• Hallo,

    durch Euer Forum sind wieder viele Gedanken und Erinnerungen in mir aufgekommen. Erinnerungen an eine Kindheit mit einer alkohol- und tablettensüchtigen Mutter. Ein alltägliches Schicksal, im Grunde nichts besonderes, wie viele gibt es, die aktiv oder passiv von dieser Krankheit betroffen sind. Warum ist es dann ein Thema, dass so gerne verschwiegen, verheimlicht, heruntergespielt wird? Da beginnt meiner Meinung nach das Problem. Alkoholismus ist normal. Es ist nichts dessen man sich schämen muss. Scham ist kein guter Nährboden für Heilung. Alkoholismus ist Alltag, also sehen wir der Sache ins Gesicht.

    Ich möchte die Geschichte meiner Mutter und ihre Auswirkungen auf mein Leben gerne beschreiben. Vielleicht kann jemand was daraus mitnehmen. Vielleicht komm ich auf meiner Suche nach Antworten auch weiter. Vielleicht bekomme ich den einen oder anderen Denkanstoß, vielleicht wird mir ein Fokus auf das Geschehene eröffnet, den ich in all den Jahren noch nicht entdeckt habe. Denn immer noch fällt es mir oft schwer damit umzugehen. Vielleicht interessierts auch nicht. Das wäre auch ok, ich denke, es hilft mir schon selbst das alles mal aufzuschreiben. Entschuldigt also bitte, wenn ich weit aushole.

    Doch genug der Einleitung.

    Meine Mutter also ...

    Die erste Erinnerung an meine Mutter ist mit großen weißen Knöpfen auf einer weißen Wollweste verbunden. Die Weste umhüllt den Körper meiner Mutter, die auf dem schmutzigen Küchenboden unserer desolaten 2 Zimmer Wohnung liegt. Ich bin ungefähr 4 Jahre alt, knie am Boden und schüttle sie. Dann lauf ich hinaus auf den Gang, hole Hilfe. Bald stehen 2 Nachbarinnen in der Wohnungstür, ich erzähle ihnen aufgeregt, wie meine Mutter vorher das Katzenfutter für unseren Kater aus der Dose genommen hat. Sie hat sich dann den Finger abgeschleckt, was mich eckelte, und dann ist sie umgekippt. Für mein 4 jähriges Hirn klarer Fall von vergifteten Katzenfutter. So plappere ich drauflos ... doch dann halte ich inne und sehe die mitleidigen Blicke der Nachbarinnen auf mir. Blicke, die mich "armes dummes Ding" nennen. Ich verstehe diese Blicke nicht. Wieso versuchen sie nicht zu helfen. Wieso glauben sie mir nicht? Was wissen sie, was ich nicht weiß, was verschweigen sie?
    Später habe ich natürlich verstanden. Was sich nicht geändert hat, ist mein instinktiver Hass gegen Verlogenheit und Heimlichtuerei. Lektion 1, die mir meine Mutter erteilte.

    An diese Wohnung habe ich noch einige andere Erinnerungen ähnlicher Art. Die letzte Erinnerung war jedoch eine schöne Erinnerung. Es muss ein Jahr später gewesen sein. Ich wachte mitten in der Nacht auf, stand im Gitterbett (das musste lange halten) und sah meine Eltern nackt am offenen Fenster stehen und rausschreien. Unser Haus stand in Flammen, doch das machte mir keine Angst. Stattdessen gefiel es mir unheimlich, dass meine Eltern etwas taten, was "man nicht tut". Wir wurden dann über die Feuerwehrleiter aus dem Fenster geholt und ich erinnere mich genau, wie ich dem Feuerwehrmann erzähle, dass er unbedingt noch unseren Wellensittich retten muss.
    Wenn ich "eine schöne Erinnerung" sage, ist das keineswegs zynisch gemeint. Es ist wirklich eine der schönsten Erinnerungen an meine Kindheit. Lektion 2: Machen, was "man nicht macht" kann unheimlich befreiend und belebend wirken. Auch das hab ich mir bewahrt.

    Das Leben ging weiter. Wir bekamen vond er Stadt eine größere Neubauwohnung in einem Randbezirk. Ich war damals oft krank, hatte Asthmaanfälle und bekam Unmengen Medikamente. Mehr als nötig gewesen wäre, weiß ich heute. Meine Mutter, selbst Krankenschwester und den Herren in Weiß hörig, hat ihr Hobby damals auf mich übertragen. Sie nahm damals schon Unmengen an Medikamenten. Ein paarmal pro Jahr wurde ich für Wochen im Kinderspital stationär aufgenommen. Dort war ich gerne. Da gabs Kinder, liebe Schwestern, alles war so schön sauber und man kümmerte sich um mich. Dabei gings mir ja garnicht so schlecht. Gut, beim Atmen rasselte es, aber daran hatte ich mich gewöhnt. Einmal, als meine Mutter mich wiedermal ins Spital brachte, hörte ich, wie ein Arzt mit ihr diskutierte. Was ihr einfiele, sie wären ja kein Kinderhotel. Ich wurde trotzdem aufgenommen. Offenbar hatte meine Mutter sich durchgesetzt. Ich weiß nicht, ob sie mich ins Spital steckte, um in Ruhe saufen zu können oder um selbst Entziehungskuren zu machen. Jedenfalls hatten meine Spitalsaufenthalte mit Alkohol zu tun. Und ich fühlte mich verraten. Nahrung für meine Abneigung gegen Verlogenheit.

