Hi,
ich bin 32 Jahre alt und dachte immer, ich komme so gut klar. Weit gefehlt, schätze ich.
Ich habe nie ein Geheimnis draus gemacht, unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin, aber immer auch mir und somit anderen weiß gemacht, alles sei easy. Ist also wenig verwunderlich, dass ich in 32 Jahren nie jemandem begegnet bin, der die Vermutung äußerte, dass irgendwo was hängen geblieben sein muss. Bis jetzt. Meine Freundin konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ich der Nummer ohne innerlich Schaden zu nehmen entwachsen bin. Da sie sich für das Ding an sich und sicherlich auch für mich interessiert, hat das Nachhaken in meinen Kindheitserinnerungen nur eins hervorgebracht: Schmerz. Schmerz, von dem ich gar nicht wusste, dass er da ist. Und die unverrückbare Erkenntnis, dass eben gar nichts 'easy' mit meiner Kindheit ist.
Wir sind uns einig darüber geworden, dass ich mich mit meiner Vergangenheit auseinander setzen muss und das will ich auch. So verloren ich mich auch augenblicklich fühle, so denke ich doch, dass ich gestärkt daraus hervor gehen werde. Bewußter vor allem. Aber momentan ist meine ganze Existenz, mein Fundament so in Frage gestellt. Ich weiß nicht, woran ich mich halten soll, weiß nicht, was richtig und wichtig, was normal ist, woran ich noch glauben kann und ob die Dinge, die mich sonst immer aufrecht hielten überhaupt gut und sinnvoll sind.
Wir sind viel im Internet gesurft und auf das Muster "Erwachsene Kinder von Suchtkranken" gestossen. Ich habe mir dann das Buch "Familienkrankheit Alkoholismus", das mit Sicherheit viele hier in diesem Teil des Forums ebenfalls kennen, gekauft und mich dort wiedergefunden. Erinnerungen tauchen auf, auch Erklärungen. In gewisser Form tut es gut. Aber oftmals treffen die Beschreibungen der Familiensituation auch nicht auf mich zu, weil - wenn ich das richtig sehe - keine alleinerziehende Alkoholiker beschrieben werden. Sicher, es gibt getrennt lebende Familien. Und auch wenn es sich dann so verhalten sollte, wie in dem Buch beschrieben: auch der nicht trinkende Elternteil kümmert sich eher um den trinkenden Teil, statt um die Kinder, so stelle ich mir doch vor, dass es da immerhin noch jemanden gab.
Bei mir war es anders. Mein Vater ist verstorben, als ich 6 Jahre alt war. An einem goldenen Schuß. Meine Mutter hat sich irgendwie aus der Heroinsucht rausgekämpft, aber hat dann viele Jahre getrunken. Fast 20 Jahre. Heute ist sie trocken. Sie kann sogar mal einen Abend trinken, ohne rückfällig zu werden, obwohl sie es weiß Gott nicht einfach hat. Sie ist depressiv, voller Scham und Schuldgefühle. Hat vor wenigen Jahren eine zweite Liebe an Krebs verloren. Ist allein, ohne Perspektive.
Naja. Worauf ich hinaus will ist, dass ich in meiner gesamten Kindheit keine Anleitung hatte. Es gab nicht eine einzige erwachsene Person in meinem Alltag, die ich hätte respektieren können und die mir Anleitung gab, wie das Leben funktioniert. Heute bin ich einfach nur verloren. Wie kann ich davon ausgehen, dass ein Kind sich das Leben erklärt ohne falsche Interpretationen und Verhaltensmuster zu entwickeln? Gar nicht. Deshalb ist augenblicklich mein 'Ich' auch so in Frage gestellt.
Das oben erwähnte Buch ist laut Inhalt das erste Buch, dass sich dem Thema EKA annimmt. Aber es ist von 1990. Gibt es mittlerweile weitere, empfehlenswerte Bücher über das Thema? Eventuell welche, die in Teilen auch Familienstrukturen ansprechen, in denen es keine erwachsenen Vorbilder für die Kinder gibt? Wer ist ebenso aufgewachsen und was hat ihm/ihr geholfen?
Mein Leben heute ist voller Unzufriedenheit mit mir selbst. Ich habe kein Lebensziel und somit keinerlei Ansporn. Ich habe auf dem zweiten Bildungsweg mein Abitur nachgeholt, dann 3 Semester Wirtschaftsmathematik studiert, es aber abgebrochen, weil es extrem viel Arbeit war und ich mir nicht zutraute, das Studium in angemessener Zeit abzuschliessen. Ich wechselte dann auf eine Fachhochschule in einen Ingenieursstudiengang. Regelstudienzeit wären 6 Semester, aber ich bin jetzt im 8-ten. Habe von insgesamt 36 Klausuren noch 13 offen. Habe verpasst mich dieses Semester für Klausuren anzumelden. Total dumm. Denn ich glaube, es wäre wichtig, den Abschnitt Student zu beenden. Vielleicht muss ich gar nicht so viel Angst haben, keinen Job zu finden, weil ich zu alt bin? Vielleicht muss ich den Glauben daran stärken, dass ich nicht der einzige Student bin, der sich zu wenig ausgebildet fühlt und Angst davor hat, in der Praxis zu versagen? Und es könnte so einfach sein. Mein Notendurchschnitt liegt bei 1,57. Ich kann sehr gut lernen, auch wenn letztlich vieles wieder in Vergessenheit gerät. Warum habe ich so wenig Ansporn? Warum bleibe ich so krass hinter meinem Potential zurück, obwohl ich mir so klar darüber bin, dass es mich aufbauen würde, dass ich dann stolz auf mich sein kann? Denn wenn ich will, traue ich mir alles zu, habe einiges auf dem (IQ-)Kasten. Warum will ich nicht? Warum erhalte ich diese mich unglücklich machende Situation aufrecht?
