Gefühle, Gedanken - Brainstorming

  • Ich wollte einfach mal eine Sammlung von Gefühlen, Gedanken auflisten, die mir einfallen, wenn ich an meine Kindheit denke. Vielleicht habt Ihr ja Lust, da Einiges zu ergenzen.

    Angst; Peinlich; Unsicherheit; Verlustangst; Angst Papa und Mama zu verlieren; Gefühl, unwichtig zu sein; keiner kümmert sich um Einen, man "läuft" nur nebenher mit ...; Scham; Stress; man fühlt sich "verloren"; Angst vor Krankheiten; Gefühl, abgeschoben zu werden, alleine gelassen zu werden; keine Sicherheit fühlen; manchmal hatte ich das Gefühl, ich müsste die Familie "zusammen halten".

  • Angst, Angst, Angst. Bin schmutzig. Auf keinen Fall Freundinnen mit heimbringen, das wäre peinlich und die müßte ich ja auch noch schützen. Bin im falschen Film. Zweifel. Dauermagenschmerzen. Dauerverspannungen im Nacken. Flucht in Bücher, in Schulaufgaben. Völlige Isolation. Niemand freut sich mit mir. Keine Ansprechpartner haben. Völliges Desinteresse der Eltern an MIR, also mir als Mensch den man wertschätzt, das hat mich zerbrochen, weil es schon als Säugling angefangen hat und nie anders geworden ist.

    Mich verstecken, im Zimmer einschließen, stundenlang im Garten oder Wald verschwinden. Maximale Geräuschempfindlichkeit, wer tut gerade was, bin ich in Gefahr, wie ist die Stimmung. Dauerstreß. Überforderung. Hoffentlich sieht mich keiner, ich brauche eine Tarnkappe. Angst angefaßt zu werden, Ekel vorm Angefaßtwerden. Sehnsucht nach echter Berührung.

    Ganz früh schon Sachbücher und Fachartikel verschlungen. Verzweifelte Versuche zu verstehen. Keine fröhlichen, lebendigen Freundinnen gehabt, sondern ausschließlich welche, mit denen man Psychogespräche führen konnte. War Einserschülerin, aber ich hab mit 18 schon lange innerlich schon aufgegeben gehabt und nie "etwas draus gemacht".

    Ganze Kindheit müde gewesen, Dauererschöpfung. Resignation. Gefühl verkrüppelt zu sein. Auf allen Photos habe ich tote Augen und lächle eigentlich nie. Fühllos geworden, abgestumpft, damit ich irgendwie überlebe und gleichzeitig dauerhellwach bis zur völligen Erschöpfung.

    Habe nie gespielt, nie getanzt, nie gesungen, so gut wie nie gelacht. Verstehe keinen Spaß. Bin so gut wie immer sehr ernstes Kind/Jugendliche gewesen. Alles von anderen auf mich bezogen, mich nicht gesund abgrenzen können. Entweder totale Verschmelzung, innerliches Aussteigen oder maximale Abwehr. Von klein auf mich um Tiere gekümmert, ihnen Biotope hergerichtet, damit sie es gut haben.


    Hallo Just,

    kommt ganz schön was zusammen an Erinnerungen.

    LG, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

    6 Mal editiert, zuletzt von Linde66 (12. November 2013 um 00:27)

  • Eine Beobachtung dazu, die ich zZ mache. Wenn mein Sohn bei mir ist, dann habe ich Probleme, mich mit ihm immer zu beschäftigen. Manchmal sitze ich dann am Rechner, lerne für die Uni oder beschäftige mich anderweitig und er schaut zB Kinderfernsehen ...er ruft mich dann immer, ich solle mich zu ihm setzen aber das kann ich auch nicht so gut ...ich kann mich dann schlecht auf die Situation einlassen ...ich merke dann an mir, wie mir das Leid tut ...wie traurig ich deswegen bin, dass ich ihn da "alleine" lasse ....ich habe so das Gefühl, ich spüre da seine "Trauer" ...ich möchte da unbedingt dran arbeiten aber es fällt mir nicht leicht. Ich liebe meinen Sohn und ich spüre das Gefühl der Liebe auch ganz deutlich bei ihm aber einige Sachen kann ich ihm einfach zZ noch nicht geben und ich bin dann traurig, dass er traurig ist.

    LG

  • Hallo Just,

    das kenn ich von meinem Kind - ham wir nicht gelernt, wie so jemand mit uns spielt - ich hab dann Spielzeug gekauft, das mir Spass macht und das spielen wir gemeinsam!

    Vampy

  • Ich überlege die ganze Zeit, warum wir das als "normal" empfunden haben und ich zB am Anfang meiner Therapie gesagt habe, meine Kindheit wäre super gewesen ...ich glaube, ich habe das, was ich erlebt habe, dieses "keine Familie sein", keine Sicherheit in der Familie erfahren, nicht wirklich wichtig zu sein als normal empfunden.
    Das Normalität für ein Kind anders aussieht muss ich mir nun hart erarbeiten ...gerade denke ich daran, welche Gefühle mir alle verloren gegangen sind ...weil wir halt keine "normale" Familie waren ...