    Wenn ich mal nicht im Spital war, ging ich brav zur Schule, tat mir leicht beim lernen. Nicht selten verlief der restliche Tag dann so, dass ich heimkam, meine Mutter irgendwo mit Schaum vorm Mund vorfand, sie erstmal wiederbelebte, kannte alle Kniffe (zur Seite drehen, damit sie nicht am Erbrochenen erstickt, Milch einflößen zum Neutralisieren - keine Ahnung woher ich das hatte, aber egal, keine Hilfe holen, sonst kriegt ihre Arbeitsstelle vielleicht Wind davon und sie verliert den Job pipapo). Und wenn das erledigt war, dann setzte ich mich hin und machte meine Aufgaben. Das war der normale Ablauf, mir kam dabei nichts seltsam vor. Klar wußte ich, dass es bei anderen Familien anders läuft, aber ich fühlte mich dabei nicht arm oder so. Es ist, wie es ist.
    Es ist, wie es ist. Das sehe ich auch heute noch so. Ich empfinde das Kind in mir von damals auch heute noch nicht als "arm". Aber eines hängt mir nach: Lektion 3: Selbstständig sein, alles checken, keine Hilfe brauchen. Das hängt mir immer noch nach. Das wird in mir gesehen und das hängt mir auch nach: Ich bin die Starke, die die alles kann, alles im Griff hat. Das tut mir nicht gut. Mich gehen lassen, anderen das Ruder überlassen, Vertrauen in andere haben, das alles fällt mir unheimlich schwer. Das kann ich kaum zulassen. Und manchmal steh ich neben mir und frage mich, wann ich mal zusammenbreche. Wann ich mal nicht mehr kann. Bis jetzt jedenfalls nicht. Bis jetzt "funktioniere" ich prächtig.

    Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich 10 Jahre alt war. Als mein Vater ging, empfand ich es als unglaublich ungerecht. Er kann einfach gehen, ich nicht. Ich bleibe bei ihr.
    Lektion 4: Mach Dich nie von jemanden abhängig. Auch die Lektion: Fluch und Segen in einem. Meine Unabhängigkeit habe ich und hüte sie wie meinen Augapfel. Damit geht jedoch Hand in Hand, dass ich Nähe nur bis zu einer gewissen Grenze zulasse. Meine Beziehungen haben eine komstante Halbwertzeit von 3 Jahren. Dann trenne ich mich, zwar im Guten und bewahre zu allen meinen Männern einen guten, freundschaftlichen Kontakt. Doch keine Nähe auf Dauer. Das ist der Nebeneffekt. Ob er gut oder schlecht ist, kann ich nicht mal beurteilen.

    Das Leben mit meiner Mutter ging mehr oder weniger so weiter. Sie machte nach der Scheidung eine Entziehungskur. Dann wurde es eine zeit lang besser. Doch der Medikamentensucht wurde sie nie Herr. Ihre Psychopharmaka sind ja alle ärztlich verschrieben, die "braucht sie halt". Mhm, schon klar. Dass sie dann die Monatsration innerhalb einiger Tage verbraucht, steht ja nicht zur Debatte. Es gibt wohl keinen Neurologen, den sie noch nicht bekniet hat ihr neue Pülverchen zu verschreiben. Und irgendwie schafft sies immer. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Spiel der Täuschung geht immer weiter.
    Ich habe dann ungefähr zur gleichen Zeit beschlossen, nicht mehr krank zu sein. Die ganzen widerlichen Tabletten, die mir damals eingeflößt wurden habe ich im Klo runtergespült und gesagt: scheiß auf euer Mitleid und Selbstmitleid. Ich bin nicht krank, ich bin nicht arm. Was soll ich sagen? Es hat geklappt. Keine Asthmaanfälle mehr, keine Medikamente mehr seit dem Tag.
    Lektion 5: Du bist nicht arm.

    Dann erinnere ich mich noch an ein besonders traumatisches Erlebnis mit meiner Mutter. Ich war damals 13. Sie war wiedermal völlig weggetreten. Lag im Bett mit offenen Augen, reagierte aber auf garnichts mehr. Die Weisung war wie immer: keine Hilfe anfordern. Und da geschah etwas mit mir - ich wollte auch keine Hilfe mehr anfordern. Ich wollte, dass sie dem ganzen Elend endlich ein Ende setzt. Wollte sie endlich tod sehen. Ich blieb also in meinen Zimmer, ganz ruhig, summte ein Liedchen, hörte Hörspielkassetten und wartete darauf, dass sie stirbt. Am nächsten Morgen lag sie immer noch genauso da. Die Augen offen, die mittlerweile eine gelbliche Färbung annahmen. Ihre Haut ebenso, ledrig und gelb. Aber sie lebte noch. Als sie am Abend immer noch lebte, rief ich doch eine Kollegin von ihr an. Die ließ dann die Rettung rufen. Ich wäre fähig gewesen, sie in aller Seelenruhe sterben zu lassen. Und ich weiß bis heute nicht, ob es nicht das Beste für sie und mich gewesen wäre.
    Lektion 6: Du kannst kalt, hart und unbarmherzig sein.
    Lektion 6 begleitet mich im Bezug auf meine Mutter immer noch. Wenn sie mich lallend anruft, werde ich von einem Moment zum anderen zum Eisblock, keine Geduld, kein Mitgefühl, pure Abweisung. Diese Lektion verzeihe ich ihr nicht. Sie macht mich zur Bösen, zur Egoistin, die gemein zur "armen alten Mutter" ist. Nach solchen Anrufen ist der Tag erstmal gelaufen, ich bin sauer und unansprechbar bis zum Abend. Ich hasse sie dann abgrundtief für das was sie ist und für das, was sie aus mir macht. Ich hab doch überhaupt keinen Bock drauf meine Mutter zu hassen und ihr den Tod zu wünschen. Doch genau so ist es und ich kann mich dagegen nicht wehren. Die Gelassenheit, mit der ich sonst jeder schweren Situation gegenübertrete, verlässt mich hier völlig. Hier verlässt mich jede rationale Analyse (sie ist halt krank, sie macht das nicht absichtlich usw.). In dem Moment sehe ich nur die Frau, die meine Mutter zerstört. Und dazu hat sie einfach kein Recht. Sie zerstört nicht sich, sie zerstört meine Mutter.

