Der "Drei-Jahres-Faden"

  • Hallo Peter,
    ich wagte kaum zu atmen als ich Deinen Lebens-Bericht las...
    Zuerst möchte ich Dir sagen das Du richtig "stolz" darauf sein kannst das Du aus Deinem vergangenen Leben den Weg heraus gefunden hast! :)
    Ich bin etwas demütig beim Lesen geworden weil Du so authentisch beschrieben hast....was ich im Großen und Ganzen auch kenne (ich bin eine "Angehörige). Ich sehe wie sich doch so viele Sachen und "Lebenseinstellungen" ähneln :oops: , in der "nassen" Zeit.
    Es ist nicht einfach zu "sehen" das es doch sehr viel Schuld und Scham beim Alkoholiker gibt, man liest/hört es...aber man "vergißt" es in den eigenen schlimmen Zeiten
    :cry:
    Ich freu mich weiter von Dir zu lesen und wünsche Dir weiterhin viel Kraft,
    lieben Gruß
    Nele :)

  • hallo zusammen,

    und wieder sage ich sehr gerne danke für die aufmunternden worte :) ... das tut gut!


    *schnipp*


    ich habe nun erzählt, wie und wann mich der alkohol "geholt" und was er aus mir gemacht hat. ich habe grob den jahrelangen verlauf umrissen und den beginn meines ausstiegs aus dem nassen leben. als es mir gesundheitlich immer schlechter ging, begann ganz langsam mein umdenken. am anfang dieses threads habe ich erzählt, dass ich angst hatte vor dem ausstieg - vor allem aber angst vor einem trockenen leben.

    "wie langweilig" ... "wie trostlos" ... "man will doch auch spass am leben haben" ... DAS waren meine ersten gedanken, als ich an ein trockenes leben dachte. es kam mir vollkommen öde vor... "freudlos" vor allem. was für ein unsinn und was für eine unfassbare haltung, wenn man bedenkt, dass ich wirklich im eigenen dreck lag.

    der eigentliche grund für meine ablehnende haltung aber lag tiefer... denn hinter meinen vorurteilen über ein trockenes leben lag die angst. es war meine angst, an meine seele heranzugehen. ich kannte zwei trockene alkoholiker und ich wusste, dass die beiden seit jahren an sich arbeiten.. schon das kam mir völlig übertrieben vor: WOZU denn das nun? "man hört auf zu trinken und damit ist auch gut...." - ach ja... so hätte ich es auch gern gehabt - aus meiner damaligen sicht.

    irgendwann begriff ich: "peter, du hast gar keine andere wahl.. - also nutze sie, so gut du kannst." es mag ja übertrieben klingen, aber als ich mich entschied, trocken zu werden, wollte ich es richtig machen. vor allem wollte ich endlich mal etwas richtig gut machen und ich wollte mir etwas GUTES tun. ich habe hier im forum in der ersten woche gelesen und gelesen und gelesen. ich habe mich x-mal wiedererkannt und begriff: ich bin nicht allein. das war das allerbeste! in demut las ich hier lebenläufe, habe geweint und mir die augen eckig gelesen und wusste: ich muss hier nur ANNEHMEN, ich muss niemandem etwas beweisen. die kraft, die ich hier in den ersten wochen für mich rausziehen konnte, war unglaublich gross.

    ich gebe gern zu, dass ich in den ersten monaten wirklich nicht wusste, wohin und wie mein trockener weg ging und wohin er mich führen würde. diese gedanken waren auch nicht nötig - die ersten wochen waren phantastisch und wie eine wiedergeburt. ich habe jeden tag genossen und es ist ja auch hier nachzulesen in meinen ersten beiträgen. ich hatte soviel zeit plötzlich und ich wurde langsam wieder gesünder. ich bekam soviel neue eindrücke vom leben, dass ich nicht allzuviel an morgen und übermorgen dachte. kurz und gut: es ging bergauf.. aber mir war nicht so richtig klar: trocken, nüchtern... wo ist da BEI MIR der unterschied? und ich weiss auch nicht, ob ich das damals schon wissen wollte.

    es begann ein völlig neues leben für mich - das war mir allerdings schon klar. aus heutiger sicht muss ich etwas lächeln, denn der neuanfang war auch irgendwie niedlich.. und etwas naiv, aber egal: das ergebnis zählt am ende - und das ergebnis ist toll. ich habe meine freiheit zurück und möchte sie nie wieder hergeben.

