konstruktiven Antwort ordnen und vortragen konnte.

    Kurzum: Der “offizielle Teil” war ein Erfolg.

    Von meinen restlichen Besuchen ist mir “nur” noch in Erinnerung, dass ich überall herzlich empfangen worden bin. Und erzählt habe ich…

    Die beiden Abende schreckten mich nicht. Alleine zuhause war ich ja gewohnt und die Wohnung war vor der Entgiftung ja schon getrocknet. Ich erwischte mich aber an beiden Abenden dabei, dass ich lange und viel Kaffee trank- Suchtverlagerung???

    Hierzu ist zu sagen, dass ich jahrzehntelang Tee getrunken habe. Nun möchte ich mich nicht als Teetrinker bezeichnen, die wären wohl beleidigt. Der Tee hatte den Vorteil, dass er die morgendliche Übelkeit nicht verstärkte. Kaffee trank ich erst wieder seit Beginn der Therapie. Dort gab´s zum Frühstück nämlich keinen und der Weg in die Küche zum Wasser holen war recht umständlich. “DEN Kaffee kannst Du ruhig trinken” sagte am ersten Morgen mein Tischnachbar. So blieb´s dabei und ich genoss den alten, neuen Geschmack.

    Aber dieser “Genuss” in den Abendstunden… gerade zu meiner Saufzeit? Ich habe es nach meiner Rückkehr in der Gruppe vorgebracht und mir lange Gedanken dazu gemacht. Die Situation war wie früher: Feierabend, TV, PC, nur kein Alk sondern Kaffee. UND ALLEIN.

    Die Zeit verging wie im Flug und meine Rückreise nahte. Anders als bei meiner Ankunft fühlte ich mich mittlerweile wieder heimisch und freute mich schon auf mein Therapieende. Zumal ich mit meinem Arbeitgeber vereinbart hatte, noch zwei Wochen Urlaub dranzuhängen (der hatte sich ja auch angesammelt) um auch hier wieder “anzukommen”.

    Auf der Rückfahrt, die übrigens störungsfrei verlief, machte ich einen Zwischenstop. Ich wollte einen Abstecher in meine Vergangenheit machen. Einen Ort aufsuchen, an den ich sehr unangenehme Erinnerungen hatte. Ich wollte erleben, wie ich mich und was ich dort fühlte.

    Es war nichts Besonderes. Ich habe mir die Örtlichkeit angesehen, Veränderungen registriert und ansonsten weder negative noch positive Regungen verspürt. Ich war halt noch mal da und das war´s. Abgehakt, erledigt- das wollte ich wissen.

    Die restlichen Etappen mit Umsteigen, warten und nach meiner Ankunft einem Stück Kuchen (und Kaffee) verliefen wie erwähnt problemlos. Die Berge, der seit Monaten vertraute Anblick, der Wald… . Nein, ich wusste jetzt, wo ich hingehörte. Hier ist es schön, zuhause ist woanders.

    Ich betrat die Klinik, meldete mich beim diensthabenden Therapeuten zurück und ging zum Pusten auf die Aufnahmestation.

    Und dann “nach oben”. Großes Hallo, wie immer bei solchen Gelegenheiten. “Wie war´s”, “Erzähl mal” usw.

    Und ich war müde. Die Zeit “da draußen”, das pulsierende Leben, der Verkehr, die vielen Leute, meine Gespräche… Eindrücke…

    Über alles musste ich ja auch noch Tagebuch schreiben. Externe Tage sind Therapieeinheiten, kein Urlaub. Und vor der Gruppe und dem Team musste ich in den folgenden Tagen natürlich auch berichten.

    Puuh war ich müde und froh, als die Käseglocke sich noch einmal schützend über mich stülpte und ich das Schnarchen meines Zimmergenossen hörte- Heimatklänge.

    Noch drei Wochen…

    Unterwegs…

    unterwegs...

  • und? wie waren die letzten 3 wochen? wie ging es dann nach hause und weiter?

    oooooooch!

    komm mal, kommal!!!