    Mit allen anderen Lektionen kann ich mehr oder weniger gut umgehen, sehe ihre Nach-, aber auch ihre Vorteile. Sehe sie als Teil meiner selbst, weiß woher sie kommen und was sie bewirken. Doch mit Lektion 6 kann ich nicht umgehen, auf die kann ich wirklich verzichten.

    So, jetzt reichts mir fürs erste. Es geht noch weiter, aber für heute bin ich erstmal müde und ausgelaugt.

    Zuletzt noch: Entschuldigung, wenn ich zu unverblümt Berichte. Es wird mir oft vorgeworfen, zu unsensibel zu sein, zu sehr meinen Fingern zielgenau in Wunden zu stecken. Bei mir und bei anderen. Tut mir leid, wenn ich dabei irgendwelche Grenzen der Ethik oder des guten Geschmackes überschreite.
    Ich bitte mir auch Vertippser oder dergleichen nachzusehen, ich will mir das jetzt nicht nochmal durchlesen.

  • Liebe EineUnterVielen,

    schreib einfach wie dir danach ist. Da ist so viel, was du mit hellwachen Sinnen wahrgenommen hast...

    Dein Punkt 6 ist so ähnlich auch meiner. Ich finde es einen erheblichen Unterschied, ob der Vater oder die Mutter trinkt. Die Väter sind oft sowieso abwesend, sie gehen in ihren Berufsalltag und wenn sie heimkommen verschwinden sie vorm Fernseher oder auf den Fußballplatz. Abwesende Väter gibt es ja auch bei Alleinerziehenden.

    Wenn die Mutter trinkt, dann hat das Kind oft gar keinen Ansprechpartner mehr. Vater "abwesend" wie auch immer, und Mutter betrunken... Hm. Bei mir war es auch die Mutter, die trinkt. Ich fühlte mich gnadenlos alleingelassen, "alle" hatten eine Mama nur ich nicht. "Alle" durften ihre Freundinnen mit heimbringen, nur ich nicht usw.

    Dein Text ist sehr berührend, danke für deine Offenheit.

    Lieber Gruß, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Danke für Deine aufmunternden Worte, Linde. Sie machen mir Mut, weiterzuschreiben. Und ich will weiterschreiben ...

    Meine ganze Kindheit hindurch würde ich mich als stilles Vakuum beschreiben. Ich hab alles gesehen, alles in mich aufgesogen, nichts bewertet. Es ist, wie es ist. Aus diesen Erfahrungen und Erlebnissen habe ich doch mehr mitgenommen, als "nur" Verletzungen. Wie soll ich es beschreiben? Ein Verstehen? Ein Akzeptieren, dass die Welt nicht rosig ist, das Tiefen, sehr tiefe Tiefen zum Leben gehören? Das Schmerz und Tod einfach teil des Lebens sind? Um dieses Verstehen überhaupt zu ertragen, und das habe ich erst jetzt begriffen, ist wohl sowas wie Gefühlskälte entstanden. Mir gehen diese Katastrophen nicht nahe, ich empfinde keinen Schmerz dabei, nur eine unendliche Neugier: woher kommt etwas, wohin geht etwas, warum sind Menschen, wie sie sind. Damit Hand in Hand geht das völlige Unverständnis für Scham. "Privatsphäre" ist ein Begriff, mit dem ich nichts anfangen kann. Wozu? Was gibt es zu verstecken, ist nicht alles natürlich im Sinne von menschlich, allzumenschlich? Auf diesen Unterschied zu anderen Menschen stoße ich immer wieder - und sie werden wohl recht haben, wenn sie sagen, dass "Privatsphäre" wichtig und richtig und was weiß ich was ist. Ich akzeptiere das vollauf. Bloß: Ich kanns nicht nachvollziehen.

    Doch um den Faden wieder aufzunehmen - wie gings weiter mit meiner Mutter?
    Es gab einen rettenden Engel in meiner Familie und das war meine Großmutter, die Mutter meines Adoptivvaters. Eine einfache bescheidene unendlich weiche und liebevolle Frau. Bei ihr fand ich sowas wie eine Zukunftsperspektive und wenn immer ich gefragt wurde, was ich werden wollte, dann sagte ich "eine alte Frau, wie meine Oma". Wenn ich regelmäßig mitten in der Nacht zu ihr gebracht wurde mit der Polizei, weil meine Mutter wieder eingeliefert wurde, dann stand sie immer in der Tür mit einer ihrer geblümten Plastikschürzen, sagte garnichts, nahm mir den Mantel ab, strich mir über die Wange und führte mich an einen gedeckten Tisch mit einem großen Teller Kaiserschmarrn und einem Häferl Buttermilch. Mit vollem Magen, legte ich dann meinen Kopf auf ihre Schoß und sie strich mir über den Kopf. Sie machte im Grunde nicht viel und doch alles für mich: sie ließ mich Kind sein. Und dafür bin ich ihr noch heute unendlich dankbar. Sie ist und bleibt mein Schutzengel. Jahre später, als ich mit einer Schulfreundin bei Ladendiebstählen erwischt wurde, wurde ich wieder mit der Polizei zu ihr gebracht. Für mich war klar: Ich hab Schnade über sie gebract, über den einzigen Menschen, dem ich niemlas Schlechtes tun wollte. Für mich war klar: Ich muss verstoßen werden, das ist nur recht und billig. Doch sie stand wieder in der Tür, mit derselben geblümten Schürze, sagte nichts, strich mir über die Wange und am Tisch stand das Essen. Ich hab nie wieder gestohlen. Und ich glaube, der Moment hat mir einen Keim ins Herz gelegt, der mir die Kraft gab zu gesunden. Danke, Oma!