    das war im frühen sommer 2006. was seitdem geschehen ist, finde ich atemberaubend. ich bin gefühlsmässig auf einer riesigen achterbahn gefahren, seit ich trocken bin. ich musste fast alles an gefühlen zugelassen, was ich zulassen konnte. es hat mich manchmal sehr runtergerissen und es war alles andere als einfach. aber es war der einzige weg: MEIN weg. mich ZUzulassen, mich nicht mehr WEGzumachen und mich zu begreifen, in meinen gefühlen, in meinem neuen leben.

    irgendwann nach "norwegen" fing ich an, mich mehr mit mir zu beschäftigen.. mit meiner unterdrückten seele, mit meinen ängsten und letzlich mit den gründen, warum ICH zur flasche griff. aber auch das dauerte lange und ich bin damit sicher immer noch nicht am ende.

    das nächste kapitel heisst "norwegen".


    ich danke fürs lesen. es geht weiter.


    peter

  • nachdem ich trocken werden durfte, ging es gefühlsmässig in den ersten monaten nur noch bergauf. ich war voller zuversicht, manchmal euphorisch und manchmal auch unvorsichtig.


    "norwegen"

    meinen job in berlin hatte ich nie verloren - aber ich hatte auch schon lange keine lust mehr auf meinen alten job. mit der trockenheit hatte ich genügend kraft, mich nach etwas neuem umzutun. mit einem befreundeten ehepaar begann ich, pläne zu schmieden, die dann viel schneller realität wurden, als ich mir vorstellen konnte. ich besann mich auf meinen alten beruf, lernte wieder ein wenig tischlern und vor allem lernte ich norwegisch - und das ziemlich gut. ich habe eine schwäche für skandinavien und die handwerker-not in den ländern dort gab uns mut, es in norwegen zu probieren.

    ich schrieb ein paar bewerbungen und dann ging es ruckzuck: plötzlich wurden wir zu einem vorstellungsgespräch nach bergen eingeladen. nach drei tagen kamen wir zurück mit arbeitsverträgen in der hand - ein guter lohn, man sicherte uns zu, bei der wohnungssuche behilflich zu sein und alles in allem schien es wie ein lottogewinn. wir sahen uns eine baustelle an, auf der wir arbeiten sollten und waren hin und weg....

    zurück in berlin fing ich an zu packen, kündigte die wohnung, organisierte den umzug. es war eine zeit, die ich im nachhinein wie betäubt empfinde - so vollgepackt waren die tage und so voller erwartungen. da bekomme ich einen klasse job für gutes geld - und das nur ein gutes halbes jahr, nachdem ich trocken werden durfte. wenn das kein geschenk war!! ich schwebte geradezu... und ich war so froh, endlich aus berlin wegzukommen. ich empfand es als wohltuend, die stadt zu verlassen, in der ich jahrelang gesoffen hatte. ein abschied jagte den nächsten... verwandte und freunde wollten "auf wiedersehen" sagen und das organisatorische nahm mich gut in anspruch.

    eines tages war es soweit: ich fuhr mit dem auto nach nord-dänemark und dann mit der fähre nach bergen. die spedition sollte ein paar tage später nachkommen und die möbel bringen. am tag der ankunft schlief ich noch bei freunden und am nächsten tag war ein treffen mit dem chef der neuen firma geplant... daraus wurde nichts. ich musste noch ein paar tage warten, bis der chef mich dann zu meiner von der neuen firma ausgesuchten wohnung brachte. die befand sich ca. 90 minuten entfernt von bergen auf einer insel... am nördlichsten ende.

    meine wohnung war ein ungefähr neun qm grosses zimmer, dass dem vater meines chefs gehörte und es kostete die kleinigkeit von 400 euro. die mietkosten und auch die stromkosten sollten von meinem lohn abgezogen werden... ich war geplättet. in genau diesem augenblick kam der möbelwagen mit meinen möbeln, die natürlich nicht in dies zimmer passten und in eine offene scheune gestellt wurden. ich war fix und fertig... so hatte ich mir das nicht vorgestellt - aber das war nur der anfang.

    zwei tage später war der norwegische traum vorbei: die firma war pleite und alles, alles war ausgesprochen merkwürdig. meine bekannten, die mitgezogen waren, hatten mittlerweile einen säugling und saßen in einem ferienhaus um die ecke fest und waren verzweifelt. ich lief die strassen rauf und runter, lief in meinem mini-zimmer hin und her und wusste: ich muss weg. sobald wie möglich. ich war erst frisch trocken und ganz und gar nicht stabil für eine solche situation. in einem fremden land, ganz neu, ohne arbeit - nein, dass war nicht meine vorstellung von norwegen. meine bekannten wollten am nächsten tag zum sozialamt... und das wollte ich nun gar nicht.

