• Hallo,

    mein Name ist Leo und ich bin alkoholabhängig.

    Seit Anfang November 2014 mache ich eine ambulante Suchttherapie, die im Frühjahr nächsten Jahres ausläuft. Abgesehen davon gehe ich seit September 2014 in meine "reale" SHG. Auch wenn m.E. nichts über den Austausch von Angesicht zu Angesicht geht (weil Kommunikation eben auch Gestik, Mimik, Intonation und so viel mehr ist), finde ich dieses Forum eine sehr wertvolle Hilfe und sinnvolle Ergänzung zum "realen" Leben und Alltag. Nicht zuletzt ist das 24/7-Prinzip des Internets ja durchaus ein Vorteil. Deshalb möchte ich mich gerne auch hier austauschen, von anderen Betroffenen lernen und ihre Erfahrungen reflektieren. Und meine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen beschreiben.

    Geboren und aufgewachsen bin ich am Niederrhein, in Mönchengladbach. Lebe allerdings nun schon seit 18 Jahren in Berlin. Ich bin leidenschaftlicher Fußballfan, spiele sehr gerne Softball und laufe auch gerne, lese sehr viel, kreiere Graphic Novels per 3D-Graphik-Programmen und schau mir auch gerne Filme an. Ich arbeite seit 1998 in einem Tagungszentrum. Damals und lange Jahre in verschiedenen Bereichen (Galeriedienst, Garderobendienst, Umbau) als Studijob, später Teilzeitjob. Jetzt mache ich dort eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann (klassisch - mit Berufsschulbesuch).

    Der 14. August 2014 hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, denn er war der wichtigste Tag in meinem Leben. An diesem Tag fügten sich für mich sehr wichtige Ereignisse oder vielleicht Konstellationen zusammen, so daß ich mir und gleichzeitig einer lieben Kollegin (und meiner Ausbilderin) laut sagen, laut aussprechen konnte "ich habe ein Alkoholproblem"!

    Seit dem 14. August 2014 lebe ich nüchtern und abstinent. Wobei ich in den ersten Wochen erst einmal "nur" nicht getrunken habe. Viele Erkenntnisse setzten dann erst ein. Peu a peu. Mein zeitliches Empfinden ist irgendwie so, als wenn seit diesem Tag nicht gut ein Jahr, sondern 10 Jahre vergangen wären. So viel habe ich in mir erlebt, von mir erfahren, mich neu kennengelernt. Vielleicht erkenne ich mich erst jetzt selbst - zumindest die ersten Schritte sind gemacht. Abgeschlossen ist dies wahrscheinlich nie (wäre ja wohl auch langweilig dann;-).

    Ich möchte mich gerne hier austauschen. Allerdings habe ich nun auch das Bedürfnis, erst einmal einiges von meinem zurückliegenden Jahr zu erzählen. Ich glaube, daß täte mir ganz gut als eine Selbstreflektion. Deshalb befürchte ich, daß dieser Thread am Anfang viel (zuviel?) Monolog hat. Falls dies nicht das richtige Unterforum dafür ist oder sonst etwas dagegen spricht, schreibt Bescheid.

    Ansonsten freue ich mich, nun auch in einer virtuellen Selbsthilfegruppe zu sein und hoffe, daß ich mich hier gut einleben bzw. einbringen werde. Die Tage schreibe ich etwas zum "Vorlauf" zu dem wichtigsten Tag meines Lebens.

    Viele Grüße Leo

  • Hallo Leo,

    Ich begrüße dich ganz herzlich hier im Forum und wünsche dir einen gewinnbringenden Austausch.
    Erkenne dich selbst ist ein anspruchsvolles Motto für deine Arbeit und dafür wünsche ich dir Kraft und Mut.
    Die wirklich wichtigen Erkenntnisse über mich habe ich erst erreichen können, nachdem ich den Mut hatte, ehrlich zu mir zu sein, insbesondere im Blick auf meine/unsere Suchterkrankung.
    Da wartet eine ganze Menge neues Leben auf uns, wenn wir uns darauf einlassen. Nicht nur das erste Glas stehen lassen, sondern auch zu erkennen, warum man gesoffen hat.
    1 Jahr hast du schon ohne Alkohol verbracht.
    Ich bin gespannt, was du zu berichten hast.

    Liebe Grüße
    Hans

  • Hallo Leo,

    auch ich möchte dich hier im Forum herzlich willkommen heissen :D Ich bin sehr gespannt und auch neugierig darauf, was du zu erzählen hast und ich denke, es ist völlig in Ordnung, wenn du darüber schreibst, was in dem letzten Jahr alles passiert ist, was sich verändert hat und worüber du nachgedacht hast....Glückwunsch zu deinem 1. trockenem Jahr!

    Ich kann das mit deinem zeitlichen Empfinden total nachvollziehen, bei mir war das ähnlich und ist auch heute noch so....ich habe ca. 25 Jahre getrunken und erst jetzt, durch meine Trockenheit, habe ich die Chance bekommen (bzw. mir selbst diese Chance gegeben) mich und das Leben wirklich kennen zu lernen und wirklich bewusst zu erleben....manchmal hatte das etwas von "Reizüberflutung"....trotzdem bin ich sehr dankbar für diese Chance, sie ist einfach unbezahlbar....

    Ich wünsch dir ein gutes Ankommen hier und freu mich darauf, mehr von dir zu erfahren.

    Lieben Gruß, Lena

  • Hallo Leo,

    auch von mir ein herzliches Willkommen!