    Ich kam in die Pubertät. Und entdeckte damit, dass es eine Welt da draussen gibt. Die Erkenntnis hat mich schier umgeworfen! In der Zeit stahl ich mich oft mitten in der Nacht aus dem Haus, schwang mich auf mein Rad, auf dem ich bis dato bloß in unserem Hof meine Runden drehte, und fuhr einfach drauflos, ließ die Kreise konzentrisch immer größer werden und lernte meine Stadt kennen. Der Freiheitsrausch, der mich dabei befiehl mitten in der Nacht durch die menschenleeren Straßen zu fahren war überwältigend. Die Stadt gehört MIR! Die Welt gehört MIR! schrie es in mir immer lauter. Das war der erste Schritt in die Unabhängigkeit. In erster Linie die Unabhängigkeit von der Sucht meiner Mutter. Er gab mir die Kraft mich aufzubäumen, mich loszustrampeln und während ich bis dato alles still in mich aufgenommen habe, begann ich nun um meine Grenzen zu kämpfen. Nun begannnen die Grabenkämpfe daheim. Vor allem um das Thema Alkohol und Sucht. Ich weinte, bettelte, schrie, schimpfte, kämpfte darum sie solle aufhören. Ich durchsuchte die Wohnung nach Alkohol ("Den brauchen wir ja nur, wenn Besuch kommt." - Als ob wir jemals Besuch gehabt hätten ...) und schüttete ihn literweise in den Ausguss. Eines Tages eskalierte der Streit über alle Maßen. Ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr, ich wollte meinem Leben ein Ende machen. Und so stand ich am Fensterbrett vor dem offenen Fenster im obersten Stock, bereit azuschließen, bereit zu springen. Ich habe dieses Bild noch sehr klar in meinen Gehirnbahnen eingebrannt. Meine Mutter stand im Zimmer, schwankend, lallend ... und sie sagte "na, spring doch, spring. Traust Dich eh nicht ...". Und da geschah wieder was mit mir. Ich wurde - das erste mal - eiskalt. Eine Eiseskälte, die sich auch heute noch, wie schon beschrieben jedes Mal einstellt, wenn ich sie "drauf" erlebe. Die Klapee ging zu und es blieb nur ein Gedanke in meinem Kopf: "Das ist NICHT meine Mutter. Ich habe keine Mutter mehr. Für diesen Dreck soll ich mich umbringen? Sicher nicht!" Und ich sprang nicht. Doch dieses neue Gefühl erleichterte mich ungemein und die Einstellung blieb mir einige Jahre erhalten. Ich fand meine gewohnte Ruhe wieder, stieg herab und zog wenig später aus der Wohnung aus.

    Soweit für heute. Es tut gut, das alles loszuwerden. Auch wenn es nur meine Geschichte ist und ich sie natürlich in und auswendig kenne. Viele innere Baustellen sind heute überwunden. Und zu anderen finde ich erst jetzt den Mut, sie mir anzusehen und vielleicht eine Lösung dafür zu finden. Doch dazu komme ich erst später.

  • Hallo EineunterVielen!

    Ich habe mir auch oft abends vor dem Einschlafen gewünscht, dass meine Mutter tot wäre. Habe mir dann ausgemalt, wie schön das Leben dann wäre. Und siehe da, sie ist gestorben, da war ich fünfzehn. Und ich war wie befreit und hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Gefehlt hat mir eine Mutter dann immer, aber nicht eine wie meine. Wenn sie heute noch leben würde oder nur eine paar Jahre länger gelebt hätte, ich weiß nicht, was aus mir dann geworden wäre, ich hätte das alles nicht viel länger aushalten können. Und deshalb ist es gut so, dass sie mich früh verlassen hat. Das ist jetzt über zwanzig Jahre her, aber die Wut auf sie und ihr Verhalten ist immer noch frisch.

    Mein Vater, mit dem ich dann alleine war, hat auch getrunken. Das war aber nicht halb so schlimm wie bei meiner Mutter. Gelitten habe ich auch darunter, aber Leid war ich gewöhnt, und das Leid war dann ja nicht mehr so groß. Man wird ja so genügsam.

    Aber... heute geht es mir gut, trotz der verkorksten Kindheit und Jugend und darauf bin ich stolz. Weil ich es in den letzten Wochen geschafft habe, meine Baustellen "abzuarbeiten".

    LG Sonnenblume

  • Sonnenblume, du bist ein Schatz! Du weißt garnicht, wie sehr ich mich zernage an schlechten Gewissen. Was muss ich denn für ein Arschloch sein, der eigenen Mutter den Tod zu wünschen. Aber es ist so, ich kann mir nicht helfen. Das heißt - es ist nur dann so, wenn sie drauf ist. In meinem inneren Bild habe ich zwei Mütter, die eine ist ein armer, verlorener und unbeholfener, aber durchaus liebenswürdiger Mensch. Wenn ich diese (nüchterne) Mutter antreffe, ist das ganz wunderbar. Dann kann ich auch recht offen über alles reden, ohne moralischen Zeigefinger, ohne Schuldzuweisungen, einfach wie es ist. Diese Momente tun unendlich gut. Die andere Mutter ist die lallende mit Silberblick, die mir sagt "was hast du denn? Ich hab doch nichts genommen, ich bin doch ganz normal". Und dabei kaum gerade stehen kann. Auf die hab ich einen unbändigen Hass. Und ich weiß halt nie, welche ich antreffe. Ist ein bisschen, wie Rubbellos rubbeln. Welche triffst du heute an?
    Meine größte Angst ist jedoch, dass sie irgendwann unter den unwürdigsten Bedingungen abkratzt, ewig lang nicht gefunden wird, weil ich mich von selbst nie melde und dann mein restliches Leben lang mit dem schlechten Gewissen nicht fertig werde. Und ich hab Angst davor, dass mir diese bösen Wünsche irgendwann auf den Kopf fallen. Dass ich es irgendwann bitter bereue und nicht mehr gut machen kann.
    Ja, vielleicht wärs das Beste gewesen, sie wäre damals gestorben. So, wie es jetzt ist, ist es wahrscheinlich das Beste, sie lebt zumindest noch so lange, bis ich mit mir (und mit ihr) in der Hinsicht im Klaren bin. Ich hab das Gefühl, viel fehlt nicht mehr. Na ja, das kann natürlich auch täuschen :)

