Hallo,
durch Euer Forum sind wieder viele Gedanken und Erinnerungen in mir aufgekommen. Erinnerungen an eine Kindheit mit einer alkohol- und tablettensüchtigen Mutter. Ein alltägliches Schicksal, im Grunde nichts besonderes, wie viele gibt es, die aktiv oder passiv von dieser Krankheit betroffen sind. Warum ist es dann ein Thema, dass so gerne verschwiegen, verheimlicht, heruntergespielt wird? Da beginnt meiner Meinung nach das Problem. Alkoholismus ist normal. Es ist nichts dessen man sich schämen muss. Scham ist kein guter Nährboden für Heilung. Alkoholismus ist Alltag, also sehen wir der Sache ins Gesicht.
Ich möchte die Geschichte meiner Mutter und ihre Auswirkungen auf mein Leben gerne beschreiben. Vielleicht kann jemand was daraus mitnehmen. Vielleicht komm ich auf meiner Suche nach Antworten auch weiter. Vielleicht bekomme ich den einen oder anderen Denkanstoß, vielleicht wird mir ein Fokus auf das Geschehene eröffnet, den ich in all den Jahren noch nicht entdeckt habe. Denn immer noch fällt es mir oft schwer damit umzugehen. Vielleicht interessierts auch nicht. Das wäre auch ok, ich denke, es hilft mir schon selbst das alles mal aufzuschreiben. Entschuldigt also bitte, wenn ich weit aushole.
Doch genug der Einleitung.
Meine Mutter also ...
Die erste Erinnerung an meine Mutter ist mit großen weißen Knöpfen auf einer weißen Wollweste verbunden. Die Weste umhüllt den Körper meiner Mutter, die auf dem schmutzigen Küchenboden unserer desolaten 2 Zimmer Wohnung liegt. Ich bin ungefähr 4 Jahre alt, knie am Boden und schüttle sie. Dann lauf ich hinaus auf den Gang, hole Hilfe. Bald stehen 2 Nachbarinnen in der Wohnungstür, ich erzähle ihnen aufgeregt, wie meine Mutter vorher das Katzenfutter für unseren Kater aus der Dose genommen hat. Sie hat sich dann den Finger abgeschleckt, was mich eckelte, und dann ist sie umgekippt. Für mein 4 jähriges Hirn klarer Fall von vergifteten Katzenfutter. So plappere ich drauflos ... doch dann halte ich inne und sehe die mitleidigen Blicke der Nachbarinnen auf mir. Blicke, die mich "armes dummes Ding" nennen. Ich verstehe diese Blicke nicht. Wieso versuchen sie nicht zu helfen. Wieso glauben sie mir nicht? Was wissen sie, was ich nicht weiß, was verschweigen sie?
Später habe ich natürlich verstanden. Was sich nicht geändert hat, ist mein instinktiver Hass gegen Verlogenheit und Heimlichtuerei. Lektion 1, die mir meine Mutter erteilte.
An diese Wohnung habe ich noch einige andere Erinnerungen ähnlicher Art. Die letzte Erinnerung war jedoch eine schöne Erinnerung. Es muss ein Jahr später gewesen sein. Ich wachte mitten in der Nacht auf, stand im Gitterbett (das musste lange halten) und sah meine Eltern nackt am offenen Fenster stehen und rausschreien. Unser Haus stand in Flammen, doch das machte mir keine Angst. Stattdessen gefiel es mir unheimlich, dass meine Eltern etwas taten, was "man nicht tut". Wir wurden dann über die Feuerwehrleiter aus dem Fenster geholt und ich erinnere mich genau, wie ich dem Feuerwehrmann erzähle, dass er unbedingt noch unseren Wellensittich retten muss.
Wenn ich "eine schöne Erinnerung" sage, ist das keineswegs zynisch gemeint. Es ist wirklich eine der schönsten Erinnerungen an meine Kindheit. Lektion 2: Machen, was "man nicht macht" kann unheimlich befreiend und belebend wirken. Auch das hab ich mir bewahrt.