    Schön, dass Du Dich neben der realen SHG auch mit uns im Forum austauschen möchtest -ich mache das auch so. Beides finde ich sehr hilfreich für eine stabile und zufriedene Trockenheit.

    Meinen Glückwunsch zum 1. Jahrestag! Das war auch für mich ein Meilenstein, denn im ersten Jahr hat sich bei mir sehr viel entwickelt - und die Reise geht weiter, Du wirst es selbst erleben.

    Ich wünsche Dir noch viele wertvolle Erkenntnisse auf der Reise zu Dir selbst.

    Einen guten Start hier und herzliche Grüße,
    Samsara

    Das Beste geschieht JETZT!

  • Lieben Dank euch allen für das Willkommen und die Gratulation! Tja, Meilenstein stimmt schon irgendwie. Ich würde es vielleicht nicht ganz so hoch hängen. Aber es war schon etwas besonderes - den Tag selbst habe ich jetzt nicht großartig für mich gefeiert, aber schon für mich im Stillen genossen. Und ein superleckeres Eis sowie köstliche Salz- und Salmiaklakritze habe ich mir im Graefekiez auch gegönnt. :)

    Lena : Reizüberflutung - oh ja. Das trifft es ganz gut. Setzte bei mir so nach den ersten 6 bis 8 Wochen Nüchternheit ein. Dazu aber später mehr...

    Vergangenheit
    Meine ersten Kontakte mit Alkohol waren so im Alter von 8 oder 9 Jahren. Verwandtengeburtstage, im Kreise von Eltern, Onkeln, Tanten, Oma, Großtanten und -onkeln. Kaffee und Kuchen. Erwachsenengespräche, oft vom Krieg und der alten Heimat im Osten. Viel Ehrfurcht und Respekt vor diesen uralten Leuten. Nach Kaffee und vor dem Abendessen tranken sie alle Alkohol. Bier, Schnäpse und Martini für die Herren - Martini und diverse Liköre für die Frauen. Und der kleine Leo bekam dann auch schonmal einen klitzkleinen Eierlikör. Hmm, ziemlich scharf. Aber auch süß. Wohlige Wärme, lustig im Kopf. Und die Erwachsenen fanden es auch lustig. Das Limbische System hat sich gefreut.

    Mit 10 Jahren dann ein traumatisches Erlebnis mit Alkohol. Lange Zeit vergessen, kam mir diese Erinnerung erst wieder nach meinen ersten paar Wochen Nüchternheit.
    Silvester, früher Abend, Abendbrot, Dinner For One gucken. Älterer Bruder ging auf eine Party - der kleine Leo blieb bei den Eltern. Zum Abendbrot gab es ein Glas Sekt für mich. Hui - prickelnd, wohlige Wärme, im Kopf wird es wieder lustig. Eltern machten es sich im Wohnzimmer auf Sessel und Couch gemütlich, ich auch. Wir glotzten TV-Silvesterprogramm. Ich trank ein Glas Sekt nach dem anderen. Irgendwann war mir müde, ich wollte ins Badezimmer. Der kurze Flur schien plötzlich unendlich lang und mir drehte sich alles. Von der einen zur anderen Seite der Flurwand torkelnd, schaffte ich es nicht mehr bis zum Klo und kotzte bereits kurz davor auf den Teppich. Mir war speiübel und hundeelend für die nächsten zwei Tage. Der kleine Leo hatte eine Alkoholvergiftung. Das Limbische System hat es sich gemerkt.

    Danach erst einmal Sendepause bis zum Alter von 16 oder 17 Jahren. Man war nun alt genug für die Altstadt und das Altbier. Ich war nie in der coolsten Clique der Schule, hatte aber einen festen Freundeskreis. Wir gingen bis zum Abitur mindestens an drei Wochenenden im Monat (meist samstags, manchmal auch freitags) in unsere Kneipen. Wir spielten Darts mit den Briten, quatschten über Fußball, Mädchen, Musik und Konzerte - und tranken unsere Biere, um ausgelassen zu sein, entspannt zu sein. Keine Exzesse - aber oft so viel, um beim Rückweg und beim Schlafengehen gut einen im Tee zu haben. Angesäuselt, benebelt.

    Aber: bei mir gab es auch Exzesse. Zwischen 16 und 22 Jahren so ca. 7mal. Meist mit anderen Leuten aus der Stufe, den Coolen, den Harten. Whisky oder andere Spirituosen. Bei diesen Gelegenheiten habe ich mich schlichtweg zugelötet. Bis es nicht mehr ging und mich meine Freunde nachhause bringen mußten oder ich bei denen gepennt habe. Mit Filmrissen und peinlichen Situationen inklusive.

    Nach dem Zivildienst der Umzug nach Aachen und das Studium. Mein Alkoholkonsum reduzierte sich. Keine Exzesse mehr, die regelmäßigen Altstadtbesuche in der Heimatstadt wurden seltener. Ich lernte das WG-Leben kennen, ich lernte Frauen kennen, lernte neue Leute kennen, wurde selbständiger. Klar, ich ging immer noch manchmal weg. WG-Parties, Geburtstagsparties. Konzerte. Und auch Aachen hat Kneipen, zu denen ich zusammen mit FreundInnen ging. Aber es war eben seltener, als in der Zeit davor. Und so ging das viele Jahre.