  • Unterwegs…

    Die letzten drei Wochen vergingen schnell. Wenngleich ich sie nicht auf die leichte Schulter nahm. Bei vielen Mitpatienten hatte ich erlebt, dass sie hier noch einmal tief eintauchten.

    Zwei Dinge sind mir noch gegenwärtig:

    Das Abschlussgespräch mit unserem Teamleiter: “Sie sind ein Patient im Endstadium”…”haben alles auf dem Monitor, was sie brauchen”… und die üblichen Wünsche. Meinen Suchtbericht sprach er nur am Rande an.

    Und das Gespräch mit meinem Bezugstherapeuten. Es war klar, dass mir die Zeit in der Gruppe gut getan hatte. Ich deutete an, evtl. auch das Internet zu nutzen, um neue Bekanntschaften zu machen. Und da kam als Antwort: “WARUM DENN NICHT!?”

    Schließlich hatte mir das Net ja vor ungefähr acht Monaten geholfen, eine ziemlich schnelle Einsicht in meine Krankheit zu bekommen.

    Abschied. Von de ERGO, der Schwimmhalle, dm Speisesaal, den Therapeuten, den Mitpatienten, dem Ort und nicht zuletzt von “meinem” Wald. Ich wusste damals schon, dass ich wiederkommen würde, zu sehr hatte es mir die Landschaft angetan.

    Ich habe niemandem etwas versprochen. Kontakte habe ich heute noch zu meinem Zimmerkumpan und vier weiteren Weggefährten und Gefährtinnen.

    Die Rückfahrt (ich wurde abgeholt) gestaltete sich recht aufregend. War doch am Vorabend “Kyrill” über das Land gefegt. Aufräumarbeiten allenthalben. Die Vielfalt der Eindrücke kannte ich ja noch aus meinen externen Tagen, trotzdem wirkten sie intensiv. Aber ich war neugierig auf das, was kommt.

    Die nächsten zwei Wochen hatte ich ja Urlaub genommen und ich nutzte die Zeit um meine Wohnung weiter umzuräumen. Genauer gesagt begann ich auszumisten. Denn hier wollte ich ja nicht bleiben. Ballast abwerfen sozusagen. Abschied vorbereiten.

    Wiedersehensfreude allenthalben. Kurzbesuche in der Firma, bei den Nachbarn. Kein Getuschel, keine Häme. Alle wussten ja, wo ich gewesen bin. Ich wurde herzlich begrüßt.

    Bei meinem Hausarzt. Bei Freunden: “Jetzt guckst Du mir wieder in die Augen, wenn wir reden!” Rückmeldungen, die die Seele streichelten. Verpflichtung? Ja. Für mich. Nur für mich!

    Und Erstgespräch für die Nachsorge, die in Kürze beginnen sollte. Ebenfalls über die Beratungsstelle, aber mit anderer Leitung. Eine neue Gruppe sollte sich finden. Teils aus älteren Mitgliedern, teils aus “Frischlingen” wie mir, die gerade erst aus der Therapie kamen. Es hörte sich spannend und interessant an, was unser Gruppenleiter mir erzählte. In drei Wochen sollte es losgehen.

    Der Alltag. Alltag? Wie soll es weitergehen? Kontakte knüpfen? Wohnungsmäßig? Auf der Arbeit? Hier sollten noch etliche Gespräche folgen.

    Schon in der Therapie hatte ich mich für ein paar Kurse bei der Volkshochschule angemeldet. Einer kollidierte terminmäßig mit meiner Nachsorge. Ein weiterer hätte mich fünf Stunden Fahrt gekostet (ÖPNV) und fiel damit auch raus. Zu einem bin ich tatsächlich gegangen.

    Ein Mitbringsel aus der Therapie war ein neues Hobby: Das Fotografieren. Hatte ich doch etwa 800 Fotos mitgebracht. Große Bilder auf kleiner Karte- digital eben. Der Vorteil dieser Technik war für mich, dass ich Material “schießen” und zuhause speichern konnte und bei schlechtem Wetter daheim nachbearbeitete. Das nötige Werkzeug lieferte mir wiederum das weltumspannende Netz.