Das Leben ging weiter. Wir bekamen vond er Stadt eine größere Neubauwohnung in einem Randbezirk. Ich war damals oft krank, hatte Asthmaanfälle und bekam Unmengen Medikamente. Mehr als nötig gewesen wäre, weiß ich heute. Meine Mutter, selbst Krankenschwester und den Herren in Weiß hörig, hat ihr Hobby damals auf mich übertragen. Sie nahm damals schon Unmengen an Medikamenten. Ein paarmal pro Jahr wurde ich für Wochen im Kinderspital stationär aufgenommen. Dort war ich gerne. Da gabs Kinder, liebe Schwestern, alles war so schön sauber und man kümmerte sich um mich. Dabei gings mir ja garnicht so schlecht. Gut, beim Atmen rasselte es, aber daran hatte ich mich gewöhnt. Einmal, als meine Mutter mich wiedermal ins Spital brachte, hörte ich, wie ein Arzt mit ihr diskutierte. Was ihr einfiele, sie wären ja kein Kinderhotel. Ich wurde trotzdem aufgenommen. Offenbar hatte meine Mutter sich durchgesetzt. Ich weiß nicht, ob sie mich ins Spital steckte, um in Ruhe saufen zu können oder um selbst Entziehungskuren zu machen. Jedenfalls hatten meine Spitalsaufenthalte mit Alkohol zu tun. Und ich fühlte mich verraten. Nahrung für meine Abneigung gegen Verlogenheit.
Wenn ich mal nicht im Spital war, ging ich brav zur Schule, tat mir leicht beim lernen. Nicht selten verlief der restliche Tag dann so, dass ich heimkam, meine Mutter irgendwo mit Schaum vorm Mund vorfand, sie erstmal wiederbelebte, kannte alle Kniffe (zur Seite drehen, damit sie nicht am Erbrochenen erstickt, Milch einflößen zum Neutralisieren - keine Ahnung woher ich das hatte, aber egal, keine Hilfe holen, sonst kriegt ihre Arbeitsstelle vielleicht Wind davon und sie verliert den Job pipapo). Und wenn das erledigt war, dann setzte ich mich hin und machte meine Aufgaben. Das war der normale Ablauf, mir kam dabei nichts seltsam vor. Klar wußte ich, dass es bei anderen Familien anders läuft, aber ich fühlte mich dabei nicht arm oder so. Es ist, wie es ist.
Es ist, wie es ist. Das sehe ich auch heute noch so. Ich empfinde das Kind in mir von damals auch heute noch nicht als "arm". Aber eines hängt mir nach: Lektion 3: Selbstständig sein, alles checken, keine Hilfe brauchen. Das hängt mir immer noch nach. Das wird in mir gesehen und das hängt mir auch nach: Ich bin die Starke, die die alles kann, alles im Griff hat. Das tut mir nicht gut. Mich gehen lassen, anderen das Ruder überlassen, Vertrauen in andere haben, das alles fällt mir unheimlich schwer. Das kann ich kaum zulassen. Und manchmal steh ich neben mir und frage mich, wann ich mal zusammenbreche. Wann ich mal nicht mehr kann. Bis jetzt jedenfalls nicht. Bis jetzt "funktioniere" ich prächtig.
Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich 10 Jahre alt war. Als mein Vater ging, empfand ich es als unglaublich ungerecht. Er kann einfach gehen, ich nicht. Ich bleibe bei ihr.
Lektion 4: Mach Dich nie von jemanden abhängig. Auch die Lektion: Fluch und Segen in einem. Meine Unabhängigkeit habe ich und hüte sie wie meinen Augapfel. Damit geht jedoch Hand in Hand, dass ich Nähe nur bis zu einer gewissen Grenze zulasse. Meine Beziehungen haben eine komstante Halbwertzeit von 3 Jahren. Dann trenne ich mich, zwar im Guten und bewahre zu allen meinen Männern einen guten, freundschaftlichen Kontakt. Doch keine Nähe auf Dauer. Das ist der Nebeneffekt. Ob er gut oder schlecht ist, kann ich nicht mal beurteilen.
Das Leben mit meiner Mutter ging mehr oder weniger so weiter. Sie machte nach der Scheidung eine Entziehungskur. Dann wurde es eine zeit lang besser. Doch der Medikamentensucht wurde sie nie Herr. Ihre Psychopharmaka sind ja alle ärztlich verschrieben, die "braucht sie halt". Mhm, schon klar. Dass sie dann die Monatsration innerhalb einiger Tage verbraucht, steht ja nicht zur Debatte. Es gibt wohl keinen Neurologen, den sie noch nicht bekniet hat ihr neue Pülverchen zu verschreiben. Und irgendwie schafft sies immer. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Spiel der Täuschung geht immer weiter.