  • Hallo EUV,

    du hast es überhaupt nicht in der Hand, was deine Mutter macht, und wenn sie stirbt, ist es nicht deine Schuld und du kannst ihr nicht helfen. Dass du dir diese Gedanken machst, verstehe ich, würde mir nicht ein bißchen anders gehen. Aber was solltest du bereuen? Dass du dir ihren Niedergang, der ja wohl schon weit fortgeschritten zu sein scheint, nicht mehr mit ansiehst? Dass du dein eigenes Leben hast, was man auch dringend braucht. Ich sehe es so, dass die Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind, dass sie ihnen eine schöne, geborgene, sichere Kindheit geben. Deine Mutter hat das nicht getan, ebensowenig wie meine, warum soll man dann als das Kind sein eigenes Leben opfern, um den Eltern, die sich selbst kaputtmachen, beizustehen. Wir haben schon früh soviel auszuhalten gehabt mit den Eltern, ich finde, das reicht für den Rest des Lebens.

    Ich hoffe, das kam jetzt nicht zu böse rüber, aber meine ganze Wut kommt gerade wieder hoch.

    LG Sonnenblume

  • Hallo EuV,

    ich glaube, das die "Wut" ein zentrales Gefühl in uns ist.
    Was haben wir gelernt in Bezug auf Wut? Wut darf nicht sein, wütend sein gehört sich nicht, schluck die Wut runter, mach ´ne Faust in die Tasche, usw usw. So bin ich mit Wut groß geworden.

    Heute habe ich gelernt, mir die Wut, wenn sie kommt, anzuschauen und anzunehmen. Ich unterdrücke sie nicht mehr. Es ist, als sage ich "Hallo Wut, da bist du ja wieder, was willst du mir jetzt sagen?". Dann lasse ich sie hochkommen und gucke, was passiert... und dann schwächt sie meist von alleine ab, einfach weil ich sie anerkannt und akzeptiert habe. Vielleicht kann das auch ein Weg für Dich sein?

    Ich kann Dich verstehen, dass Du Deiner lallenden Mutter alles Schlechte dieser Welt wünschst, sie hat Dir so viel angetan und kaputt gemacht. Aber - wem schadest Du damit? Letztendlich wieder Dir selbst... auch wenn es schwer fällt... ich wünsche nie jemandem etwas Schlechtes, denn es kommt in hohem Bogen zu mir zurück. Du musst ihr nichts Gutes wünschen, wenn Du es (verständlicherweise) nicht kannst. Vielleicht kannst Du ihr wünschen, dass das Beste für sie geschehen soll. Dann ist es völlig offen, was passiert. Und Du erkennst, dass es nicht Deine Verantwortung ist, was mit ihr passiert.

    Ich hoffe, dass mein Beitrag Dir ein wenig Unterstützung geben kann.

    LG.. Pedi

  • also ersteinmal, "wow".. das , was du durchgemacht hast ist die hölle.. omg :/
    aber ich finde mich wirkklich wieder.. wenn man "kind" ist, also so mit 5-11 jahren, dort nimmt man alles ganz anders auf.. ich habe meiner mama auch die haare gehalten, als sie mal wieder ko** in der ecke lag.. habe sie getröstet, als sie mal wieder einen nervenzusammenbruch hatte.. ich habe auf sie aufgepasst, ich war ihre mutter, nicht mehr sie meine.. als dann die pubertät kam wurde alles anders, wie bei dir.. man schreit,weint, usw.. in der phase bin ich nun immernoch und sehe noch kein ende !!

    jetzt aber zu dir..
    ich bewundere dich, dass du deine geschichte + deine lektionen hier so beschreibst.. ich denke, es tut gut, dass alles einmal loszuwerden,oder?

    ich bewundere dich ebenso, dass du so mit der situation umgehst..

    ich verstehe dich insofern, dass du deiner ma auch den tod wünschst, dass kenne ich, ich denke, dann muss doch alles einfacher sein..!

    dieses schlechte gewissen ist denke ich mal normal, wenn auch sehr schwer zu ertragen!! ich merke es auch grade :/

    ich liebe meine mutter und ich denke, dass du deine mutter auch liebst, nicht die mutter, die lallend vor dir sitzt, sondern die mutter, die wunderschöne gespräche mit dir führt, die dich liebt, denn das tut sie.

    ich habe mir letztens ein messer an den hals gehalten, weil ich (genau wie du) meine mutter vom trinken abbringen wollte.. es hat natürliuch nicht funktioniert :/

    ich bin am ende, weiß nicht mehr weiter, denn cih kann mich nicht trennen, so wie du es getan hast!!

    ich habe dich nun wirklich als vorbild.. denn du hast dasselbe durchgemacht wie ich..


    ich kann dir sicherlich keine tipps geben, denn ich bin nocch lange nicht so weit wie du..

    aber eins kann ich dir sagen:


    Du kannst stolz auf dich sein !!


    Lg, Lion

  • @Pedi:
    Guter, interessanter Punkt. Du hast mich an etwas erinnert. Wie ist das mit der Wut... Ich glaube, ich werde in der Fortsetzung drauf eingehen, sonst müsste ich jetzt zu weit ausholen.