    Für die Wochenenden hatte ich eine Idee, die ich auch umsetzte. Jeden Samstag und Sonntag, morgens zu einer bestimmten Zeit, fuhr ich zu einem bestimmten Park. Ich hoffte auf diese Weise Bekanntschaften zu machen, aus regelmäßigem sehen und gesehen werden, über einen kurzen Gruß, mit der Zeit mit “jemand” in´s Gespräch zu kommen. Ein Langzeitversuch sozusagen, der mir aber Spaß machte, da ich mich auch für die Sache selber, den Park nämlich, interessierte (auch digital).

    Mich hatte ich ja mittlerweile gefunden, jetzt aber suchte ich kommaline. Ich wusste nicht ihren Namen, nicht wie sie aussah und auch nicht ihre Adresse.

    Ich war auf der Suche…

    …unterwegs…

    unterwegs...

  • Hi Kommal!

    Ich freu mich , das du deine Geschichte jetzt weiter scheibst. Es macht wirklich viel Spaß sie zu lesen und hilft vieles zu verstehen. Danke.

    LG Sabine

    Nicht ärgern nur wundern!

  • Hallo kommal,

    ich weiß ja ungefähr wie es weiter geht, trotzdem freue ich mich auf neue Folgen.

    Schönen Schreibstil hast du.

    Gruß Manfred

    Aus Steinen die man dir in den Weg legt, kann man auch was Schönes bauen (Johann W.v.Goethe)

  • Noch zwei Wochen, dann sollte die Arbeit wieder losgehen. Einkaufen, Besuche (auch in der Firma), auf- und ausräumen der Wohnung, ankommen…

    Ich freute mich auf den Arbeitsbeginn, wurde ich doch von meinen Vertretern sehnsüchtig zurückerwartet. Als “Dienstleister” machte ich ja keinen Job von der Stange, sondern musste mich täglich auf neue Situationen und Personen einstellen. Eine Arbeit, bei der eins immens wichtig, aber nicht zu lernen ist: Erfahrung. Die hatte ich und darauf baute ich.

    NEIN sagen, wenn´s sein muss. Eine wichtige Voraussetzung für trockenes Leben. Für Leben. Alkoholfreies Umfeld. Darauf hatte ich von Anfang an in meinen Gesprächen gepocht, zudem wir wie viele Firmen mittlerweile eine Vereinbarung zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat haben, die diese Dinge regelt.

    Nun, zunächst mal galt es, den Einstieg zu bewältigen. Ich wurde allseits freundlich, oft herzlich begrüßt, alle wussten ja, wo ich die letzten Monate verbracht hatte.

    In meiner Abwesenheit hatte sich schon einiges zum Besseren gewendet, dass ich gerne übernahm. Der Unkenntnis über meine Krankheit, bzw. der daraus folgenden gelebten Konsequenzen für mich versuchte ich mit Aufklärung zu begegnen. Daraus ergaben sich natürlich viele Gespräche. Wohlgemerkt ohne missionarischen Charakter. Heute noch geschieht es oft, dass das Thema Alkoholismus unvermittelt zum Zentrum eines Gespräches wird, dass ganz anders begann. Fast jede (r) kennt Eine(n)…

    Ein Erlebnis ist mir noch in Erinnerung, dass mir zeigte, wie auch versucht wurde, meine Situation auszunutzen: Einem Kollegen, der oft und gerne auf meine Dienste zurückgriff hatte ich erzählt, wie wichtig es für mich ist Grenzen zu ziehen. Auch durch “Nein” sagen. Genau der hatte mal wieder “plötzlich und unerwartet” das Bedürfnis, sich meiner Dienste zu bedienen. Da ich aber zu der Zeit mit anderen, wesentlich wichtigeren Dingen beschäftigt war, sagte ich ihm ab.

    Kurz darauf verkündigte er mir freundlich, dass er in der nächsten Abteilungsleiterbesprechung meine Absetzung verlangen würde, da ich ja offensichtlich in alte Verhaltensweisen zurückfalle (die Formulierung hatte er von mir übernommen).

