Hallo liebe Leute,
ab und zu hole ich mir ganz gerne meinen offenen Brief an den Alkohol ins Bewusstsein zurück. Ich muss schmunzeln darüber, aber ich freue mich auch im Nachhinein noch mal den fast naiven aber wirklich engagierten Enthusiasmus nachzuvollziehen, mit dem ich damals an das Trockenwerden herangegangen bin. Ich war seinerzeit etwa 3,5 Monate ohne Alkohol. Heute bin ich es genau 2 Jahre.
Die Grundlage für meine bisherige und lebenlang angestrebte Trockenheit war und ist mein Entschluss, die Wirkung des Alkohols nicht länger als eine Antwort oder Option in meinem Leben zuzulassen und diese Entscheidung nie mehr in Frage zu stellen. Natürlich könnte ich jederzeit theoretisch wie praktisch wieder trinken, aber dies zu tun rangiert bei mir auf einer Stufe mit VonDerBrückeSpringen. Die Idee, damit jemals nochmal einen Gewinn jedweder Art zu erzielen, habe ich kategorisch entzaubert. Würde es dennoch passieren, was für den gesamten Rest meines Lebens einfach auszuschließen vermessen wäre, wüsste ich, dass ich auf einem bisher noch nicht erreichten Niveau weitertrinken würde und innerhalb kürzester Zeit einen ungeahnten seelischen Druck auszuhalten hätte, der dem in jeder anderen Suizidsituation gleichkäme.
Hier brechen meine WasWäreWenn-Gedanken stets bewusst ab, denn mehr brauch' ich darüber nicht zu wissen. Es geht an dieser Stelle bereits um leben oder sterben. Weitaus interessanter und konstruktiver erscheint mir, meine Aktivität und Initiative auf Gedankengänge und Verhaltensweisen zu lenken, die mir ermöglichen ein Leben auf- und auszubauen, in dem ich meine Sinneswahrnehmungen so klar schätze und liebgewinne, dass ich jegliche Form von künstlichem Rauschzustand nicht nur nicht vermisse, sondern als Beschränkung empfinden würde. Das gibt mir die glasklare Motivation dafür, nichts zu unterlassen was ich für notwendig empfinde, um meine Trockenheit stabil zu halten und zu vertiefen. Was dies im einzelnen ist, finde ich immer besser heraus, was mir eine klitzekleine Souveränität im Umgang mit meinem Alkoholismus verleiht, die mich wiederum beruhigt und selbstbewusster macht.
Ich habe mir im Anbetracht dieser (auf der einen Seite natürlich sehr angenehmen) Beruhigung vorgenommen, mich immer weiter mit mir und meiner Krankheit auseinanderzusetzen, weil ich von sehr vielen Erfahrungsberichten Kenntnis bekommen habe, die dem Wissen über Alkoholismus eine recht kurze Halbwertszeit bescheinigen, wenn man es nicht pflegt. Die üblichen Pflegestationen für Erfahrungswissen über Alkoholismus sind Selbsthilfegruppen. Meine SHG ist hier unser forum-alkoholiker.de.
Meine Trockenheit ist ein echtes "Kind" dieses Forums (und mir natürlich, da es ja immer zwei Eltern braucht ). Ich begann heute vor genau 2 Jahren nachhaltig den Entschluss umzusetzen, mich vom Alkohol zu lösen. Diese Nachhaltigkeit bekam allerdings erst eine reelle Chance, als ich nach 6 Wochen junger Nüchternheit anfing im Internet nach Informationen über A wie Alkohol zu suchen und hier aufschlug. Seitdem bin ich praktisch täglich hier gewesen. Mehr oder weniger lange, in verschiedener Eigenschaft und je nach Phase wechselndem Interesse. Aber sehr kontinuierlich. Ich hatte mir geschworen, "diesmal" am Ball zu bleiben und aus dem diesmaligen Ansatz eine ernsthafte Trockenheit zu schaffen und nicht eine weitere von ungezählten Trinkpausen.
Ich bin aufgebrochen ohne zu wissen, was das überhaupt heißt: Trocken. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass ich nur nüchtern werden wollte, weil ich meinte dann wieder besser vertuschen zu können, dass ich mein Leben nicht im Griff habe. Erst jetzt im Laufe der trockenen Zeit merke ich langsam, dass es mir möglich sein könnte, es WIRKLICH im Griff zu HABEN. Das ist nach so langer Zeit des früheren Umherirrens ein enormes Gefühl des Aufbruchs und des Nachhausekommens zugleich. Obwohl ich mein Leben wirklich in einem Umfang umgekrempelt habe, den ich niemals für möglich gehalten hätte und der mir vermutlich am Anfang sogar Angst gemacht hätte, habe ich immer wieder in jeder neuen Phase das Gefühl, ich stünde noch ganz am Anfang. Ich meine das im positiven Sinne so, dass ich hinter meiner damaligen Entscheidung immer wieder und täglich neu stehe, ohne Zweifel und unabgestumpft ihrer wunderbaren Richtigkeit gegenüber.
Und ich weiß heute: egal was es ist, alles lohnt sich zu tun für ein selbstbestimmtes Leben in Unabhängigkeit vom Alkohol. Alkohol ist keine Alternative und die Antwort auf nur eine einzige Frage: "Womit möchte ich mich umbringen."
Mein Sendungsbewusstsein ist trotz toller Erfahrungen nicht sehr stark ausgeprägt und ich weiß wirklich nicht, ob es irgendwem nutzt, aber ich möchte doch hier die Gelegenheit wahrnehmen, jedem Mut zu machen, der vielleicht noch im Zweifel ist und ganz am Anfang steht.
Mir hat es geholfen - und das tut es noch -, hier aus dem großen Pool von Erfahrungen zu fischen und täglich bestätigt zu bekommen: Jeder kann es schaffen!
.Micha
Das Schönste kommt noch