    abends packte ich mein auto so voll es ging und fuhr ganz früh morgens durch schneestürme nach bergen. dort löste ich mein bankkonto wieder auf und fuhr zum hafen. ich rief meine frühere vermieterin in berlin an und bekam eine neue wohnung im alten haus. ich nahm das nächste schiff nach dänemark. die überfahrt dauerte fast 23 stunden, ich schlief nicht. danach fuhr ich durch - von hirtshals bis zu meiner schwester bei bremen. dort schlief ich wie ein stein und am nächsten tag fuhr ich zurück nach berlin. zwei wochen später fuhr ich nochmal mit einem lkw nach bergen und holte meine möbel zurück.

    das alles war wahnsinnig anstrengend. es war zudem eine riesen-enttäuschung und sehr, sehr teuer.

    aber: ich habe nicht getrunken... ich habe funktioniert und wusste: "wenn du JETZT säufst, wird alles noch viel schlimmer." das war die erste richtige talfahrt in meinem neuen trockenen leben und sie tat sehr weh. sie brachte mich aber auch dazu, jetzt ganz neu anzufangen mit mir: keinen aktionismus, nicht etwas neues machen auf teufel komm raus. ich machte etwas ganz anderes: ich fing an zu joggen, denn ich war sooo wütend und sooo sauer... - und: ich konnte meine verzweiflung und meine wut zulassen, ohne an alkohol zu denken. ich musste mich nicht mehr WEGmachen. was für ein riesenerfolg für mich, nach diesem desaster.

    meine bekannten sind in norwegen geblieben. sie haben kleine jobs und leben von der hand in den mund. beide rauchen wieder - und beide trinken viel alkohol.


    danke fürs lesen. es geht weiter.

    peter

  • Hallo Peter,
    das hast Du ja mit "Bravour" bestanden...die "Prüfung" in Norwegen :wink: Klasse...und noch dazu wenn Du jetzt weißt was mit Deinen Bekannten "ist".
    Danke!!!! :) für Deine Ausführungen und damit wünsche ich Dir noch schöne Stunden und gute Nacht
    lg Nele

  • berlin hatte mich also wieder.. die stadt, in die ich eigentlich nicht mehr wollte. und doch war ich froh, wieder dort zu sein: nach dem enttäuschenden ausgang meines norwegen-experiments brauchte ich stabilität... das wusste ich damals noch nicht, aber ich hatte es im gefühl und war sehr froh, norwegen entkommen zu sein, ohne wieder zu trinken. die arbeit an meiner trockenheit hatte sich gelohnt: alkohol kam nicht mehr in frage - diese situation hatte ich überstanden.


    "die reise in mein ICH" begann...


    ich fing an zu laufen, erst sehr, sehr langsam, denn ich hatte immer noch beträchtliches übergewicht. aber ich hielt durch... und nach drei monaten wurde aus einem sich eher quälenden läufer ein etwas leichtfüssriger. es bedurfte einiger hartnäckigkeit, aber dazu war ich ganz gut fähig. ich lief bald dreimal in der woche und es begann etwas interessantes in mir vorzugehen: ich entdeckte beim laufen meine gedanken... ich konnte vor mich hin schnaufen und meinen gedanken nachhängen. ich begann beim laufen zu akzeptieren, dass es nicht für alles lösungen gibt. ich konnte mein "gedankenkarussell" rotieren lassen, ohne mich dabei verrückt zu machen.

    neben meiner wiedergewonnen freiheit von sucht begann ich nun, die im laufe der jahre und des saufens angefressenen pfunde loszuwerden. eine neue, ganz andere freiheit lernte ich plötzlich kennen: das sich befreien von körpergewicht... - auch daran hatte ich nicht im entferntesten geglaubt. irgendwann muss sich mein stoffwechsel so gut umgestellt haben, dass die kilos nur so purzelten... und das beste: ich nahm das gar nicht wahr - dazu musste mir erst die hose herunterrutschen und das riesengroße hemd um die ohren flattern :)

    dies muss auch ungefähr zu dem zeitpunkt gewesen sein, wo ich erstmals freunde und bekannte wieder traf - auch diejenigen, die noch tranken. überall begegnete ich ungläubigem staunen... zuerst dachte ich "oh gott, was ist denn?!", bis ich begriff: ich werde gelobt! ICH, gelobt - wie geht das denn?? es wurden immer mehr: mein hausarzt, mein chef, meine familie - alle begannen mich zu loben und wurden neugieriger, wie ich es schaffte, mich selbst neu zu erfinden... dabei wurde ich nur wie früher.