    Alsbald wurde ich zu einem Gespräch mit meinem Abteilungsleiter gebeten, der mir genau das vortrug. Ich erklärte ihm, dass der Kollege offenbar nicht verstanden habe, dass mein “Nein” eben diesem galt, weil er wieder einmal selber Dinge verschlafen hatte und dann meinte, jederzeit und ohne zu fragen auf mich zurückgreifen zu können. Alternativ hätte ich anderweitige Zusagen nicht einhalten können- wie früher.

    Die Luft war raus, doch die Geschichte hat mich bei näherer Betrachtung darauf gebracht, dass ich diese Arbeit gar nicht mehr machen wollte. Zu unstrukturiert war der Arbeitstag, zu unregelmäßig die Zeiten und letztlich zu nahe am Alkohol. Wenn auch verpackt und nicht allgegenwärtig.

    Ich erwähnte das auch in diesem Gespräch und das Thema sollte sich in den nächsten Wochen etablieren.

    Mittlerweile war auch die “erste Stunde” Nachsorge vorbei. Die Gruppe bestand aus zwei Polen (nein! Wie Nordpol) und einem Kern. Pol eins waren zwei ganz alte Hasen, von denen jede Rückmeldung messerscharf war und Pol zwei war ein Neuzugang und eben ich. Dazu kamen weitere acht Personen, die aus verschiedenen Gründen seit ein paar Wochen teilnahmen. Natürlich stellten wir Neuen uns vor, was bei meinem erhöhten Mitteilungsbedürfnis a) kein Problem für mich darstellte und b) die anderen fast um die wohlverdiente Pause brachte.

    Danach stellte sich der zweite Frischling vor. Er käme gerade aus der Therapie und sei es nicht gewohnt, vor so vielen Menschen zu reden. DAS hat mich dann doch fast vom Stuhl gehauen: “Wo kommt der denn her???” DACHTE ich. Manchmal kann ich nämlich auch den Mund halten. Aber dezent nachgefragt habe ich dann doch, ob er eine Gruppentherapie gemacht hat.

    Die Arbeit lief weiter, ich frönte meinen Hobbies, versuchte mich in der Nachsorge einzubringen und von dort mitzunehmen, ich erfreute mich meines trockenen Lebens.

    Die Zeit verging… und eines Tages merkte ich:

    MORGEN IST DER 19. MAI

    unterwegs...

  • MORGEN IST DER 19. MAI

    Ich musste dahin, ich wollte noch mal DA hin.

    Da, wo alles begann und wo ich die Wartezeit auf meine Therapie überbrückt hatte: In die Klinik.

    Vor genau einem Jahr: Entgiftung

    Es war Samstag, vormittags so gegen zehn Uhr, als ich auf dem Gelände ankam. Alles war mir noch so vertraut, als wäre ich erst gestern hier weggefahren. Mich hat´s nicht gewundert, schließlich habe ich hier vier entscheidende Monate meines Lebens zugebracht. Inklusive einer tragischen Liaison, die mich damals zwar ein paar Wochen emotional sehr belastet hatte, letztendlich für meinen weiteren “Werdegang” eine anständige Lehre war.

    Mit etwas mulmigem Gefühl betrat ich die Entgiftungsstation. Würde ich “alte Bekannte” aus meiner Zeit wieder sehen? Kopfkino aus und rein. Nein, es waren zwar keine Bekannten unter den Patienten, die dort saßen, aber den Ausdruck in ihren Gesichter, den kannte ich von früher: Angst, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, ein wenig Neugier (“ein Neuer?“)…

    Die Spuren jahrelangen Alkoholkonsums.

    Das anwesende Pflegepersonal war mir ebenfalls unbekannt, sodass ich nach einem kurzen Gespräch die Station wieder verließ.

    Schließlich musste ich ja doch noch dem Ruf einer hier begonnenen Liebe folgen. Und ich hörte ihn rufen: Den Wald! Wie viele Stunden hatte ich hier verbracht? Immer größere Kreise gezogen, die Nähe zur Natur wiederentdeckt, mit dem Fotografieren begonnen… Mich eingelaufen für die Therapie.