    Süchtiges Trinkverhalten legte ich also schon mit 10 Jahren an den Tag. Die Altstadtbesuche in Gladbach war Gewohnheitstrinken auf (hoch-)riskantem Konsumniveau und die Exzesse mit Spirituosen in den späten Teenagerjahren Wiederholungen des kindlichen Kontrollverlusts. War ich damals bereits Alkoholiker? Mag durchaus sein. Vielleicht auch nicht. Letztlich ist es für mich schon wichtig, die Vergangenheit zu betrachten, jedoch trauere ich auch keinem Moment hinterher und mache mir Vorwürfe. Die Dinge sind so geschehen, wie sie eben geschehen sind.

    Irgendwann Anfang der Nuller Jahre hat sich mein Trinkverhalten dann geändert. Unter der Woche Bier zu trinken, wurde mehr und mehr zur Gewohnheit. Es war diese Regelmäßigkeit, diese Gewohnheit. Irgendwann wurden die alkoholfreien Tage in der Woche weniger, als die alkoholhaltigen Tage. Ein sehr schleichender Prozess. Es gibt keine besonderen Ereignisse, keine bemerkenswerten Momente, an die ich mich heute zurückerinnern kann. Automatisiertes Verhalten, Unbewußtsein. Das Limbische System normalisiert und routinisiert. Der Präfrontale Cortex kriegt nichts mit.

    Anfang 2005 habe ich mir Gedanken über meinen Alkoholkonsum gemacht. Das erste Mal in meinem Leben. Bewußt. Irgendwie dachte ich damals, ich müßte mich mal testen, ob ich so alkoholikermäßig schon in der 2. oder 1. Bundesliga spiele - oder noch in einer der unteren Amateurligen. Klingt albern und dem Thema unangemessen, aber ich habe nun einmal wirklich so gedacht! Ich trank einen Monat lang keinen Alkohol mehr. Die ersten Tage fand ich es komisch und merkwürdig, in einer Kneipe kein Bier zu trinken. Danach legte sich dieses Gefühl. Entzugssymptome hatte ich keine, auch keine Gedanken an Alkohol. Zum Ende des Monats hin freute ich mich allerdings schon auf den 1. des nächsten Monats...

    Danach habe ich weitergemacht wie bisher. Anfangs vielleicht noch etwas vorsichtiger und im Laufe der nächsten Jahre ab und an mit einem Trinksystem: auf einen Abend mit 2 oder 3 Feierabendbier folgt ein alkoholfreier Tag, folgt ein Abend mit Stadionbesuch (Amateurverein in Berlin) und 4 oder 5 Bier, folgt ein alkoholfreier Tag, folgt ein Abend mit 2 oder 3 Feierabendbier usw.

    Gott - das ist jetzt schon viel zu detailliert und lang. Sorry. Also - Sprung nach Ende 2013/Anfang 2014. Die ersten Monate der Ausbildung. Der Job erfüllt mich, die Struktur, endlich mal Vollzeit etwas machen. Die Ausbilderin (die ich schon lange Jahre in dem Betrieb kenne) ist kompetent und fleissig. Ich bin wissbegierig und perfektionistisch - und lerne, sauge auf. Auch in der Berufsschule. Voll der Streber. Ich mache mir aber auch selber Druck. Und ich mache mir selber Stress. Abgesehen davon, daß Veranstaltungsmanagement in einem Tagungszentrum ohnehin auch objektiv gesehen nicht gerade unstressig ist.

    Mein Alkoholkonsum nimmt zu. Zum Feierabend, aber auch beim Stadionbesuch und in der Fankneipe. Wochentags bis zum Betrunkensein, Wochenende oft bis zum totalen Zulöten mit Filmrissen. Arbeit und Berufsschule funktionieren noch bestens. Mit Restalkohol und verkatert immer noch Einsen in den Klassenarbeiten geschrieben. Im April 2014 mal drei Stunden zur spät zur Arbeit gekommen. Ein Kollege spricht mich (nicht zum ersten Mal!) auf meine Alkoholfahne an. Ich verharmlose und verniedliche, weiche aus, schweige aus. Meine Ausbilderin ermahnt mich sehr bestimmt. Meine Chefin nimmt es als Kavaliersdelikt. Ich mache mir: keine Gedanken.

    Ganz selten kommen doch Gedanken auf, ganz leise - fast mehr wie ein flüchtiges Gefühl. Wie ein klarer Ton, ein klarer Klang. "Du solltest nicht so viel trinken". Kaum hörbar, flüchtig, schnell vergessen.

    Der letzte Tag
    Es war ein Mittwoch in den Sommerferien. Ich ging ins Büro. Meine Ausbilderin und ich hatten nicht allzuviel Arbeit, so daß wir auch viel über Gott und die Welt quatschen konnten. Wir waren gelöster Stimmung und lachten viel. Ich freute mich schon auf den abendlichen Stadionbesuch beim Berliner Amateurverein. Nach Feierabend ging es per S- und U-Bahn dahin. Es war ein schöner. lauer Sommerabend. Fast wolkenfrei. Ich trank meine ersten zwei Biere recht zügig. Beim dritten Bier dachte ich noch zu mir selbst "Mensch Leo, Du solltest nicht zuviel trinken. Morgen hast Du um 10 Uhr einen wichtigen Kundentermin für eine große Veranstaltung!" Dieser Gedanke war flüchtig und schnell vergessen. Viele alte Bekannte und Freunde getroffen, viel gequatscht, viel getrunken, ein mittelmäßiges Spiel mit gutem Ende gesehen. Viel zu spät und viel zu betrunken der Heimweg: S-Bahn und ein Wegbier, am Ende der Fahrt schon wieder leer. Na dann noch zwei kleine Bier vom Späti als Absacker und zuhause vor den Computer, nochmal ins Forum schauen und völlig betrunken einen Kommentar zum Spiel schreiben und von den anderen lesen. Irgendwann zu dieser Zeit wieder ein Filmriss, denn ich weiß nicht mehr, wie bzw. wann ich ins Bett gegangen bin...

