Guten Tag werte Forenteilnehmer,
um einige Sichtweisen, die sicherlich Verwunderung auslösen würden, gleich zu Beginn in eine realistische und nüchterne Richtung zu leiten, muss ich zwei Dinge vorab ausführen. Dies betrifft seltene (<1 %) Systemeigenschaften, die der Neurobiologie angehören und mir bei der Geburt ohne meinen Einfluss auf den Lebensweg mitgegeben wurden.
Der erste Punkt ist die Hochsensivität, die hauptsächlich auf akustischer und visueller Ebene in Erscheinung tritt. Kurzum nerven bestimmte Geräusche und visuelle Reize deutlich energischer, als dies bei anderen Menschen der Fall ist. Reizbarkeit ist gewöhnlich, allerdings erregen einige Reize mein Nervensystem in einem Maße, dass sich eine schwer beschreibbare Wut erhebt und dann - dem Ersticken ähnlich - unverzüglich zur Entladung gebracht werden muss. So gestaltete ich mein Umfeld - in meiner Kindheit noch unbewusst - dementsprechend reizarm, bin aber dennoch kein sozialempfindlicher Mensch und befand mich sonach stets in einer Zwickmühle aus energieraubenden Reizen und Isolation. In Sachen Reizbekämpfung leistete dann der Alkohol seine ersten Dienste und blendete die Störfaktoren großflächig aus. Mit der Hochsensivität ergab sich eine überdurchschnittlich hoch ausgeprägte Auffassungsgabe sowie eine Art Röntgenblick, der Stimmungen und Charakterzüge der Mitmenschen einfängt, automatisch konvertiert sowie ein ausgeprägtes Gedächtnis, das (zu) viele Kleinigkeiten einer Situation über Jahre abspeichert. Erlebnisse werden folglich intensiver wahrgenommen und ständig, sogar im Schlaf selbständig in alle Teile aufgespaltet. Dies ergibt scharfe Sachverhalte zu trivialen Themen, die andere Menschen nur Müde zur Kenntnis nehmen.
Der zweite Punkt ist eine diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung (Psychopathie) und auch diese ist unbehandelbar. Hieraus ergeben sich niedrige Neurotizismuswerte sowie veränderte Dopamin- und Serotoninspiegel. Kurzum empfinde ich Angst, Reue, Verantwortung und Mitleid nicht wie "normale" Menschen, sondern nur spezifisch oder situationsabhängig in schwacher Ausprägung. Dies bringt eine relative Emotionslosigkeit mit sich - hier besteht übrigens kein Widerspruch zu den obigen oberflächlichen Wutanfällen. Auch erfreue ich mich an einer Abwesenheit von allgemeinen Lebensängsten oder Depressionen. Auf der für meine Mitmenschen verheerenden Schattenseite verursacht dies eine gewisse Monotonie, der ein schwer zu bändigendes Verlangen innewohnt, in sozialen Interaktionen alles auf die Spitze zu treiben. So ist z. B. alles, was für "normale" Menschen bereits grenzwertig ist, für mich noch kaum der Rede wert und eher ein Ansporn, um übertrumpft zu werden. Dies geschieht - wie gerne angenommen - nicht aus Arroganz oder Narzissmus, sondern aus Emotionslos- und Rastlosigkeit, welche unter Alkoholeinfluss an Ausprägung gewinnen. Aufgrund dieser - für das rücksichtslose Berufsleben - geeigneten Umstände ergab sich früh finanzielle Unabhängigkeit. Dies erwähne ich der Vollständigkeit und vorrangig deshalb, da ich mich aufgrund meines Alkoholmissbrauchs in keiner finanziellen Notsituation befinde und die Pflicht zum Alkoholausstieg meinem eigenen Willen folgt, nicht aus einem Zwang oder Herbeiführung Dritter. Zudem spüre ich aber natürlich auch die Gefahr der groben Fahrlässigkeit, die sich bei den Kontrollverlusten ergibt, hierauf komme ich später.
Alkoholkarriere:
Mit acht Jahren trank ich eines Nachts heimlich einige kleine Fläschchen Sekt, die nach einer Familienfeier frei herumstanden. Die Wirkung war angenehm, allerdings maß ich diesem Ereignis kaum Bedeutung bei oder ich vergaß es schlichtweg, um meiner allgemeinen Unterforderung und Langeweile dann allerdings im Jugendalter die ersehnte Abwechslung desto extremer beizufügen. Schnell tranken wir an jedem Wochenende bis zur Besinnungslosigkeit, es ergab sich klassische Jugendkriminalität, die für einige Bierbankgenossen im Jugendknast ihre Fortsetzung und schließlich ihren Niedergang fand. Ich kam in allen Bemühungen stets mit blauen Augen davon, dennoch wusste ich mit 18 Jahren, dass es sich hierbei um Alkoholismus handeln musste, doch dies ließ mich kalt, es war nur ein Wort, dem ich in gewohnter Emotionslosigkeit einen bestimmten Sinn zuordnete.