    zur befreiung von der sucht und vom übergewicht kam nun noch eine neue freiheit: die "durchlüftung" des kopfes nenne ich es mal. denn es passierte etwas mit mir. ich war frei von sucht und ich wurde wieder freier und leichter in meinen bewegungen. das ging nicht spurlos an meinem hirn vorbei... es veränderte sich etwas gewaltiges: ich wurde wieder selbstbewusster. ich traute mich, in den spiegel zu sehen und ich konnte nach vielen jahren von mir sagen: "he - der sieht ja gar nicht sooo schlecht aus, wie ich immer dachte!"

    tja - und dann ging es sehr schnell: meine ewig lange unterdrückte sexualität meldete sich zurück - auch etwas, was ich mit alkohol WEGgemacht hatte... und nicht zulassen wollte und / oder konnte. ich begann, mich nach menschen zu sehnen. allein diese vorstellung war so unerhört, denn ich habe meine gesamte saufzeit menschen gemieden.. ich wollte niemanden um mich haben und schon gar nicht im bett! nun also ging es ans eingemachte... nun war ich an einem entscheidenden punkt, den ich so lange betäubt hatte. und nun war ich in der lage zu sagen: "lass es zu, lass es dir gut gehen, peter!" - und das habe ich gemacht.

    schwul war ich ja schon immer, da habe ich mir nie etwas vorgemacht. aber dazu gestanden habe ich nicht. ich wollte es nicht - keine ahnung, warum. es ist mir absolut nicht erklärlich, ich habe es nicht negiert, gar nicht, aber ich habe es wohl auch nicht wollen - vielleicht komme ich ja noch darauf im laufe meines lebens. obwohl es mittlerweile auch nicht mehr wichtig ist. jedenfalls traute ich mich nun endlich, andere menschen in MEIN leben zu lassen und das war für mich eines der wunderbarsten dinge und ein unbedingtes ergebnis meiner trockenheit. und es dauerte nicht lang und ich war bis über beide ohren verliebt. meinen freunden sagte ich es als erstes, dann meiner mutter, dann meinem chef und dann der ganzen welt.


    was um himmels willen gibt es schöneres, als sagen zu können:

    "ich bin trocken und das leben hat mich zurück - mit allem was dazu gehört."

    es war im oktober 2007 und ich schwebte auf wolke sieben - vollkommen trocken und zutiefst ergriffen.


    danke fürs lesen! es geht weiter.


    peter

  • ich schwebte tatsächlich... ich besuchte den mann, in den ich mich verliebt hatte, so oft ich konnte. das war nicht ganz einfach, denn er wohnte ungefähr 600 kilometer von mir entfernt. du meine güte, ich war wirklich wie von sinnen ;)


    "das leben hat mich wieder... mit allem, was dazu gehört..." las ich gerade in meinem vorhergehenden text.


    der frühabendliche anruf meines hausarztes war es, der mich erst vorsichtig und im verlauf der tage dann ruckartig wieder runter auf den harten boden brachte. "mit deinem blut stimmt was nicht, peter. kannst du bitte gleich mal kommen?" - das werde ich nicht vergessen. im zuge einer routineuntersuchung kam heraus: meine leukozyten spielen verrückt. ich hatte vier- oder fünfmal soviel weisse blutkörperchen wie normal. mein hausarzt ist ein alter mann - aber er hat eine menge erfahrung. er meinte, es kann theoretisch eine infektion sein - aber er ist eher der meinung, dass es eine leukämie sein könnte. noch am gleichen abend war ich bei einem onkologen in berlin, der mir jede menge blut abzapfte. "machen sie sich nicht verrückt!" war der häufigste satz in jenen tagen - und allein der machte mich verrückt.

    die diagnostik zog sich und zog sich und immerhin konnte der arzt sagen: "sie werden daran nicht innerhalb kurzer zeit sterben!" das hat mich doch sehr beruhigt... aber immerhin: ich wurde mehr und mehr informiert und lernte die unterschiede zwischen akuter und chronischer leukämie kennen und das es jede menge verschiedener arten davon gibt. ich beschäftigte mich damit, denn irgendwas musste ich tun - mein gedankenkarussell drehte sich in atemberaubendem tempo, ich war eigentlich nicht mehr in der lage, normal zu denken. nach fünf ewig dauernden wochen kam die diagnose aus drei verschiedenen laboren: haarzell-leukämie typ soundso unterart soundso. "verlaufskontrolle, alle sechs wochen blut abnehmen, wenn der xy-wert den soundso-wert übersteigt, dann chemo."

    ich stieg am oranienburger tor in die u-bahn und dachte: "warum fährt die u-bahn eigentlich noch?"...

    abends war ich bei meinem hausarzt... dieser mann kannte mich als säufer und nun als trockener alkoholiker. es war ein lob im unglück, als er zu mir sagte: "peter, als nasser hättest du das nicht überlebt." und er meinte das nicht unbedingt in bezug auf die krankheit leukämie. als säufer hätte ich mit dieser diagnose alle gründe der welt gehabt, mich im alkohol zu ertränken. ich tat es nicht.

