Als Alkoholiker geboren …
Ich habe hier im Forum schon viel über „Ursachen der Sucht“, „individueller Weg“, „Grundbausteine“, etc. gelesen.
Hier meine Erfahrungen und Gedanken dazu:
Vor über 21 Jahren habe ich nach einem schlimmen Entzugsdelir aufgehört Alkohol zu trinken. Alkohol getrunken habe ich von meinem 15. bis 31. Lebensjahr. Das etwas mit meinem Alkoholkonsum nicht stimmt, dass habe ich etwa seit meinem 21. Lebensjahr gespürt.
Nachdem ich angefangen hatte über meinen Alkoholkonsum nachzudenken habe ich dann also noch 10 Jahre gebraucht um aufhören zu können.
In diesen 10 Jahren war ich in Beratungsstellen und hin und wieder auch in Selbsthilfegruppen (besonders zum Ende hin). Außerdem habe ich vieles über Alkoholismus gelesen.
Trotz allen Wissens und aller Hilfsangebote hat sich mein Alkoholkonsum stetig gesteigert. Bis zur völligen körperlichen und psychischen Abhängigkeit.
Selbst wenn mir jemand drei Wochen vor meinem Tiefpunkt gesagt hätte, dass es so kommen wird, dann hätte ich es nicht geglaubt …
Ich habe offensichtlich diese Erfahrungen des Entzugsdelirs gebraucht um meinen Hochmut wahrzunehmen.
Während des Delirs hatte ich buchstäblich für einige Tage meinen Verstand verloren. Ich dachte ich wäre jetzt verrückt geworden und dass das jetzt so bleiben würde. Ich befand mich mitten in einem Horrorfilm (die Details lasse ich hier mal weg) ohne das ich den Aus-Knopf drücken konnte.
Nach diesem Erlebnis habe ich mir gesagt: Jetzt ist Schluss. Ich weiß, dass ich Alkohol nicht kontrolliert trinken kann. Ich bin Alkoholiker.
Ich stelle mich jetzt dem Leben und alles was damit zusammen hängt ohne Alkohol. Und zwar Tag für Tag. Ich habe noch nie gesagt, dass ich nie wieder Alkohol trinken werde (auch nicht nach schlimmsten Exzessen). Nach all meinen Erfahrungen und nach allem was ich über Alkoholismus weiß, wäre das aus meiner Sicht anmaßend und hochmütig. Ich kann mit meiner Krankheit nur Tag für Tag umgehen.
Wie mache ich das? Woran orientiere ich mich?
Zu Beginn meiner Trockenzeit habe ich eine LZT (1989, 6 Monate) gemacht (komme ich noch drauf zurück) und danach verschiedene Selbsthilfegruppen (AA, Guttempler) besucht. Am Besten gefallen haben mir dabei die AA´s. Ich finde das 12-Schritte Programm sehr schlüssig. Leider habe ich keine Gruppe gefunden, bei der ich mich wohl gefühlt habe. Das hatte aber mehr mit der Zusammensetzung der Gruppe als mit dem Programm zu tun. Ich habe nach 5 Jahren suchen nach der geeigneten Gruppe dann keine mehr besucht. Da mir aber der Austausch fehlt und diese ständige einsame Auseinandersetzung mit meiner Krankheit sehr viel Kraft kostet, werde ich mich jetzt auf den Weg machen und mir eine neue Gruppe suchen.
Der Austausch hier im Forum ist also wieder ein Einstieg in das Gespräch mit anderen Betroffenen. Ich habe in den letzten Monaten meines Hierseins schon eine Menge von Anregungen und Erfahrungen zu lesen bekommen, die mir den Mut geben, wieder mehr in den Kontakt zu gehen.
In den ersten Jahren meiner SHG-Zeit hat jemand mal in einem Meeting gesagt, dass er als Alkoholiker geboren wurde.
Ich habe das am Anfang nicht ganz verstanden. Heute verstehe ich es so:
Es geht nicht um eine irgendwie genetische Vererbung von Alkoholismus. Es geht um die Akzeptanz der Krankheit.
Es gibt viele Menschen, die unter schlechteren und schlimmeren Bedingungen aufgewachsen sind als ich. Sie können Alkohol kontrolliert trinken.
Möglicherweise haben sie andere Krankheiten entwickelt, aber Alkohol können sie kontrolliert trinken. Ich kann das nicht.
Für mich gibt es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Alkoholismus.
In vielen LZT´s wird dieser Behandlungsansatz trotzdem gewählt. Ich halte ihn für kontraproduktiv.
Warum?
Weil den Patienten/ Klienten suggeriert wird, dass wenn sie nicht alle ihre Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster „bearbeitet“ hätten, dann „müssten“ sie wieder trinken.