    Lion : Ja, es tut sehr gut alles einmal in seiner Gesamtheit zu erfassen. Natürlich hab ich die meisten Erlebnisse für mich schon hundertmal durchgekaut, sie von dieser und jener Seite betrachtet und irgendwann mal gut sein lassen können.

    Du sagst, Du kannst Dich nicht trennen? Woher willst Du das denn wissen? Du steckst doch mitten im Strudel, mitten im Prozess, woher weißt du denn schon, wie er endet? Ich bin sogar ganz fest davon überzeugt, dass du das nicht nur kannst, sondern auch machen wirst. Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange quälst Du Dich damit. Wann bist Du bereit loszulassen. Das wann und wie liegt in deiner Hand, aber die Kraft dazu hast Du in jedem Fall. Den ersten Schritt dazu hast Du getan: Du bist hier! Das heißt, Du hast aktiv den Schritt gesetzt Deine Lösung zu suchen. Der Rest kommt zwar nicht von allein, und wird auch nicht leicht sein, aber es wird passieren. Davon bin ich fest überzeugt.
    Aber - um Gottes Willen - bitte, nimm mich NICHT zum Vorbild! Ich bin meinen Weg gegangen, und viele meiner Schritte wären für Dich mit ziemlicher Sicherheit grundfalsch. Für viele meiner Schritte hab ich auch einen hohen Preis bezahlt. Ich bin absolut kein Vorbild. (Ich bin bloß älter :) ) Eigentlich sollten wir allesamt alle Vorbilder gleich mal als solche über Bord werfen. Aspekte und Sichtweisen anhören ist ok, aber nicht ungeprüft für sich übernehmen. Das wäre grundfalsch. Was allein zählt, ist was für Dich richtig ist. Nicht für Deine Mutter, nicht für mich, nur für Dich. Und da steckt das Vorbild dann nur in Dir drinnen. Schau mal nach, was es Dir sagt. :) Sag mal, Lion, wie sieht Dein Weg aus? Denk Dir doch ein paar Varianten einfach mal aus, mal sie Dir aus, schmück sie mit Details. So wärs gur, so darfs garnicht sein. Und wenn Du dann die beste Variante gefunden hast, dann leg los und steuer drauf zu.

  • Ich schreib dann mal einfach weiter. Die, für mich, schwierigen Stellen kommen ja erst. Ob ich überhaupt den Mut haben werde sie anzufassen, das weiß ich jetzt noch garnicht. Aber ich probiers mal mit der klitzekleinen Ameisenschritte Methode, immer nur ein kleiner Schritt vor dem anderen...

    Pedi hat mich auf einem Punkt gebracht, den ich ausgelassen habe, der mir für meine Suche aber glaub ich ein wichtiger Schlüssel ist. (Danke, pedi!)

    Die Wut.
    Ich erinnere mich an die kleine "Eine unter Vielen" als Kind mit einer absolut stoischen Ruhe. Aus dieser Ruhe hat mich nichts gebracht, da konnten Katastrophen passieren rund um mich, ich nahm alles nur mit einer großen Neugierde auf. Aber es gab kein "Richtig" und kein "Falsch", kein Schwarz oder Weiß, nur ein "so ist das also? Interessant!". Die Welt war mein Studienfach und ich lernte und lernte und lernte. Diese stoische Ruhe habe ich als unendliche Kraft und Ausgeglichenheit wahrgenommen, in dieser Ruhe war ich unantastbar. Wahrscheinlich war es auch einfach nur das, was ich hier als "Schnur zu seinen Gefühlen abschneiden" lesen konnte, nur eine innere Schutzfunktion. Das wird wohl so sein. Bloß ... ich hab das nie als negativ wahrgenommen. Ich hab mich nicht tod gefühlt oder so, das Gefühl ging auch nicht damit umher mich nicht mehr an Dingen erfreuen zu können. Im Gegenteil. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich seither auf der Suche diese Ruhe und Ausgeglichenheit wiederzufinden.
    Jedenfalls weiß ich noch ganz exakt den Moment, an dem es mit dieser Ruhe vorbei war. Es muss kurz nach meinen neuen Entdeckung "die Welt da draussen" gewesen sein. Damals habe ich mir eine Wand meines Zimmers neu dekoriert. Diese Wand war das erste mal, dass ich etwas ureigenes geschaffen habe. Ich habe sie mit Federn und Flöten geschmückt. Und sie war schön! Auch heute noch kann ich sagen: sie war wirklich schön!
    Kurz danach gab es wieder Krach mit meiner Mutter, sie drehte wieder völlig durch, war rasend. Kam in mein Zimmer, brüllte unverständliches Zeugs, ging wieder raus, knallte die Tür zu, kam rein, schrie, knallte die Tür zu, knallte die Tür ein dutzendmal hintereinander zu. Meine Mutter, die irrationale Person. Nichts neues im Grunde, solche Ausraster kannte ich von ihr, ich nahm sie gelassen auf, lag am Bett, las mein Buch, ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. Wie immer.
    Doch genau diese Ruhe brachte sie natürlich noch mehr zur Raserei. Sie wünschte sich von mir, sie zu stoppen. Wünschte sich, dass ich sie zur Räson bringe, ihr aus dieser Raserei heraushelfe. Und mir wars einfach nur schnurzpiepegal. Doch dann traf sie meine wunde Stelle. Sie fiel über meine neue Wand her. Und damit hat sie mich getroffen. Das war das erste Mal, dass etwas von mir nicht nur in mir drinnen existierte, sondern auch draussen. Angreifbar. In dem Moment spürte ich das erste Mal Wut. Und nicht nur Wut, ich sah rot und ging auf sie los. Ich weiß noch genau, wie ich damals dachte "jetzt hat sie mich. Jetzt hat sie mich infiziert". Ich fühlte mich vergiftet von ihrem Wahn, der auf mich nun überschwappte. Das hab ich ihr nie verziehen. Und so geht es mir noch heute mit der Wut. Ich brauche zwar immer sehr lang, bis ich wütend werde, bin sehr sehr lange geduldig und habe nach vielen Jahren gelernt meine Wut wieder zu bändigen, nachdem ich Menschen Gewalt angetan hatte, später dazu über gegangen bin Dinge kurz und klein zu schlagen, bin ich jetzt wieder soweit es garnicht erst so weit kommen zu lassen. Ich habe meine innere Ruhe fast wieder zurückgewonnen. Doch diejenigen, die es heute noch schaffen mich wütend zu machen, denen verzeihe ich das nicht. Erst letztes Jahr habe ich einer meiner bis dahin innigsten Freundinnen die Freundschaft von einem Moment auf den anderen gekündigt, weil sie diese Grenze bei mir überschritten hat. Ich bin nachher neben mir gestanden und habe mich über mich selbst gewundert. Warum so radikal? Ist es das wert? Aber wenn ich in mich reinhöre und mich frage, ob ich die Verbindung wieder aufnehmen will, höre ich ein lautes und festes NEIN!
    Nein, ich mag die Wut nicht. Sie macht mich unkontrolliert, lässt mich Dinge tun und sagen, die verletzen. Und ich will niemanden verletzen. Und so paradox es klingt: Ich verzeihe es nicht, wenn sich jemand von mir verletzen lässt.
    Das ist doch völlig absurd!