    aber es war der zweite richtige tiefschlag in meinem trockenen leben.


    danke fürs lesen. es geht weiter!


    peter

  • zwei gefühle kamen bei mir zusammen: das verliebtsein und das erkennen der machtlosigkeit und des "hinnehmen müssen" von krankheiten. beim onkologen erntete ich ein lob, dass mich nur kurz nachdenklich machte: "...andere brechen hier regelmäßig zusammen - sie machen das ganz bewundernswert..." ... aber so bewundernswert war es nicht, denn ich war ja noch verliebt und fing so einiges auf. "nehmen sie professionelle hilfe in anspruch, es kann sein, dass sie allein das nicht bewältigen". diese worte des onkologen hatte ich im ohr, aber ich war der ansicht, ich bräuchte das nicht.

    immerhin konnte ich noch laufen... und so lief ich weiter jeden zweiten tag durch die hasenheide oder ich bin nach wannsee raus und rannte durch den stahnsdorfer forst. ich versuchte, mich abzulenken, meine gedanken UMzulenken in positive richtungen. das war sehr schwer und es gelang mir nur bedingt. ich wurde immer anfälliger für erkältungskrankheiten... sie dauerten lang und legten mich regelmässig flach. ich bekam merkwürdige pickel.. nicht im gesicht, aber am körper. solche pickel hatte ich noch nie, so groß und so schmerzhaft waren die dinger. beides brachte ich in zusammenhang mit meiner überzahl weisser blutkörperchen - aber sowohl der hausarzt, als auch der onkologe und schliesslich auch ein hautarzt winkten ab... ... so lernte ich hinzunehmen, was ich vorher nicht bereit war hinzunehmen: es gibt dinge im leben, die ich ganz und gar nicht beeinflussen kann... ich liess es zu und machte an einer anderen baustelle weiter: meiner fernbeziehung.

    über kurz oder lang wollte ich diese fahrerei nicht mehr mitmachen. aus berlin wollte ich ohnehin immer weg - was lag also näher, als es noch einmal zu versuchen und wegzuziehen... es wurde immer klarer: ich werde umziehen - nach hessen. zwar nicht zusammen mit dem mann, das war mir dann doch etwas zu früh, aber in seine nähe. am ende wohnten wir keine 500 meter auseinander, auch wenn wir uns da schon nichts mehr zu sagen hatten. aber der reihe nach:

    wenn ich dorthin ziehen wollte, brauchte ich arbeit. ich machte mich kundig und sah: am flughafen frankfurt brauchen sie "luftsicherheitsassistenten" - das sind in in der regel die menschen, die passagiere nach dem einchecken absonden und durchsuchen. daraufhin machte ich beim tüv in lübeck einen dreimonatigen kurs. ich wurde überprüft und letztlich von der luftsicherheitsbehörde in kiel geprüft und hatte die nicht einfache prüfung bestanden. fünf tage später hatte ich arbeit bei einer großen fluggesellschaft in frankfurt, an einer werft. ich brauchte noch nicht mal passagiere abtasten, ich brauchte "nur" nach sprengstoffen in behältern und bei mitarbeitern schauen, die aufs gelände kamen. ich machte mich nicht tot und bekam gutes geld dafür.

    alles war also klar: ich zog nach hessen... und es geschah etwas, was ich erst in dem moment merkte, als ich ankam am fremden ort: der mann, in den ich mich verliebt hatte, und wegen dem ich unter anderem dorthin zog, er zog sich zurück. zwei wochen, nachdem mein umzug stattfand, sahen wir uns zum ersten mal. es war vorbei, bevor ich richtig ankam. ich war fassungslos, sprachlos und wusste nicht mehr weiter. seine art, nicht über die schwierigen dinge zu sprechen, machte mich wahnsinnig und - wieder einmal - machtlos. ich konnte nichts tun, ausser hinnehmen - ohne zu verstehen. meine arbeit auf dem flughafen erledigte ich. mein erstes gehalt nahm ich auch nur so hin , jeder andere hätte sich gefreut.. mir war es völlig egal.

    plötzlich erkannte ich: das wird die mit abstand schwerste situation, die ich gerade durchmache: die chronische leukämie hatte ich noch nicht einmal im ansatz verarbeitet; ich war in einem bundesland, dass ich nicht kannte und in dem ich mich alles andere als wohlfühlte; meine hoffnungsvolle liebe hatte sich als feigling entpuppt. ich fühlte mich sehr allein, sehr schlecht und ich wusste nicht weiter. eines wusste ich aber: ich trinke nicht, egal was passiert.... es macht nichts besser, es macht alles nur schlimmer. ich begriff immer mehr: peter, es ist DEIN leben, mit allen höhen und tiefen. es wird auch mal wieder anders werden... gründe, alkohol zu trinken, gibt es immer.