Bei vielen Patienten/ Klienten verwandeln sich dann die Ursachen in Gründe …
Ich habe das in meiner LZT so erlebt und auch in anderen Kliniken und Beratungsstellen in denen ich zu Beginn der 90er Jahre ca. 5 Jahre gearbeitet habe.
Für mich ist es konstruktiver zu akzeptieren, dass ich Alkohol nicht kontrolliert trinken kann, unabhängig von meiner Lebensgeschichte oder meiner aktuellen Lebenssituation.
Ich bin als Alkoholiker geboren.
Dazu gehört auch, das ich Alkohol in jeder Form (Speisen, Getränke, sogenannte alkoholfreie Biere, etc., Deos, etc.) meide.
Für mich ist die Einnahme von Alkohol lebensgefährlich!!
Zufriedene Trockenheit
Dieser Begriff wurde hier ja auch schon häufiger diskutiert.
Hier finde ich eine lebensgeschichtliche Auseinandersetzung schon sinnvoll, aber ohne das zu sehr mit dem Begriff „Trockenheit“ in Verbindung zu bringen. Es geht für mich um zufriedenes Leben, unabhängig von meiner Unfähigkeit Alkohol kontrolliert trinken zu können.
Wie ein zufriedenes Leben aussieht, wie es sich anfühlt, dass ist nun individuell wirklich sehr verschieden.
Ich lese bei den Co´s häufig folgende Vorstellung heraus: Partnerschaft, Kinder, Job, Haus, Auto …
Ich kann das gut nachvollziehen. Diese Werte wurden ja von Generation zu Generation weitergegeben und stehen heute gesamtgesellschaftlich immer noch für ein gelungenes Leben.
Ich habe diese Dinge nie bewusst angestrebt, weil ich früh miterlebt habe, welcher Preis häufig dafür bezahlt wird: Unehrlichkeit, Angst, Kontrolle, Manipulation, etc. Also alles Dinge, die etwas mit Sucht zu tun haben. Man findet sie in allen Lebensbereichen, nicht nur bei Alkoholikern.
Seit ich trocken bin bemühe ich mich jeden Tag darum „unsüchtig“ zu leben. Der Gegenbegriff lautet glaube ich „nüchtern“.
Suchtgedächtnis
Auch dieser Begriff wird immer wieder angesprochen.
Ja, das habe ich auch. Ein Suchtgedächtnis.
Jahrelanger exzessiver Alkoholmissbrauch (und wohl auch weniger) prägt sich offensichtlich tief ins Gedächtnis ein.
Ich mache aber einen Unterschied zwischen lebensgeschichtlich bedingten Gefühlen und alkoholbedingten Bewältigungsversuchen.
Meine Gefühle, die aus nicht erfüllten und erfüllten Bedürfnissen aus meiner Lebensgeschichte bzw. meiner aktuellen Lebenssituation herrühren, sind das Eine.
Meine alkoholbedingten Bewältigungen und die daraus resultierenden Erinnerungen und Prägungen sind das Andere.
Wenn ich akzeptiert und verinnerlicht habe, dass ich Alkohol nicht kontrolliert trinken kann, dann habe ich alle Möglichkeiten mit Gefühlen und Bedürfnissen anders umzugehen.
Das fällt mir nicht immer leicht und ich habe da auch heute noch kein Patentrezept. Und schon gar keine „schnelle“ Lösung. Da darf jeder sein eigenes Bewältigungskonzept entwickeln …
Eins scheidet von vornherein aus: Alkohol trinken.
Ich habe das 15 Jahre lang als Bewältigungsmuster ausgetestet. Jeder weitere Versuch könnte tödlich sein ...
Zu Beginn habe ich geschrieben: Ich stelle mich jetzt dem Leben.
Mittlerweile habe ich erkannt, dass das nicht reicht. Mich „nur“ zu stellen. Wenn ich zufriedener werden möchte, dann muss ich mich auch bewegen. Martha würde sagen: Ich darf mich auch bewegen
Und noch etwas:
Nach allem, was ich in den letzten Jahren erlebt, gehört und gelesen habe, sind viele seelischen Erkrankungen darin begründet, dass wir uns selbst nicht ausreichend gern haben.
Machen wir uns doch auf den Weg uns etwas mehr zu mögen. Mit all unseren Neurosen, Makeln und Defiziten. Und mit all unseren Schätzen, die darin verborgen sind …
Ich will neurotisch, mit Makeln behaftet und defizitär sein dürfen, ohne das sofort jemand schreit: Vorsicht Rückfall!!
Lasst mich doch so wie ich bin. Ich bin ein liebenswerter Mensch. Ich bin trockener Alkoholiker.
Liebe Grüße
Manfred