Mit der Arbeit verhält es sich ähnlich. Ich habe einen Job mit wirklich guter Perspektive und ich geniesse extrem viel Freiheit. Aber ich mache mir das selbst kaputt. Arbeite viel weniger, als gut und angemessen wäre. Sorge nicht dafür, dass der Job Fahrt aufnimmt, ich nach dem Studium da bleiben kann, sondern steuere irgendwie das genaue Gegenteil an. Warte geradezu auf meine Kündigung. Halte sie schon seit Monaten für überfällig. Dabei wäre auch das so einfach und könnte so viel Spaß machen. Und ist so erfolgversprechend. Umsatzbeteiligung inbegriffen.
Und dann meine Beziehung. Meine Güte. Diese Frau ist so wundervoll. Noch nie in meinem Leben habe ich definieren können, was Liebe ist und durch sie spüre ich tagtäglich, was es ist. Vorher wußte ich das Gefühl nicht so richtig zu interpretieren. Da gibt es die eine, die habe ich geliebt. Dann kommt eine andere und die liebe ich mehr? Wo ist das Ende? War das mit der ersten dann überhaupt Liebe? ... Jetzt weiß ich es. Tagtäglich spüre ich, dass ich diesen Menschen liebe und sie erwiedert diese Liebe. Noch nie habe ich so einen tollen Menschen kennen gelernt. Sie setzt den Maßstab so hoch, dass ich - sollte diese Beziehung in die Brüche gehen - vermutlich nie wieder an einen Menschen gerate, der diesem Maßstab gerecht würde. Und ausgerechnet jetzt muss ich in so eine Phase eintreten, in der ich Beginne an ihrer Liebe zu zweifeln? In der ich so wenig Selbstwertgefühl habe, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, liebenswürdig zu sein? Bin so destruktiv, dass ich gestern hergehe, mir mit ihr zusammen einen hinter die Binde gieße und 'nur', weil ich ehrlich sein will, weil ich lernen will zu mir zu stehen, ausdrücke, dass ich zweifle? Dass ich vielleicht Glück, Vertrauen und Liebe untrennbar mit Enttäuschung verbinde? Mein Gott... welcher Idiot ausser mir geht schon zu seiner Traumfrau und sagt ihr: Hey, ich zweifle an der Liebe generell und somit auch an Deiner Aufrichtigkeit?!?
Diese Liebe muss ich erhalten. Ich muss diese Beziehung erhalten. Ich wünsche mir eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Unsere Kommunikation ist sehr gut, sie lässt mich nicht im Unklaren darüber, wie sie zu mir und zur derzeitigen Situation steht. Diese Nüchternheit erschreckt manchmal, gibt aber auch Halt und Orientierung. Aber ich darf mir das nicht zerstören. Ich muss ein Lebensziel entwickeln, für mich, nicht für uns, denn ich darf mein Glück nicht von ihr abhängig machen. Ich muss mein Studium beenden. Die Angst davor verlieren, was danach kommt. Ich muss mich selbst lieben lernen, Stolz auf mich sein, um auch daran glauben zu können, dass meine Freundin mich liebt.
Auch hier wäre ich für Buchempfehlungen, etc dankbar. Beziehung, was ist das? Wie belaste ich uns nicht zu sehr mit der momentanen Situation, die sich ja mit Sicherheit noch eine Weile hinstrecken wird? Wie lerne ich, mich zu lieben und somit ihre Liebe zu akzeptieren? Wie entdecke ich Fehlverhalten, das diese Liebe nur überfordernd und erdrückend machen würde?
Ich beginne Anfang März eine Therapie. Allerdings wird diese sich nicht hauptsächlich dem Thema EKA widmen, sondern wohl eher eine Form Coaching werden. Ein Lebensziel zu entwickeln, mich selbst zu definieren. Blinde Flecken für mich aufdecken. Wer bin ich heute und wer will ich vielleicht morgen lieber sein? Was will ich darstellen? Herausfinden, was mir Freude bereitet, was mich glücklich macht. Nachreifen.
Mit dem Thema EKA werde ich mich vorranging privat auseinandersetzen. Vielleicht mit meiner Schwester die Kindheit zum ersten Mal thematisieren, mit Büchern, mit Freunden, hier im Forum. Ich habe mir auch fest vorgenommen Al-Anon aufzusuchen. Die Sitzungen sind keine 3 Minuten Fussweg von meiner Wohnung entfernt.
Danke für's 'zuhören'
Ich möchte mich nicht mit meinem Forumnamen verabschieden. Das finde ich seltsam vor Menschen, denen ich meine Gefühle eröffne. Aber ich möchte meinen Namen auch nicht nennen, da er recht selten ist und ich nicht möchte, dass ein potentieller Arbeitgeber darauf stösst, da es ja heute gang und gebe ist, Bewerber zu googeln. Ich bitte um Euer Verständnis dafür.
Wie gesagt: Danke schön