    dies war der dritte tiefpunkt in meinem leben, nachdem ich trocken wurde: mein ankommen in hessen war alles andere, als ein erfolg und riss mich in eine schlimme tiefe. wie ich aus diesem loch wieder herauskrabbelte, denn das habe ich getan, erzähle ich nächstes mal.


    ich danke fürs lesen.

    peter

  • Hallo Peter,

    heute bin ich über diesen Thread gestolpert. Der Name "Petter" bei Autor lies mich stutzen: Den kennst Du doch!? Und tatsächlich, ich kann mich noch sehr gut an Dich erinnern. Du warst damals auch noch in den Wirren der Norwegen-Geschichte (vom Norwegischen auch Petter für Peter, gell!? :wink: ). Nachdem Du von der Leukämie erfahren hattest, habe ich nichts mehr von Dir gelesen.

    Daher freut es mich jetzt um so mehr zu lesen, dass Du Dich soweit berappelt hast. Deine Erzählungen habe ich mit heißen Ohren gelesen. :D Du kannst sehr stolz auf Dich sein, aber ich denke, das weißt Du.

    Jetzt bin ich sehr gespannt, wie es in Hessen weiterging.

    Liebe Grüße

    Dein Namensvetter 8)

    Es ist nicht leicht, das Glück in sich selbst zu finden,
    doch es ist unmöglich, es anderswo zu finden.

    Agnes Repplier

    Abstinent seit Oktober 2006

  • hallo zusammen,

    danke für das feedback!! und wie schön, auch "alte bekannte" wieder zu lesen ;)


    *schnipp*

    meine seelenwelt in hessen war alles andere, als in ordnung: ich fühlte mich in diesem land fremd, die kleine stadt, in der ich lebte war einfach nur öde, die arbeit langweilte mich, die kollegen waren zu 90 % unerträglich (vom chef ganz zu schweigen) und der mann, den ich meinte zu lieben, war wie ausgewechselt - wenn ich ihn überhaupt noch sah. die säulen, auf denen mein leben ruhte, sie waren ziemlich wackelig. ich fühlte mich nicht stabil und es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre zusammengebrochen.

    eine kollegin, die mit mir die ausbildung in lübeck gemacht hatte, fing bei der gleichen firma am flughafen an und zog in meine recht große wohnung mit ein - wir waren beide fremd und gründeten eine wohngemeinschaft. ohne allerdings zu wissen, wie wichtig das für uns in den kommenden wochen werden würde. erst allmählich merkten wir beide, wie schlecht es uns eigentlich ging... der anfang in einer völlig neuen umgebung ist schwer, wenn man allein ist und labil, ist der anfang noch schwerer. zusammen fingen wir unbewusst auf, was uns nervte und halfen uns damit eine ganze menge.

    meine hessischen "erfahrungen" sind zeitlich gesehen ein kleines fenster in meinem leben von gerade mal drei monaten. hinterlassen haben sie allerdings einen graben von verletzung und entwurzelung. als ich dort war, kam es mir wie ein zeitlupen-leben vor, in dem ich nur funktionierte: den job erledigte ich irgendwie, völlig ohne interesse. der mann, den ich liebte, machte sich rar. glücklicherweise stand zwischen unseren beiden wohnungen ein hochhaus - ich hätte sonst hingucken können und vielleicht sogar sehen, ob er zuhause ist. der "nicht"-kontakt machte mich fast wahnsinnig... ich wusste eigentlich gar nichts mehr... und ich verstand nicht, was geschehen war. ich wusste nur: ab hier und ab jetzt bist du allein.

    es ist eine der ganz tollen erfahrungen in diesen wochen, dass sich die lange arbeit an meiner trockenheit so gelohnt hat. der gedanke an alkohol kam nicht auf in mir, zu keinem zeitpunkt. ich war zwar tief traurig und entsetzt, aber ich hatte nicht das bedürfnis, mich zu betäuben, mich WEGzumachen. in meinen ganzen gedanken über diesen mann und diese beziehung bin ich nicht weitergekommen in den wochen und monaten dort, ich habe mich im kreis gedreht und keine antworten bekommen. ich war ein nervenbündel - aber ich habe funktioniert! trocken...