Ich habe dann ungefähr zur gleichen Zeit beschlossen, nicht mehr krank zu sein. Die ganzen widerlichen Tabletten, die mir damals eingeflößt wurden habe ich im Klo runtergespült und gesagt: scheiß auf euer Mitleid und Selbstmitleid. Ich bin nicht krank, ich bin nicht arm. Was soll ich sagen? Es hat geklappt. Keine Asthmaanfälle mehr, keine Medikamente mehr seit dem Tag.
Lektion 5: Du bist nicht arm.
Dann erinnere ich mich noch an ein besonders traumatisches Erlebnis mit meiner Mutter. Ich war damals 13. Sie war wiedermal völlig weggetreten. Lag im Bett mit offenen Augen, reagierte aber auf garnichts mehr. Die Weisung war wie immer: keine Hilfe anfordern. Und da geschah etwas mit mir - ich wollte auch keine Hilfe mehr anfordern. Ich wollte, dass sie dem ganzen Elend endlich ein Ende setzt. Wollte sie endlich tod sehen. Ich blieb also in meinen Zimmer, ganz ruhig, summte ein Liedchen, hörte Hörspielkassetten und wartete darauf, dass sie stirbt. Am nächsten Morgen lag sie immer noch genauso da. Die Augen offen, die mittlerweile eine gelbliche Färbung annahmen. Ihre Haut ebenso, ledrig und gelb. Aber sie lebte noch. Als sie am Abend immer noch lebte, rief ich doch eine Kollegin von ihr an. Die ließ dann die Rettung rufen. Ich wäre fähig gewesen, sie in aller Seelenruhe sterben zu lassen. Und ich weiß bis heute nicht, ob es nicht das Beste für sie und mich gewesen wäre.
Lektion 6: Du kannst kalt, hart und unbarmherzig sein.
Lektion 6 begleitet mich im Bezug auf meine Mutter immer noch. Wenn sie mich lallend anruft, werde ich von einem Moment zum anderen zum Eisblock, keine Geduld, kein Mitgefühl, pure Abweisung. Diese Lektion verzeihe ich ihr nicht. Sie macht mich zur Bösen, zur Egoistin, die gemein zur "armen alten Mutter" ist. Nach solchen Anrufen ist der Tag erstmal gelaufen, ich bin sauer und unansprechbar bis zum Abend. Ich hasse sie dann abgrundtief für das was sie ist und für das, was sie aus mir macht. Ich hab doch überhaupt keinen Bock drauf meine Mutter zu hassen und ihr den Tod zu wünschen. Doch genau so ist es und ich kann mich dagegen nicht wehren. Die Gelassenheit, mit der ich sonst jeder schweren Situation gegenübertrete, verlässt mich hier völlig. Hier verlässt mich jede rationale Analyse (sie ist halt krank, sie macht das nicht absichtlich usw.). In dem Moment sehe ich nur die Frau, die meine Mutter zerstört. Und dazu hat sie einfach kein Recht. Sie zerstört nicht sich, sie zerstört meine Mutter.
Mit allen anderen Lektionen kann ich mehr oder weniger gut umgehen, sehe ihre Nach-, aber auch ihre Vorteile. Sehe sie als Teil meiner selbst, weiß woher sie kommen und was sie bewirken. Doch mit Lektion 6 kann ich nicht umgehen, auf die kann ich wirklich verzichten.
So, jetzt reichts mir fürs erste. Es geht noch weiter, aber für heute bin ich erstmal müde und ausgelaugt.
Zuletzt noch: Entschuldigung, wenn ich zu unverblümt Berichte. Es wird mir oft vorgeworfen, zu unsensibel zu sein, zu sehr meinen Fingern zielgenau in Wunden zu stecken. Bei mir und bei anderen. Tut mir leid, wenn ich dabei irgendwelche Grenzen der Ethik oder des guten Geschmackes überschreite.
Ich bitte mir auch Vertippser oder dergleichen nachzusehen, ich will mir das jetzt nicht nochmal durchlesen.