    Viele Grüße Leo[/u]

  • Hallo Leo,

    Vielen Dank für deinen ausführlichen Bericht.
    Ich entdecke sehr viele Parallelen zu Trinker Karriere.
    Es ist sehr hilfreich, sich gerade am Anfang dieses neuen Lebens intensiv Gedanken über die Vergangenheit zu machen.
    Da werden manche verschütteten Erinnerungen wach, die eine größere Einsicht in das eigene handeln ermöglichen.
    Dabei geht es darum aus den Fehlern zu lernen, die alten Verhaltensmuster möglichst zu durchschauen und sich für die Zukunft zu wappnen.

    Ich finde auch sehr schön deine Beschreibung, wie doch schon früher immer mal so ein merkwürdiges Gefühl durch uns schleicht: wie ein klare Ton.....
    Da stimmt etwas nicht.
    Und dann haben wir das große Glück, dass es irgendwann Klick macht und wir den Absprung schaffen. Ich betrachte das als eine große Gnade des Schicksals, dass ich meine Krankheit endlich erkennen konnte .
    ...und auch annehmen konnte.

    Ich wünschender ein schönes Wochenende.
    Gruß aus Schöneberg.....

    Hans

  • Hallo Leo,

    es ist gut, dass Du Dich so ausführlich erinnerst, denn letztlich schreibst Du ja für Dich - und wir lesen und kommentieren, wenn es was zu sagen/schreiben gibt.

    Das mit dem Meilenstein wollte ich gar nicht so groß aufhängen, ich hatte es nur in Relation mit meinem 7. Jahrestag ohne Alk vor 2 Tagen gesehen, der einfach ein ganz normaler Tag war, der mich aber natürlich glücklich und dankbar für all die Veränderungen gestimmt hat, die danach in mein Leben getreten sind. Viele Dinge, die ich mir nicht vorstellen konnte - bis heute.

    Also ein lebenslanger Weg mit vielen spannenden und unerwarteten Entwicklungen - wenn wir mit klarem Verstand einfach offen sind, uns darauf einlassen zu wollen.

    Ein zufriedenes und trockenes Wochenende wünscht
    Samsara

    Das Beste geschieht JETZT!

  • @Thalia: Dankeschön!

    Hans : oh ja - ich empfinde es auch als eine Form von Gnade. Obwohl ich nicht besonders religiös bin, haben sich die Dinge doch in einer wunderbaren Konstellation so gefügt, daß es zum diesem 14. August 2014 dann genauso gekommen ist, wie ich weiter unten dann beschreibe. Und da bin ich dann einfach gnädig und demütig und empfinde Dankbarkeit, daß alles genauso gekommen ist, wie es gekommen ist.

    Samsara : alles gut. Es war ja auch ein sehr besonderer Tag. Ist der 1. Geburtstag wohl bei jedem, denke ich. Und dann wohl vor allem in der Relation rückblickend, wie Du es anschaulich beschrieben hast.

    So - ich mache dann mal weiter in meiner Selbstreflexion des zurückliegenden Jahres...