    lange habe ich nicht gebraucht, um mich von hessen zu verabschieden. dort bleiben wollte ich nicht - warum auch? ich war wegen des mannes dorthin gezogen, nicht wegen der "tollen" stadt oder des flughafens. es war mein vorletzter kraftakt, bevor ich einigermaßen zur ruhe kommen sollte: noch ein umzug..., der zweite in einem jahr. ein freund erzählte mir von einer guten firma in hamburg, die arbeitskräfte brauchte.. ich bewarb mich anfang oktober. mitte oktober hatte ich einen arbeitsvertrag und ende november zog ich weg... von hessen nach hamburg, nur gut drei monate nach einem umzug voller hoffnungen und freude. ich kündigte die wohnung (wieder einmal), suchte eine neue wohnung (wieder einmal), mietete einen lkw (wieder einmal) und zog mit hilfe einiger früherer freunde aus berlin, die mir helfen kamen, um. in der nacht vor dem umzug meldete sich der untergetauchte mann per sms: "merkwürdiger abgang"... bis zum ende dieser geschichte war ich fassungslos von seinem komischen verhalten. selten fühlte ich mich so hängen gelassen.

    irgendwann ende november an einem sehr frühen morgen verliess ich hessen mit einem vollgestopften lkw in richtung hamburg. wie ich das alles geschafft habe, ist mir schleierhaft, aber es hat alles geklappt. am abend entlud ich den lkw, brachte alles in die neue wohnung, legte mich auf die matratze und schlief ein. ich war wie ausgepumpt und froh, das schlimmste hinter mir zu haben. eine woche später kam eine sms vom mann aus hessen: "gruss aus ....... " - er hatte einen neuen partner.

    örtlich und zeitlich lag hessen hinter mir. ich war in einer neuen stadt "gelandet"... meine wurzeln waren im grunde noch in berlin, in hessen habe ich keine geschlagen. hamburg kannte ich überhaupt nicht und nun fing ich wirklich ein neues leben an. wie ich in dieses neue leben startete, davon schreibe ich nächstes mal - wie immer trocken und mittlerweile auch nüchtern. warum ich das unterscheide, trocken und nüchtern, schreibe ich am ende dieser "lebensschilderung".

    danke fürs lesen!


    peter

  • ende november letztes jahres kam ich in hamburg abends an. ich war völlig fertig - körperlich vor allem. die psyche meldete sich etwas später. meine neue wohnung war zwar recht schön, lag aber in einem "problem-viertel".. die meisten meiner nachbarn kamen aus aller herren länder und dementsprechend laut war es im haus. der rest der nachbarn waren "übrig gebliebene" - vor allem nasse alkoholiker, die nicht mehr wegziehen wollten oder konnten. das haus war grässlich... im flur lag oft müll und in die ecken wurde manchmal uriniert. nach zwei wochen dort wohnen wusste ich: ich muss sehr bald nochmal umziehen, sonst geht was schief... ich will mir so eine umgebung nicht länger zumuten.

    meine neue arbeit begann am 1. dezember und war von anfang an gut. ich wurde freundlich aufgenommen, die kollegen waren klasse und im gegensatz zu meiner neuen wohnung wusste ich vom ersten tag an: hier kannst du bleiben. bei der einstellung wurde ein bluttest gemacht und natürlich wurde entdeckt, dass mit meinen leukozyten was nicht in ordnung war. ich habe alles erzählt und ich wurde trotz dieser chronischen leukämie eingestellt. ich wurde nach der einarbeitung auf einen anderen betriebhof versetzt und befand mich nun am nördlichsten ende hamburgs, mitten im grünen.

    zum 1. april bezog ich dann eine wohnung, die ich mal ganz schlicht "einen traum" nenne - nein: richtiger ist "meinen traum"... ein zuhause, das es wert ist, auch so genannt zu werden. dies wurde mein dritter umzug in nur einem jahr... alles wieder packen, lkw mieten und alles aus dem vierten stock runter wieder hoch ins dachgeschoss. aber ich wusste auch: ich bin ANGEKOMMEN: in einer wohnung, in der ich mich wohl fühle, mit einer arbeit, die ich gut bewältigen kann in einer firma, die gut zu mir ist. die grundlage zu all diesen kräftezehrenden aktionen war und ist meine trockenheit. aber auch die kann nicht alles... aber ohne sie wäre ich ganz woanders...

    es kam wie es kommen musste: das alles hinterlies spuren und ich klappte zusammen. ich lag - noch vor dem umzug in die neue wohnung - in meinem bett und fing an zu weinen. ich konnte einfach nicht mehr. die tage wurden immer schlimmer: egal wo ich war - ob in der s-bahn, beim einkaufen oder sonstwo: ich fing unvermittelt an zu weinen und konnte mich nur noch hinsetzen... schlafen konnte ich auch nicht mehr. ich war ausgebrannt und wusste nicht mehr weiter. ein paar tage vor dem umzug ließ ich mich krankschreiben. ich ging zu einer ärztin, erzählte, was ich hinter mir hatte und wie ich mich fühlte. ich bekam ein medikament und konnte wieder schlafen und wurde ruhiger.