    Auch hier hatte Kyrill seine Spuren hinterlassen. Abgeknickte und umgestürzte Bäume, die Aufräumarbeiten noch lange nicht beendet. Wie anderswo.

    Und während ich so um einen entwurzelten Baum herumkletterte und dabei an meinem Fotoapparat herumnestelte, geschah es: Ich rutschte aus und hatte mit meinem Unterboden einen recht abrupten Bodenkontakt. Und da der Waldboden, insbesondere wenn er nass ist, besonders Oberbekleidung anzieht, sah ich entsprechend aus.

    Ich erreichte unbemerkt mein Auto und setzte mich hinein. Aber irgendwie hatte die Schwerkraft bei meiner plötzlichen Richtungsänderung ein paar Rädchen in meinem Kopf animiert, sich wieder zu drehen.

    Ich fuhr nach Hause, zog mich um und wollte mir einen ruhigen Nachmittag machen. Vielleicht ein bisschen mit dem Fahrrad fahren, Besuche, fernsehen, lesen…
    :?:
    Aber mein Abflug im Wald ging mir nicht aus dem Kopf. IRGENDWAS hatte das zu bedeuten. Meine Gedanken rotierten. Bis ich auf die Lösung kam. Ich war jetzt gut ein Vierteljahr aus der Therapie zurück. Was hatte ich in dieser Zeit verändert? Was hatte ich unternommen, außer nicht getrunken zu haben?
    :?:
    Gut, die Arbeitszeiten hatten sich zum Positiven geändert, das war aber eher eine Folge des Vertretungsplanes, weniger mein Verdienst. Ich war zweimal in “meinem” Wald gewesen. Einmal, um mir die Folgen von “Kyrill” anzusehen und zum Zweiten, um mich von den letzten drei Mitgliedern “meiner Gruppe” zu verabschieden. Die Nachsorge besuchte ich regelmäßig und gerne, ich war wieder mehr unterwegs, auch regelmäßig in meinem Park. Ich hatte Kurse belegt und manchmal auch besucht, aber im Grunde genommen bin ich nüchtern in meiner Vergangenheit rumgerannt und keinen entscheidenden Schritt weitergekommen.
    :!:
    ICH WAR IMMER NOCH ALLEIN.
    :!:
    Und in meinem Hinterkopf hörte ich die Stimme meines Therapeuten: “Warum denn nicht?!”

    Ich ging ins Internet, suchte mir in einem Vergleich den vermeintlich seriösesten Anbieter heraus und meldete mich bei einer freundlichen “Kontaktbörse” an.

    Und ich glaube, da ging es mir wie so manchem und mancher hier im Vorstellungsbereich (bitte entschuldigt den Vergleich): Was schreib ich dahin???

    Ich habe es oft geändert.


    Heute war ich übrigens wieder DA. Ich musste wieder mal dahin. Ich war noch nicht ganz auf dem Parkplatz, da wusste ich, warum. Es war Sommerfest- und ich war alleine da. Ich habe nur eine kurze Runde gedreht und bin wieder gefahren.
    :idea:
    Kommaline habe ich schmerzhaft vermisst. Mir wurde bewusst, was ich an ihr habe. Aber spätestens Montag haben wir uns wieder und sind weiter gemeinsam

    :arrow: unterwegs…

    unterwegs...

  • Hallo, bin Marian und ganz neu hier. Aber eigentlich hätte ich aus meiner Problematik heraus schon ganz lange hier sein müssen.
    Ne, die Erzählung beeindruckt mich. Ich war zunächst bei der Entgiftung (3 Wochen) und habe dort ähnliche Gedanken gehabt, nur nicht aufgeschrieben. Aber ich erkenne mich wieder. Vielleicht ist das manchmal so, das alle diese Erlebnisse, die Ruhe, die Gespräche für den einen oder anderen doch den Punkt im Lebensabschnitt darstellen. Und es einen endlich nur für sich persönlich begreifbar machen, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Denn der Tod wartet und sterben wird man dann in der Regel viel eher.
    Warum ich Dir schreibe? Eins hat mich verblüfft. Das mit dem Kaffee am Abend. Denn bei mir (ich habe nie viel Kaffee getrunken), gehen locker mal so 4-5 Tassen nach 22.00 Uhr durch die Kehle. Deine eigene Erfahrung, Dein Empfinden (Suchtverlagerung) und Deine Meinung würde ich ganz gerne mal wissen. Marian

    Habe lange mein Problem negiert, bis es zu spät war. Stehe jetzt vor einer Situation, die ich noch nicht überschauen kann (Haus, Ratenzahlung, noch intakte Familie, Job weg, Führerschein weg).