Mitte zwanzig ergaben sich berufliche Chancen und so spielte ich unter der Woche eine Rolle, schuf finanzielle Unabhängigkeit und soff an den Wochenenden zumeist 8 - 10 halbe Bier pro Abend, die meine gern gesehenen Unterhaltungskünste zu Höchstleistungen führten. Am Montag war mir dieses Verhalten stets fremd, meist machte ich am Abend unter der Woche noch Ausgleichssport, spielte Tennis, fuhr Rennrad oder fuhr mit meinen Sportgenossen zu irgendwelchen Veranstaltungen, die nichtmal im Ansatz mit Alkohol in Verbindung gebracht werden konnten. Ein klassisches Doppel- bzw. Dreifach- oder Mehrleben war (und ist) mein Normalzustand.
Mit Ende Zwanzig trank ich eher 10 - 15 halbe Bier und stellte "nüchtern" fest, dass die Eskalationen in wirklich lebensbedrohliche und vor allen Dingen von mir nicht mehr beeinflussbare Situationen führten; Autounfälle, Massenschlägereien, Hausverbote und ähnliches waren nicht ungewöhnlich. Auch stürzte ich den Alkohol mittlerweile nur noch hinunter, gerade an einem Freitag (die Exzesse wurden weniger, dafür intensiver) war nach mehrwöchiger Pause ein kaum zu bändigender Eskalationsdruck verspürbar, die Gier wurde mit jedem Schluck in stärkerem Maße entfacht. Oft stürzten wir die ersten fünf halbe Bier in einer Stunde hinunter, um dann natürlich im Verlaufe des Abends nur noch etwas hinterherzurennen, das niemand zu defnieren wusste. Ein Ende gab es nur, wenn nichts mehr getrunken werden konnte oder man mit einem Filmriss am nächsten Morgen - teilweise bei fremden Personen oder sonstwo in der eigenen Wohnung - aufwachte. Wie erwähnt bescherte mir dies aber noch lange keinen Leidensdruck, ich sah, dass einige Bierbankgenossen ein schlechtes Gewissen oder Depressionen bekamen, dies blieb mir vergönnt.
Mit dreißig Jahren legte sich der Schalter dann langsam um, der Sonntag war oft kaum mehr genießbar, auch am Montag hingen die Alkoholstrapazen tief in den Knochen, leichtes Zittern machte sich bemerkbar und körperliche Untauglichkeit schränkte meine Sportaktivitäten ein. Warum ich niemals in einem Krankenhaus landete, begründet sich darin, dass ich tatsächlich nur in Gesellschaft trank und dies "nur" an Wochenenden. Es fand sich wohl auch meist eine Person in unseren Reihen, die noch nicht vollumfänglich einem Suizidkommando gleichend, die Übersicht behielt. Der Gedanke, alleine oder in den eigenen vier Wänden zu trinken, kam mir nie. Der Preis der erkauften Glückseligkeit erhöhte sich dennoch mit jedem Jahr. Aufgrund des Katers fing ich an, die Exzesse mit jedem Jahr zu dezimieren. An Intensität änderte sich bislang nichts, eher stieg diese an. Dies ist aber auch eine meiner mir derzeit möglichen Wege, dem Alkohol einen endgültigen Abschied zu bereiten. Die Möglichkeit, aufgrund Fahrlässigkeit im Gefängnis zu landen oder aufgrund eines Unfalls unter körperlichen Einschränkungen das Leben zu entwerten, scheint mir doch nicht zu fern und in jedem Falle für nicht erstrebenswert, als dass es ein Rausch, der im Grunde nur die Monotonie auf stumpfe Weise unterbricht, wert wäre.
Das letzte Weihnachten sowie Silvester erlebte ich seit einer gefühlten Unendlichkeit nüchtern, ansonsten gab es im Jahre 2017 zwei Exzesse. Gäbe es geeignete Sozialkontakte, die mich in der Nüchternheit keiner Langeweile aussetzten, wäre die Entscheidung keine Entscheidung, sondern längst unverrückbare Tatsache.
Mich interessieren übrigens auch Erfahrungen von ähnlichen Wochenendalkoholikern.
In diesem Sinne wünsche ich eine trockene Zeit, gerne beteilige ich mich an einer von mir ausdrücklich gewollten Diskussion, stelle mich gegenüber Fragen zur Verfügung und scheue mich nicht vor - wenn nötig - harten Worten
Hull