    nach dem umzug, nach meinem dienstantritt auf der neuen dienststelle, wurde alles schnell besser: ich begann die früchte zu ernten! die arbeit wurde immer besser, meine dachterrasse wurde grüner und grüner, ich war in der schönsten wohnung meines lebens angekommen und lebte nun in einer wunderschönen stadt. ende mai setzte die ärztin das medikament wieder ab und ich war bereit für etwas, was ich meinte, nie brauchen zu müssen: ich begann eine therapie. nach ein paar "probestunden" wagte ich mich in ein neues "abenteuer": eine tiefenpsychologisch fundierte therapie bei einer ärztin. neben meinem entschluss für ein trockenes leben war dies der beste entschluss, den ich gefasst habe. seitdem bin ich tatsächlich auf einem weg nach oben, auch wenn in sachen gefühle und liebe noch längst nicht alles so ist, wie ich mir das wünschte.

    die psychologin sagte nach den ersten sitzungen zu mir: "sie haben ein hohes tempo hingelegt, seitdem sie trocken sind. sie sollten jetzt geduld haben und mehr auf sich acht geben." das versuche ich seitdem... die therapie geht weiter und ich war noch nie so offen, jemanden in mein inneres blicken zu lassen. vor allem ICH SELBST traue mich nun, in meine inneres zu blicken. manchmal habe ich das gefühl, es geht alles viel schneller, als ich das verarbeiten kann. aber es geschieht etwas bei dieser therapie: ich verstehe mich selber immer ein wenig besser - jedenfalls bilde ich mir das ein ;)

    ist mein leben jetzt "normal"? ja - und nein, finde ich. "ja", weil ich alles in allem wieder ein ganz normales leben führen kann: ich kann mich selber gut finanzieren, ich habe eine schöne wohnung und einen job, der mir gefällt und zu dem ich gern gehe. ich habe struktur in mein leben gebracht, wo vorher trübsal und hoffnungslosigkeit mein leben beherrschten. "nein", weil ich als trockener alkoholiker nie sagen kann, "ich führe ein ganz normales leben". ich bin ein sucht-mensch durch und durch - und das bedeutet: ich muss auf mich aufpassen, meine grenzen rechtzeitig sehen und mich zurückschrauben, wenn ich mich in gefahr begebe. NICHTS bringt mich von selbst in gefahr - das bin allenfalls ICH selber, der nicht aufpasst. nicht aufpassen heisst für mich: die arbeit an meiner trockenheit vernachlässigen. diese arbeit hört nicht auf, sie ist teil meines lebens. schlimm finde ich das nicht... im gegenteil! ich nehme es als chance: wer zum teufel reflektiert schon so oft selber, wie wir trockene alkoholiker?

    damit beende ich meine geschichte durch und aus meinem nassen leben. weiter machen werde ich mit meinem alltäglichen trockenen leben, meinen schwierigkeiten und auch den schönen dingen, die ich erfahre. natürlich freue ich mich auch immer wieder über feedbacks. allen, die nach trockenheit und einem nüchternen leben streben: macht es, es lohnt sich!

    dieser spruch hängt bei mir neben dem spiegel. ich lese ihn jeden tag und weiss: ich schaffe vieles, wenn ich will und ich muss längst nicht alles schaffen.

    "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
    Gott gebe mir Geduld mit Veränderungen, die ihre Zeit brauchen, und Wertschätzung für alles, was ich habe, Toleranz gegenüber jenen mit anderen Schwierigkeiten und die Kraft, aufzustehen und es wieder zu versuchen, nur für heute."


    ich danke fürs lesen!

    peter

  • Hallo Peter, schön wieder zu lesen...Du solltest ein Buch draus machen :wink:
    Fühl Dich nun wohl in Deinem schönen Leben und auf Deiner schönen grünen Dachterasse... :wink:
    Den ersten Teil des Spruches kenne ich auch sehr genau, den Zweiten muß ich mir mal rausschreiben.
    Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende und freu mich wieder von Dir zu lesen
    lieben Gruß
    Anett

    :)

  • Hallo Peter,

    nochmal ganz herzlichen Dank für Deine sehr tiefgehenden und klaren Beiträge, die ich als große Bereicherung empfinde. Und Mut machen sie. Danke.

    Ich wünsche Dir weiter einen guten Weg und würde mich über weitere Beiträge von Dir sehr freuen.

    Liebe Grüße

    zerfreila

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