    Der erste Tag
    Es klingelt, ich wache auf. Schrecke auf, denn es ist nicht das Klingeln des Weckers. Die Sonne steht auch schon viel zu hoch im Zimmer. Das Handy klingelt! Oh Gott! Ich haste aus dem Bett und gehe zum Mobiltelephon. Ich habe einen mordsmäßigen Kater und schreie mehrere Male laut „scheiße“ durch die Wohnung. Ich bin im totalen Schock! Total verschlafen. Schon wieder (wie im April).
    Ich gehe ans Telephon. Meine Ausbilderin Marlena (Name geändert – ich kann Sie nicht fortwährend in der Funktion beschreiben) ist dran. „Wo bleibst Du? Die Kunden sind schon im Haus!“. Ich murmele etwas von schon auf dem Weg sein und mir Leid tun und das sie bitte das Kundengespräch übernehmen solle. Nach dem Gespräch mache ich Katzenwäsche. Ich fluche laut durch die Wohnung, bin selbstmitleidig. Ich betrachte mich im Spiegel und könnte heulen, so viel Selbstscham und am-Boden-zerstört-sein blickt mir entgegen.
    Nehme ausnahmsweise ein Taxi, um schneller bei der Arbeit zu sein. Bitte den Fahrer um ein Kaugummi, um nicht allzuviel aus dem Mund zu riechen, aber im Prinzip merke ich die Ausdünstungen selbst. Im Tagungszentrum angekommen, spazierte ich schnurstracks in unser Doppelbüro und fuhr den Computer hoch. Marlena war noch mit den Kunden zugange. Vielleicht so 10 Minuten, die mir jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen. In dieser Ewigkeit dachte ich über mein Leben nach. Es konnte so nicht mehr weiter gehen. Ich hatte plötzlich einen klaren und nachhallenden Klang im restalkoholisierten Kopf, der radikale Schock über mich selbst und das was ich tue bzw. tat, spürte ich in jeder Faser meines Körpers. Gleich kommt Marlena rein und ich muß ihr erzählen, warum ich (schon wieder) zu spät zur Arbeit gekommen bin. Ich fasse einen Entschluss.
    Marlena kommt rein und ich bitte sie, die Tür zu schliessen. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch mir gegenüber. „Marlena, ich sage Dir jetzt die Wahrheit, warum ich zu spät gekommen bin. Und warum ich damals im April zu spät gekommen bin“. Dann zögere ich noch etwas, denn es fällt mir noch etwas schwer, bevor ich die Worte spreche „ich habe ein Alkoholproblem!“. Wir haben viel geredet, ich habe geweint – vor Selbstscham, aber es war auch Erleichterung dabei, und auch sie hat etwas geweint. Ich habe mir nie zuvor dies in dieser Radikalität und Klarheit eingestanden, weil ich schlicht nie auf diesen Gedanken gekommen bin. Es war so unglaublich wichtig und bedeutsam, dieses mir laut zu sagen, in einem Sprechakt zu tun – und gleichzeitig auch einer Person zu sagen, die ich gerne habe und der ich vertraue.
    Marlena hat insgesamt sehr ruhig und gelassen reagiert. Sie hat von den Problemen in ihrem eigenen Umfeld erzählt und mir geraten, doch mal zu einer Suchtberatung zu gehen. Ich fühlte auch tief in mir, daß ich nun Hilfe brauche, daß mir Hilfe gut tun würde, daß ich bereit bin sie anzunehmen. Ich recherchierte im Internet, zufällig (oder Fügung?) hatte die Suchtberatungsstelle meines Bezirks an diesem Nachmittag offene Sprechstunde. So bekam ich von Marlena früher frei und machte mich zum ersten Mal in meinem Leben auf zu einer Suchtberatung. Dort erzählte ich von dem Morgen, dem Abend zuvor, daß ich ein Alkoholproblem habe. Auf die sehr einfache und direkte Frage „und was wollen sie jetzt?“ war ich erstmal etwas perplex, antwortete dann aber mit großer Bestimmtheit „ich will jetzt keinen Alkohol mehr trinken“. In unserem Gespräch erwähnte die Suchtberaterin zwei Dinge, die mich bei diesem ersten Termin mit ihr irritierten und irgendwie störten. Sie kam von sich aus auf das Programm Kontrolliertes Trinken als eine Möglichkeit zu sprechen, gäbe allerdings gerade keine Gruppe in Berlin dafür. Ich war irritiert, denn ich war entschlossen, jetzt und sofort keinen Alkohol mehr zu trinken. Warum kommt die jetzt mit so etwas, dachte ich zu mir. Das andere war, daß sie mir davon abgeraten hat, einen Kalten Entzug zu machen. Es wäre (zumal bei den von mir angegebenen Trinkmengen und Regelmäßigkeit) besser, eine Entgiftung in einem Krankenhaus zu machen. Na toll – jetzt soll ich auch noch weitertrinken, bis ich in ein oder zwei Wochen oder so einen Krankenhausplatz dafür habe? So viel war das ja jetzt auch nicht – dachte ich zu mir. Da ich kurz vor einem einwöchigen Heimaturlaub stand, haben wir einen Nachfolgetermin in zwei Wochen ausgemacht.
    Zuhause habe ich mich erst einmal zwei Stunden hingelegt. Nach dem Abendbrot habe ich mich ca. 7 Srunden lang im Internet schlau gemacht über Alkoholabhängigkeit, über das Suchtgedächtnis, über die verschiedenen Phasen der Sucht, über Entzugserscheinungen und die Gefahren des Kalten Entzugs, habe einige Selbsttests (mit mehr oder weniger vielen Fragen) gemacht. Ich war immer noch in so einer Art Schockstadium. Ich war so aufgewühlt, aber das Wissen in mich einzusaugen tat auch gut und ordnete meine umherschweifenden Gedanken etwas. Um 3 Uhr morgens bin ich ins Bett gegangen.

    Die ersten Wochen
    Morgens vor der Arbeit hatte ich einen Termin zur Vorsorgeuntersuchung bei meinem Hausarzt (hatte ich zwei Wochen zuvor schon abgemacht, der übliche Check den die Krankenkasse ab 35 Lebensjahren alle zwei Jahre empfiehlt und übernimmt). Der Helferin, die mir Blut abnahm, Blutdruck maß usw. habe ich von meinem Alkoholproblem erzählt. Ebenso nachher beim Doc selbst, dort noch etwas ausführlicher, vor allem was Trinkmenge und Trinkverhalten der letzten Monate anbelangte. Abgesehen von einem zu hohen Blutdruck (weswegen ich bis heute ein Medikament einnehme) waren meine Werte optimal. Läge wohl daran, daß ich seit 15 Jahren regelmäßig Sport mache und jeden Tag um die 3 Liter Wasser und andere nichtalkoholische Getränke trinke.
    Bei der Arbeit habe ich Marlena von der Suchtberatung und meinem abendlichen Crashkurs erzählt. Ansonsten konnte ich mich wieder gut auf die Arbeit konzentrieren und es war ein normaler Arbeitstag. Am dritten Tag – ein Samstag – stand eigentlich das erste Heimspiel meines Heimatvereins an, was für mich immer Fanclubtreff in unserer Stammkneipe und gemeinsames Fußballschauen hieß. Ich fühlte aber tief in mir drin, daß das keine so gute Idee wäre. Zudem fühlte ich mich an sich nicht so gut, immer mal wieder regte sich eine innere Unruhe in mir. Manchmal bekam ich kalten Schweiß auf Stirn und Handflächen. Außerdem nahm ich wahr, daß meine Finger bei ausgestrecktem Arm leicht zitterten. Ich hatte Entzugserscheinungen. Ich ging nicht in meine Fankneipe, sondern machte Einkäufe, ging ins Waschsalon, las etwas. Das Fußballspiel habe ich per livestream im Netz geschaut.
    Sonntag ging es per Bahn nach Mönchengladbach, eine Woche Heimaturlaub. Bei Mutter wohnen, Bruder treffen (der auch ein paar Tage dort wohnte), FreundInnen treffen in Köln, Düsseldorf, usw. Meiner Mutter habe ich nichts erzählt – außer, daß ich keinen Alkohol mehr trinke und ich möchte, daß in meiner Anwesenheit keiner getrunken werden soll…[Fortsetzung folgt]

