Die Zeit nach meiner Therapie begann drei Wochen vor dem Ende derselben.
“Externe Tage” hieß der Ausflug aus der Käseglocke. Jeder bekam zwei bis drei Tage Heimataufenthalt: Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag. Der Sinn dieser therapeutischen Maßnahme lag unter anderem in der Vorbereitung der Vorbereitung: Genaue Planung der Fahrt vom Verlassen der Klinik bis zur Rückkehr (Fahrplanstudium, Verbindungen etc.), Anlaufen bestimmter Stellen vor Ort (u.a. Arbeitgeber, Beratungsstelle, Arzt) mit entsprechender Terminvereinbarung und anzusprechender Themen und natürlich Zurechtfinden und Bewähren in der gewohnten Umgebung. Die Planung musste vor dem Team vorgestellt werden und wurde natürlich rückgemeldet.
Ich bekam drei Tage genehmigt, hatte mir eine Fahrkarte im Nachbarort gekauft und bestellte mir eine Woche vorher ein Taxi, um den ca. 30 km entfernten Bahnhof zu erreichen. Wegen der frühen Stunde fuhr noch kein Bus und Frühstück musste ich am Abend zuvor “bunkern”.
Der Tag nahte und ich fühlte mich gut gerüstet: Fahrkarte vorhanden, Taxi mit 45 Minuten Zeitpuffer zum Fahrplan bestellt, Termine gut gelegt, so dass ich Zeit genug hatte, meine privaten Besuche abzustatten.
Ein bisschen gespannte Neugier hatte sich meiner bemächtigt. Meine erste Reise alleine seit sechzehn Jahren mit Bus und Bahn. Keine Spur aber von den Beklemmungen, die ich früher bei dem Gedanken hatte. In den letzten Monaten war ich ja mit der Gruppe hin und her gebust und gebahnt. Nun also alleine. Mit Umsteigen.
Der Tag graute bzw. weißte, wie mir ein Blick aus dem Fenster zeigte.
Ausgerechnet heute!!! Wochenlang hatten wir auf Schnee gewartet (wenn unsere Gruppe keinen Winterdienst hatte ) und nun das. Ich erledigte meine Morgentoilette und verließ leise (morgens um halb sechs) Zimmer und Station.
Im Foyer rief ich das Taxiunternehmen an und fragte, ob mein Termin gehalten würde. “Jaa…, aber etwas später. Es hat geschneit” war die Auskunft.
Nun, das Taxi kam und ich hatte noch zwanzig Minuten “Reserve”. Es war eine sehr ruhige Fahrt durch den morgendlichen Wald und Schneewehen, hin und wieder farblich unterlegt von den Rundumlichtern der Schneepflüge. Und wie das in den Bergen so ist, so kam es dann: Je tiefer wir kamen, desto Matsch.
Ich war fünfzehn Minuten vor der Zeit am Bahnhof und rauchte mit dem Taxifahrer noch eine Zigarette.
Der Zug kam… ”etwa fünfzehn Minuten später” quäkte der Fahrdienstleiter aus dem Lautsprecher. Beim ersten Umsteigen musste ich einen Intercity erreichen (zum ersten Mal ein IC!), dazu hatte ich dreißig Minuten Zeit auf einem unbekannten, großen Bahnhof. ICs warten nicht.
Der Zug kam und gleich darauf eine Überraschung, die mich freundlich fragte, ob ich einen Kaffee möchte. TOLL!
Als ich den Kaffee getrunken (und bezahlt) hatte, war der Zug kaputt. Wir standen auf einem ländlichen Bahnhof. Der Zug blockierte das Heimatgleis und mein IC würde ohne mich fahren. Was nun?
Aus der anderen Richtung wurde ein Ersatzzug nach irgendwo geschickt und ich beschloss spontan einzusteigen. Lieber im Warmen sitzen und fahren als in der Kälte stehen und warten. Alles Weitere würde sich zeigen. Ich war erstaunt, wie gelassen ich die Situation meisterte, hatte mich doch sonst schon die Anwesenheit auf einem Bahnsteig Schwindel und Schweißausbrüche gekostet.
Um´s kurz zu machen: Mit Nahverkehr und S- Bahn im Zickzack NRW durchkreuzt rollte ich mit knapp einstündiger Verspätung in den heimatlichen Bahnhof. Ein seltsames Gefühl nach so langer Zeit. Alles kam mir so bekannt vor, aber irgendwie auch weit weg. Hier komme ich her, will ich wieder hierhin?
Ich stieg aus und ging durch die Stadt. Ich fühlte mich beobachtet, obwohl ich ausnahmsweise mal keine Bekannten traf.
Gehöre ich hierhin? Noch? Wieder?
Fremde Heimat nach Heimat in der Fremde...
"Meine" Straße, "mein" Haus, "meine" Wohnung. Geheizt. etwas im Kühlschrank. Blumen auf dem Tisch: “Herzlich willkommen”
Eine SMS an meinen Zimmergenossen: Angekommen.
Geduscht, umgezogen und die ersten Besuche, keine Zeit vergeuden.
Zuhause-
unterwegs…