  • Hallo, bin Marian und ganz neu hier. Aber eigentlich hätte ich aus meiner Problematik heraus schon ganz lange hier sein müssen.
    Ne, die Erzählung beeindruckt mich. Ich war zunächst bei der Entgiftung (3 Wochen) und habe dort ähnliche Gedanken gehabt, nur nicht aufgeschrieben. Aber ich erkenne mich wieder. Vielleicht ist das manchmal so, das alle diese Erlebnisse, die Ruhe, die Gespräche für den einen oder anderen doch den Punkt im Lebensabschnitt darstellen. Und es einen endlich nur für sich persönlich begreifbar machen, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Denn der Tod wartet und sterben wird man dann in der Regel viel eher.
    Warum ich Dir schreibe? Eins hat mich verblüfft. Das mit dem Kaffee am Abend. Denn bei mir (ich habe nie viel Kaffee getrunken), gehen locker mal so 4-5 Tassen nach 22.00 Uhr durch die Kehle. Deine eigene Erfahrung, Dein Empfinden (Suchtverlagerung) und Deine Meinung würde ich ganz gerne mal wissen. Marian

    Habe lange mein Problem negiert, bis es zu spät war. Stehe jetzt vor einer Situation, die ich noch nicht überschauen kann (Haus, Ratenzahlung, noch intakte Familie, Job weg, Führerschein weg).

  • Hallo marianee,

    Zitat

    Deine eigene Erfahrung, Dein Empfinden (Suchtverlagerung) und Deine Meinung würde ich ganz gerne mal wissen. Marian

    Seit meiner Entgiftung hilft mir mein Tagebuch. Hier schreibe ich täglich auf, was ich getan habe, wie ich´s getan habe und vor alle auch, wie ich mich und was ich gefühlt habe. Alles möglichst zeitnah. Morgens (wie habe ich geschlafen?), mittags, abends.

    Ich war damals froh (ja, ein bisschen stolz), die Situation erkannt zu haben. Aber das änderte natürlich nichts. ICH musste etwas ändern. Ich kann hier nicht detailliert darauf eingehen, aber ich habe meine Zeit anders genutzt. U.A. habe ich wieder begonnen zu lesen.

    LG kommal (enturlaubt)

    unterwegs...

  • Im Herbst überschlugen sich die Ereignisse zwar nicht, aber ich hatte so eine Art persönlichen Erntedank.

    Die vielen Gespräche, die ich in den letzten Monaten geführt hatte, mein bewusstes Wahrnehmen, meine Fähigkeit, zuzuhören und meine Gedanken und Vorstellungen klar zu äußern… …all das trug jetzt Früchte.

    Ich bekam den von mir gewünschten Arbeitsplatz in der Firma und konnte dadurch meinen Tag und vor allem meine Freizeit ganz anders, nämlich strukturiert, gestalten. Die neue Tätigkeit war mit der vorhergehenden nicht zu vergleichen. Vorbei die Enge, in der ich mich den ganzen Tag bewegte UND: Schluss mit den zahlreichen Überstunden und der Wochenendarbeit. Geregelte Arbeitszeiten!

    Wie sehr diese Änderung mein Leben beeinflusste (und damit auch mein “trocken bleiben”) fiel mir recht bald beim Schreiben meines Tagebuches auf. Die Gewichtung Arbeit/Freizeit hatte sich massiv verschoben. Waren früher drei Viertel meines geschriebenen Tages mit “Arbeit” gefüllt, waren jetzt 25 geschriebene Prozent von "Freizeit" umzingelt.