    Viele Grüße Leo

  • Die ersten Wochen (Fortsetzung)
    Meinem Bruder hingegen habe ich von meinem Alkoholproblem erzählt und ich hatte ein längeres Gespräch mit ihm. Er meinte, daß ich wohl das alles zu dramatisch sehe. So oder so ähnlich begegneten mir in den nächsten Wochen einige Menschen. Offensichtlich ist das Bild eines „typischen“ Alkoholikers sehr tief geprägt von dem Stereotyp „besoffener Obdachloser auf der Parkbank beim Hauptbahnhof“. Wer Feierabendbiere trinkt, als Fußballfan sich ab und zu zulötet, ansonsten funktioniert, na gut – mal die Arbeit verpennt, kann der Alkoholiker sein? „Ach ne, Leo, ich glaube Du solltest einfach ein bißchen maßhalten – dann geht das schon.“ So ähnlich waren manche Reaktionen. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selber bin – ich hatte dieses Stereotyp doch auch im Kopf!

    Nun – ganz tief innendrin wußte ich aber schon zu diesem Zeitpunkt, daß das so nicht stimmt. Ich habe es gefühlt bzw. instinktiv gespürt. Der Schock des 14. August, diese meine Inkarnation des Kontrollverlusts, steckt tief im Gedächtnis. Gelesen hatte ich ja auch schon einiges darüber. Trotzdem habe ich diese Tage im Urlaub erst einmal so weitergelebt, wie bisher – nur ohne Alkohol zu trinken. Suchtdruck oder Verlangen hatte ich in dieser Zeit noch nicht gespürt.

    Kurze Zeit nach dem einwöchigen Urlaub erzählte mir Marlena, daß sie schwanger sei. Ich habe mich aufrichtig für sie gefreut, ihr gratuliert und umarmt. Die Konsequenzen was das für meine Arbeit und meine Ausbildung bedeutete, waren mir da überhaupt noch nicht bewußt. Beim zweiten Gespräch mit der Suchtberaterin sprach diese mich darauf an, ob ich mir denn schon eine Selbsthilfegruppe gesucht hätte. Nun, hatte ich noch nicht. Sie hat mich darin noch einmal aufmunternd bestärkt, daß dies eine sehr gute Sache wäre. Ich begann, darüber nachzudenken und habe mich entschlossen, auch diese Form der Hilfe zu gehen. Nachdem ich mir einige in der Broschüre und im Internet ausgesucht habe, stand an einem Freitag irgendwann Mitte September der erste Besuch an. Kann mich noch gut daran erinnern, wie ich zu Marlena kurz vor Feierabend davon erzählte und meinte „Du, ich habe so eine Mischung aus Neugier, Lampenfieber und totalen Schiss“.

    Dieser Gefühlszustand blieb bis kurz vor meinen ersten Worten vor einer Gruppe wildfremder Menschen beiderlei Geschlechts – eher älter im Schnitt als ich. Aber es tat echt gut, zu erzählen! Und es war noch besser, die Lebensgeschichten und Erfahrungen dieser Menschen zu hören! Vor allem denen zuzuhören, die schon lange Jahre (teils Jahrzehnte) mit ihrer Sucht leben.

    In diesen Wochen mit den Besuchen von einigen Gruppen, von denen ich dann eben eine für mich auswählte, habe ich dann für mich erkannt, daß ich Alkoholiker bin. Es trugen noch andere wichtige Dinge dazu bei, aber diese (ersten) Erfahrungsaustausche waren schon richtig wertvoll für diese meine Erkenntnis. Das ist für mich auch im Nachhinein wichtig, daß es diesen Schritt gab. Zuerst sagte ich zu mir selbst „ich habe ein Alkoholproblem“ – dann „Hallo ich bin Leo, alkoholabhängig“. Das erstere ist meines Erachtens noch so eine gewisse Form von Unbestimmtheit, vielleicht sogar Verniedlichung? So im Sinne von „ach ein Problem, naja. Das kann man lösen und dann ist es vorbei“. Aber Sucht ist nie vorbei... [Fortsetzung folgt]

  • Hallo Leo,

    In meiner trinkenden Phase hatte ich folgenden Spruch drauf:

    'Ich habe kein Problem mit dem Alkohol, solange ich genug davon trinke.'

    Ein ziemlich nasser Spruch. Sollte witzig sein.
    Wir haben kein Problem, nein: wir sind krank.
    Schwerkrank, alkoholkrank, suchtkrank.

    Das ist eine erschreckend andere Dimension.
    Das gilt es zu verstehen.

    Danke für deine ausführliche Schilderung.
    Du bist damit auf einem guten Weg.