  • hallo,

    das mit dem tod wünschen kenne ich nur allzu gut, hatte früher oft den gedanken und auch diese unbändige wut, bin da auch mal ausgetickt und habe türen geknallt und so manches schimpfwort ist gefallen. heut seh ich das ganze aus der ferne und weiß dass es einfach nur die pure verzweiflung war, nichts ändern zu können und wieder mal enttäuscht worden zu sein.
    heute versuche ich das ganze neutral zu sehen und abstand zu gewinnen, das ist aber für mich noch sehr schwer. als ich meinen vater gehaßt habe, war es leichter abzuschalten. beim neutralen betrachten gerate ich gewaltig ins grübeln.

  • "als ich meinen vater gehaßt habe, war es leichter abzuschalten." Stimt Shirley, so gings mir auch. Ich hatte die Verbindung schon einmal völlig gekappt - und es ging mir wirklich gut damit. Bis ... aber dahin komm ich noch.
    Heute gehts erstmal weiter in der Geschichte.

    Wo war ich stehen geblieben? Ich versuchte mich umzubringen und aus dem Fenster zu springen und sie stand lallend vor mir - "Mach doch, traust Dich eh nicht" - passt, das hat gesessen, gereicht, das Fass zum überlaufen gebracht. Die Schnur war gekappt, die Frau vor mir nicht mehr meine Mutter. Ich hatte keine Mutter mehr. Und ich fühlte mich befreit!

    Da ich nach und nach meine Stadt kennenlernte, fand ich mich bald in einer fremden und aufregenden Welt wieder: Die Welt der Straßenkünstler und -musikanten. Ich kannte sie bald alle beim Namen, fand mich als Teil ihrer Welt wieder. Es klingt so unendlich naiv, aber allein die Erkenntnis, dass es darunter Menschen gab, die von ganz anderen Teilen der Erde kamen, traf mich wie ein Blitzschlag. Meine Neugier war geweckt: Wie weit ist eigentlich das andere Ende der Welt entfernt? Schön langsam bekam ich ein Gespür dafür, wie weit das Zentrum von meinem peripheren Stadtghetto weg war, doch wie weit war Afrika, Südamerika, Australien? Kurzum: Ich war unendlich fasziniert! Wie wächst man dort auf, wie fühlt sich das Leben dort an? Zu dieser Faszination kam noch eine andere Erkenntnis: Ich wurde anerkannt, gemocht, fraglos in ihrem Kreis akzeptiert. Das warf mich um - wieso soll ICH gemocht werden? Ich bin doch nichts, niemand. Ich bin doch transparent! Doch diese zum einen Teil positiven Erfahrungen hatten ach ihre Schattenseiten: Schnell wurde ich, damals 16, zum Spielball für viele Männer. Es reichte mir ein paar süße Worte ins Ohr zu flüstern und ich war auch schon vor lauter Dankbarkeit bereit mit ihm ins Bett zu steigen. Jeder war dabei der Einzige, der Richtige, bis halt der nächste Richtige kam. Der Wirbelwind der Gefühle schleuderte mich von einem zum anderen und bald fühlte ich mich kein bisschen gut mehr dabei. Ich fühlte mich benutzt, missbraucht, schmutzig und fremdgesteuert. Ich wurde von vielen gewählt und habe ihre Wahl stets staunend akzeptiert - doch nie kam mir auch nur der Hauch der Idee, dass ICH einmal wählen könnte. Dass es nicht darauf ankommt, wem ich gefalle, sondern wer mir gefällt. Das zu lernen war noch einmal ein sehr langer Weg.
    Männer haben mir also gezeigt, dass ich als Individuum wahrgenommen werde, dass ich existiere. Dieselben Männer haben dieses zarte Erwachen aber auch rüde für sich selbst missbraucht. Drüberfahren, wegwerfen, aufgelesen werden, drüberfahren, wieder wegwerfen ...
    Aus diesem Strudel musste ich raus!
    Der Platz zu Hause ist zum No-Go geworden. Ich bin mittlerweile auch ausgezogen von daheim und habe bei einer älteren Freundin gewohnt. Das brachte mir Abstand von daheim, doch was mir fehlte war jemand, der mich in dieser ohnehin schwierigen Zeit des pubertären Gefühlschaos leitet, der mir sagt, mach das nicht und das schon. Das hätte mir viele üblen Erfahrungen erspart. Auf der anderen Seite bin ich heute das Ergebnis meiner Erfahrungen, der guten und der schlechten, der Tiefpunkte und der wiedererlangten Höhen. Was ist schon "der richtige Weg"?
    In der Schule ging es nun stetig bergab. Ich hab Freiheit geschnuppert und war täglich mit dem völlig irrealen Kontrast Schule und Straße konfrontiert. "Was zum Teufel bringen sie mir da eigentlich bei? Das hat doch Null komma Josef mit dem 'Leben' zu tun!".
    In diesem Jahr wurde ich dazu verdonnert sitzen zu bleiben und das Jahr zu wiederholen. Eine ungerechte Entscheidung - ich hatte eigentlich alle Prüfungen geschafft, man versuchte mich jedoch für andere Aspekte zu bestrafen. Ich war für den Schulalltag ungemütlich geworden, steckte meine Finger zu oft in tod geschwiegene Wunden und ging zu guter letzt eine Liäson mit dem Assistenten meines Englisch Professor ein. Lauter Tabubrüche, die das Schulsystem nicht hinnehmen wollte. Und die einzige Art, wie sie mich kriegen konnten, war die meine Prüfungsergebnisse kurzerhand zu ignorieren. Wenn ich heute als Mutter daran denke, wie ich damals allein mit dem Rücken zur Wand diesem System der Willkür und des Machtmissbrauchs ausgeliefert war, bekomm ich noch immer die kalte Wut. Und rundum nur obrigkeitshörige Erwachsene. Feige Schisser allesamt.