    Wobei ich betonen möchte, dass mir meine neue Tätigkeit sehr viel Freude macht. Sie ist ganz anders als die alte, und doch so ähnlich: Ich habe viel mit Menschen zu tun (als Dienstleister) und kann somit mein gMb (für Neuleser: gesteigertes Mitteilungsbedürfnis) voll ausleben.

    Natürlich galt es auch, mich durchzusetzen. Es gab in der Anfangszeit viele Situationen, die ich früher nur mit trinken kompensiert hätte. Jetzt stand ich zu meiner Meinung, auch wenn es zu ein paar “ernsten” Gesprächen führte.

    Ich wurde nicht kontrolliert, doch ich bemerkte schon, dass wenige mich mit einem gewissen Misstrauen beobachteten. Mir war´s ehrlich egal, ich versuchte meinen Weg gerade zu gehen. Machte ich Fehler, dann stand ich dazu. Keine Ausflüchte, keine Beschönigungen: “Ja, so war´s” und die Luft war raus!

    Beflügelt von dieser Entwicklung machte ich jetzt auch Dampf auf der anderen Baustelle. Die Wohnungsfrage musste vom Tisch. Genauer: Eine andere Unterkunft gefunden werden. Ich ließ meine Kontakte spielen und binnen einer Woche hatte ich Erfolg. Keine Luxusherberge, aber preiswert, in der richtigen Größe und in ruhiger Lage. Leider musste ich nach kurzer Zeit feststellen, dass in diesem Haus ein nasser Alkoholiker wohnt. Kontakt gibt es aber nur über die übliche Grußfloskel, und das auch recht selten.

    So bin ich also noch einmal ein “Neunmonatskind” geworden. Solange war es nämlich her, dass ich aus der Käseglocke entlassen war.

    Ein Großteil meiner Therapieziele für die Zeit danach war erfüllt.

    Aber gleichzeitig war ich ja auch in der Zeit davor: Im Laufe der Wochen hatte sich mit kommaline eine rege Email- Korrespondenz und bald auch Telefonkonferenzen (gMb) entwickelt. Wir haben uns schließlich verabredet und ich hatte mir gut überlegt, wo wir uns treffen könnten. Es sollte natürlich ein Ort sein, wo ich mich auskannte, möglichst zwischen unseren beiden Wohnorten gelegen (wegen der Fahrerei) und unverfänglich. Ich wählte den Park, wo ich in den letzten Monaten so oft gewesen war.

    Wir trafen uns an einem Sonntagmorgen und ich hatte den Eindruck, dass sie recht unglücklich war. Dabei bleib es aber erst einmal, denn anschließend habe ich nicht mehr viel von ihr gesehen. In meiner ganzen Aufgeregtheit bin ich wohl wie ein Langstreckler losgelaufen, sodass sie mich erst bei einer Tasse Kaffee (ihr Vorschlag) wieder einholen konnte. DAS fand ich toll. Vorher hatte ich immer neidisch auf die Leute geschaut, die gemeinsam auf der Terrasse an den Tischen saßen. JETZT saß ich auch hier- falsch: WIR! :):) Ein tolles Gefühl.

    Wir wiederholten an den nächsten Wochenenden unsere Treffen an verschiedenen Orten, was dazu führte, dass ich auch wieder mehr unterwegs war. Und es tat unheimlich gut, die Zeit zweisam zu verbringen. Zumal sich herausstellte, dass wir auch gemeinsame Interessen haben. U.a. den Wald. Mir war klar, dass ich ihr von meiner Krankheit erzählen wollte. Aber nicht am Telefon! Ich wollte sie nicht belügen, indem ich etwas verschweige- warum auch?

    Nächstes Wochenende bei mir, so war die Verabredung und dann wollte ich “es” ihr sagen.

    Hätte ich doch nur gewusst, wie sie reagiert… :?::!::?:

    Eine Woche- ich war ganz schön nervös...

    ...unterwegs

    unterwegs...

  • Es gibt ein Happyend 8) ich wünsche es dir, denn du hast es dir verdient 8)

    Alles liebe Pia

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