    Liebe Grüße
    Hans

  • Hallo Hans,

    oh ja - das kenne ich mit den vielen Dingen, die ich früher auch dachte oder sagte und die ich damals auch witzig fand. "Ich habe kein Problem mit Alkohol - nur ohne" ist ja auch so ein Klassiker.

    Tja - die Krankheit annehmen, das ist echt ein längerer Prozess glaube ich. Zumindest bei mir ist es noch so, daß ich von Woche zu Woche, von Monat zu Monat immer noch neue Veränderungen in meiner Psyche, in meinem Denken, in meinen Gefühlen feststellen kann. Spannend, anstrengend, wunderbar, aufregend.

    Es ist, wie es ist - eine chronische, also lebenslange Krankheit, die potentiell tödlich sein kann. Und neben den Psychosen sind ja Süchte eigentlich die Klassiker der psychischen Störungen. Eine prima Gelegenheit, sein Leben zu ändern, sich neu zu entdecken.

    Danke auch fürs Anteilnehmen und Lesen, ich muß mal demnächst auch bei Dir reinschauen. Momentan bin ich noch ziemlich am springen. Bin ja noch sehr neu hier. So viele Threads.. Liebe Grüße aus Neukölln...

    Die ersten Wochen (Fortsetzung)
    „Hallo, ich bin Leo und ich bin Alkoholiker“ – vom Verstand her konnte ich das annehmen. Aber ich bestehe nicht nur aus Verstand und Wissensdurst, der durch Crashkurs-Selbststudium in Suchtforschung und Neurobiologie usw. besteht, sondern bin auch ein Mensch mit Gefühlen und Selbstwahrnehmungen. Diese Selbstwahrnehmungen, manche sagen auch Achtsamkeit, habe ich in den ersten Wochen peu a peu gelernt (und lerne immer noch, jeden Tag). Freitags hatte ich einige Male diese Blitze des Verlangens (sehr kurze Momente, aber verführerisch), die in meinen Kopf kamen, als ich die Bier- und andere Alkoholika-Regale in meinem Supermarkt um die Ecke betrachtete. Da lernte ich schnell meinen Tunnelblick. Und die Gedanken abzulenken, auf etwas anderes zu lenken. Zwei oder drei Wochen wagte ich mich nicht mehr an meinen Grafikcomputer. Ich hatte dieses neue Hobby (3D-Art) schon zu meiner nassen Zeit für mich entdeckt. Das Feierabendbier wurde da drei oder vier Tage in der Woche durch Martini Bianco ersetzt, ich fühlte mich mit diesem Getränk irgendwie mehr wie ein Künstler. Bedingt durch den Arbeits- und Berufsschulstress (zu dem ganzen Komplex komme ich später noch ausführlicher) waren die letzten 5 oder 6 Monate vor dem 14. August 2014 geprägt von Dosissteigerung – am Ende eine ganze Ein-Liter-Flasche davon. Diese Gewohnheit machte mir dann ab dem 14. August Angst. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, mein neues Hobby zu betreiben. Nach ca. 3 Wochen wagte ich es dann wieder. Ich überlegte mir vorher ein passendes Getränk und kramte in meinen Teenagererinnerungen. Banane-Kirsch Saft. Der erste Abend noch unsicher, aber es fühlte sich gut an. Ich fühlte mich wohl dabei. Dann weitere Abende damit. Zusammen mit entspannender Musik (mittlerweile kenne ich so einige sehr gute Postrock-Gruppen;-). Neue Gewohnheiten bilden, die die alten zwar nicht löschen, aber überschreiben können. Das klappte wunderbar, entspannt, man macht etwas Schöpferisches und Kreatives und Banane-Kirsch Saft ist jetzt mein absolutes Künstlergetränk;-)
    Aber ich lernte auch auf andere Weise. 4 Wochen waren ins Land gezogen und ich wollte wieder zu einem Heimspiel meines Berliner Amateurvereins, ins Stadion, in die Kurve. FreundInnen und Bekannte wieder treffen. Es war ein Freitag, bei der Arbeit habe ich davon Marlena erzählt und wie ich mich darauf freute und „generalstabsmäßig“ verschiedene spannendere Limonaden, als die Cola und Fanta, die es im Stadion gibt, gekauft und vorgekühlt, um sie mit ins Stadion zu nehmen. Nach Feierabend ging es in die U-Bahn auf eine längere Fahrt nach Charlottenburg. Nach 3 oder 4 U-Bahnstationen kam wieder ein Gefühl. Innere Unruhe, Nervosität, Blut schoss durch meinen Körper. Gedankenspiralen, die Vorstellung, ich bin der einzige Mensch im Stadion, der nüchtern ist, umgeben von AlkoholtrinkerInnen; die Vorstellung, dann irgendwie einsam, irgendwie alleine zu sein. Ich fühlte mich immer unwohler und unruhiger. Schließlich hörte ich auf mein Bauchgefühl, stieg aus der U-Bahn und nahm stattdessen nach Hause kehrt. Ich fühlte mich einerseits schwach dabei, ich fühlte mich krank. Ich fühlte aber auch noch etwas mehr tief innen drin, daß das eigentlich eine Stärke ist. Auf sich zu hören, auf den Bauch zu hören.
    Zu diesem Stadion bin ich seitdem nicht mehr gegangen. Die Erinnerungen an die vielen betrunkenen Heimspiele und Auswärtsfahrten wiegen schwer. Dort war mein Alkoholkonsum am höchsten. Dort hatte ich mein Aha-Erlebnis, meinen letzten Tag. Manche Dinge brauchen Zeit, manchmal viel Zeit.
    Ca. Anfang oder Mitte Oktober hatte ich mich für eine SHG entschieden (eher aus dem Bauch heraus, als rational überlegend). Zu der gehe ich nachwievor regelmäßig, wir treffen uns wöchentlich. Etwas früher stand für mich auf Anraten bzw. Empfehlung meiner Suchtberaterin fest, daß ich mich in eine Ambulante Suchttherapie begebe. Dauerte etwas mit den ganzen Formularen, Anträgen, dem Bluttest beim Hausarzt, aber mein Rentenversicherungsträger hat es dann schließlich Anfang November genehmigt. [Fortsetzung folgt]