    Nundenn, ich fügte mich in mein Schicksal, scheinbar zumindest. Ich wiederholte das Jahr, begann aber gleichzeitig nebenher zu arbeiten und Geld anzusparen. Mein Ziel war das andere Ende der Welt. Weg, weit weit weg von dem ganzen Schlamassel hier, weg von meiner süchtigen Mutter, weg davon, der Spielball irgendwelcher Typen zu sein. Weg! Ich hatte damals das sehr klare Bild vor mir an einer Weggabelung angelangt zu sein: an dieser Weggabelung ging eine breite asphaltierte Straße weg, der vorbestimmte, der geebnete Weg - Schule, Uni, Beruf. Der andere Weg war schmal und holprig, doch er war MEIN Weg. So hab ich es damals glasklar empfunden. Genauso, wie das bestimmte Gefühl der Sicherheit, dass mich der asphaltierte Weg über kurz oder lang genauso in Sucht und Gosse enden lässt, wie meine Mutter.
    Nun, ob die Entscheidung richtig war oder nicht, weiß ich nicht und oft frag ich mich die "was wäre wenn" Frage. Vieles hätte ich mir erspart, wäre ich diesen Schritt nicht gegangen. Es gab einige Situationen, in denen ich eigentlich nur mit viel Glück nicht dabei drauf gegangen wäre. Viele spätere Sch***situationen hätte ich mir erspart, wenn ich meine Ausbildung fertig gemacht hätte. Doch das einzige was zählt war und ist: es war die erste wirklich eigene Entscheidung.
    Und ich zog sie auch durch, sagte das halbe Jahr der Planung niemanden ein Wort davon (vor allem, weil ich nicht wollte, dass sich dann irgendwer Vorwürfe macht) und war ohnehin bis zuletzt überzeugt, dass es garnicht möglich ist. Schließlich bin ich minderjährig, da mussten doch gesetzliche Schranken sein, die mich davor bewahren würden einen "Blödsinn" zu machen. War aber nicht - ich kaufte mein Ticket (und niemand fragte nach der Erlaubnis eines Erziehungsberechtigten), das billigste versteht sich - russische Airline mit 5 Zwischenstopps. Allein der Flug dauerte 2 Tage. Und zwei Tage nach den Weihnachtsferien war es dann soweit. Flughafen - Passkontrolle (wieder hielt mich niemand auf), Flugzeug, Abflug. Noch immer hielt mich niemand auf. Zwischenstopp in Moskau - tief verschneit, aus dem Buglochfenster sehe ich eine Gruppe Soldaten mit Pelzmützen und Maschinengewehren. Ich war überzeugt davon: die waren da, um mich zu holen. Ja, was denn sonst? War aber nicht ... und nach zwei Tagen saß ich dann am anderen Ende der Welt, saß auf dem Dach eines Hauses in den Slums einer fremden Stadt, blickte in die Smogwolken, die über den Dächern wabberten und dachte mir: Da sitzt Du nun! Und wie solls weitergehen? Tja, so weit hab ich natürlich nicht gedacht. Zum einen weil ich sicher war, hier überhaupt nicht ankommen zu können, zum anderen, weil mein Ziel ein so unendlich diffuses, naives war: Ich fühlte mich wie ein leeres Gefäß ohne Inhalt - jeder konnte mir seine Meinung zur Welt erklären und ich saß bloß mit offenen Mund da und nickte, und wenn der nächste mir voller Überzeugung das genaue Gegenteil erzählte, saß ich genauso da und nickte. Offenbar hatte jeder eine eigene Meinung. Bloß ich nicht. In mir wars leer. Und so war mein diffuses Ziel bloß jenes, "auszuziehen um die Antworten des Lebens zu finden". Halleluja! Heute muss ich lächeln über so viel kindliche Naivität und den Kopf schütteln über den Wahnsinn, in den ich mich da eingelassen hatte. Und doch - bin ich heute das Ergebnis dieses kindlichen Naivität. Vielleicht hat sie mich sogar gerettet, wahrscheinlich hätte ich es mir aber auch garnicht so schwer machen müssen. Eines jedenfalls hat geklappt: Ich hab meine Antworten gefunden.

    So, genug für heute ...

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