    Viele Grüße Leo

  • Kleine Dinge – grosse Wirkungen
    Manchmal sind es die kleinen, für Aussenstehende vielleicht sogar banal wirkenden Dinge, die in einem aber sehr viel auslösen können. Bei meinem Erstkontaktgespräch in der Ambulanten Suchttherapie fragte die Therapeutin u.a. nach meinem Trinkverhalten in früheren Jahren und Jahrzehnten. Resümierend meinte sie, daß ich mir ja viel vorgemacht hätte. Banal, oder? Aber hey – in dieser kurzen, prägnanten Klarheit ausgesprochen, wurde das zum ersten Mal in meinem Leben auch wirklich von mir verstanden, schonungslos und klar, eben nüchtern betrachtet – und ich war erschüttert, es hat so viel und so tief in mir gerührt. Ich fuhr total aufgelöst und immer wieder weinend mit der U-Bahn zur Berufsschule. In der Klasse ging das quasi den ganzen Tag so weiter. Aber es war auch absolut in Ordnung. Meine Gefühle kamen einfach hoch. Die echten Gefühle, nicht vom Alkohol betäubt. So erschreckend und anstrengend, aber auch so wunderbar schön und wahrhaftig!
    Später in der Aufnahmegruppe, in welcher wir dann u.a. auch die praktischen ersten Dinge lernten (Notfallkoffer, abstinentes Umfeld, trockene Umgebung/Zuhause), war ich wieder so erschüttert worden durch eine einfache Frage der Therapeutin, die aber so unglaublich viel berührt hat in meinem innersten Wesen.
    „Lieben Sie sich?“
    Ich stutzte erst, war etwas ratlos ob dieser irgendwie komischen Frage. Aber dann begann etwas in mir zu arbeiten, es begann zu dämmern, Licht in der Dunkelheit. Liebe ich mich? Ehrlich zu mir selbst mußte ich das verneinen, mußte mir selbst zugeben, daß ich im Laufe der vielen Jahre des mir unmerklichen Hineingleitens in die Alkoholabhängigkeit mich immer weniger selbst geliebt habe, mich selbst immer weniger selbst wertgeschätzt hatte. Das war erschütternd und ich habe wieder viel geweint. Gar nicht um die Vergangenheit oder gar aus Selbstmitleid, sondern es waren vielmehr Tränen der Erleichterung, der Reinigung. Irgendwie war eine große Last weg, es wirkte so befreiend, diese Erkenntnis real zu fühlen.

    Überhaupt – die Gefühle. Die Stimmungsschwankungen. Die kamen so im Herbst voll heraus. Plötzlich sich einstellende (oft durch so ein negatives Gedankenrasen, Gedankengrübeln, Spirale nach unten) Traurigkeit, abgrundtiefe Niedergeschlagenheit, Verzweiflung – depressive Verstimmung über mehrere Stunden. Aber auch das wieder sich entspannen, schöne Dinge betrachten, sie in ihrer Schönheit und Vollkommenheit so kristallklar wahrzunehmen. Sei es ein zwitschernder Vogel am Morgen oder atemberaubende Wolkenformationen, durchbrochen von den Sonnenstrahlen des Abends bei einem Dauerlauf auf dem Tempelhofer Feld oder Regen und Wind auf der Haut zu spüren, Momente puren Glücks. Wenn der Gehirnstoffwechsel sich ändert, ist man wie auf einer Achterbahn…

  • Hallo Leo,

    Gute Frage: 'lieben sie sich?"
    Ich bin mir sicher, dass mein Alkoholmissbrauch, meine Sucht, etwas zu tiefst selbstzerstörerisches beinhaltet. Also genau das Gegenteil.

    Auch wenn der Alkohol 'Genuss' früher im Gewand von Genuss und Lebensfreude daher kam.

    Was für eine Lebensfreude aber kann es sein, nach einer Weinverkostung (unter 'fachkundiger' Begleitung eines Sommelier) nicht mehr gerade gehen zu können und das Essen wiederzusehen?

    Mach weiter mit deiner eigenen Wertschätzung, das ist ein guter Weg.

    Liebe Grüße
    Hans

  • Hallo Leo,

    Wie geht es dir?
    Immer noch Achtebahn?
    Nicht lockerlassen.

    Herbstgefühle?
    Ich habe schon öfter gelesen und auch selber erfahren, dass die kommende dunkle Jahreszeit eine Belastung und Herausforderung darstellt.

    Mglw. auch der Gedanke an die kommenden Feiertage.


    Liebe Grüße
    Hans

  • Hallo Leo,

    wie geht es dir?
    Melde dich mal wieder.
    Du hattest so einen tollen Anfang hier und nun?

    Liebe Grüße
    Hans

Unserer Selbsthilfegruppe beitreten!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!