  • Hallo Just,

    wir sind ja da reingewachsen und als Kind lernt man erst über die Jahre die Leben der anderen Kinder mit dem eigenen Leben zu abzugleichen. Die fürchterlichsten Situationen können erst einmal zur "Normalität" werden.

    Ich weiß noch gut, wie ich immer bei meiner Schulfreundin war. Sie stammt aus einem gebildeten Elternhaus. Bei Tisch wurde über alles mögliche miteinander geredet und gelacht, niemand schmatzte, das Essen war nicht versalzen. Ich sog die Atmosphäre auf wie ein trockener Schwamm. Bei mir daheim war es sooo anders. Bei Tisch wurde sich angeschwiegen. Das Essen war super oder völlig verwürzt, je nach Pegelstand der Mutter. Ich hatte pausenlos Magenschmerzen vor Anspannung. Ich hielt mir unter den langen Haaren mit dem Finger das dem Vater zugewandte Ohr zu, damit ich ihn nicht so furchtbar schmatzen hörte. Usw. usw. usw.

    Ich merkte ja ganz früh schon den Alkoholismus. Aber dadurch daß die Mutter "heimlich" trinkt und alles dafür getan wird, um den schönen Schein aufrecht zu erhalten, ist das ja nicht verwunderlich, daß man als Kind dieses kranke Familienleben erst mal als normal annimmt. Früh merkte ich, daß etwas nicht stimmt, daß gelogen wird, daß vertuscht wird, daß die Familienangehörigen "nicht echt" waren. Das verunsicherte mich, machte mir eine tiefe Angst und Zweifel, vor allem auch Zweifel an mir selber. Kann ich meiner eigenen Wahrnehmung trauen, wenn der Hausarzt meiner Mutter, den ich als ca. 15jährige mal angesprochen habe, mir sagt, daß ich eine Lügnerin bin und meine Mutter nicht verleumden solle? Urvertrauen und Liebe habe ich nicht vermittelt bekommen. Auch von den Großeltern nicht. Das eine Großelternpaar war tot (auch Alkoholiker), das andere Großelternpaar war er Alkoholiker und Schläger und sie Co.

    Wo auch immer ich hinkam, begann das Abgleichen. Mit der Zeit merkte ich, daß auch in der Familie meiner damaligen Freundin nicht alles perfekt ist. Auch in anderen Familien schaute ich mir an, wie man sich anders verhalten kann. So habe ich viel gelernt. Ich hatte sowas wie externe Mütter und externe Väter, also Erwachsene außerhalb der Kernfamilie, von denen ich mir Sozialverhalten abschaute.

    Lieber Gruß, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

    3 Mal editiert, zuletzt von Linde66 (12. November 2013 um 00:55)

  • ... und da sitze ich nun im Hier und Jetzt und gleiche meine Familie mit euren Berichten ab. Heimlichkeiten, Vertuschen, so normal wie möglich tun. Maske aufsetzen und glückliche Familie vortäuschen. Das alles gibt es bei uns. Trotzdem gibt es aber die Momente echter Berührung und Kuscheln sowohl mit mir als auch mit meiner alkoholkranken Frau.

    Im Geheimen lässt sich da schon lange nichts mehr halten. "Mama runken" hat mein Sohn im Kindergarten erzählt, als er mit 2 Jahren als einer der jüngsten dort hin kam. Oberpeinlich... Den Schein einer funktionierenden Familie geben wir uns immer noch, die Fassade bröckelt. Der Mittlere hatte kürzlich seinen Freund zum Übernachten eingeladen. Mama war voll. Papa versuchte, seinem Sohn die peinlichsten Szenen zu ersparen. Das funktionierte aber bei einer agressiven Alkoholikerin nicht.

    Ich muss jetzt raus mit der Sprache. Wie sag ich's dem Kinde? Der 11 jährige kam kürzlich und sagte, dass er eine Teilschuld an Mamas Saufen habe, weil er sein Zimmer nicht aufräumt... Ich wollte in den letzten Jahren den Kindern eine Scheidung, Auszug etc. ersparen. Wollte sie in einer "heilen" Familie mit Mama, Papa, Strandurlaub aufwachsen lassen. Scheidungskinder haben ja auch oft nen Knacks. Und jetzt so ein Spruch. Ich habe versucht, ihm die Gewissensbisse auszureden. Aber was kommt den wirklich an. Ich werden einen Termin bei der Suchtberatung wahrnehmen. Vielmehr interessiert mich aber von euch erwachsenen Kindern von Alkoholikern: Wie ehrlich kann ich mit einem 6 und 11 jährigen sein? Was wäre aus eurer Sicht damals besser gewesen: Scheidung, Trennung von einem Elternteil, Wohnortwechsel, aus der gewohnten Umgebung reißen oder weiter heile Welt spielen?

    VG
    Karl

  • Hallo Karl,

    mein Rat, sei so ehrlich wie möglich. Schon der Zweijährige hat damals die Wahrheit ausgesprochen. Rede mit ihnen, sag ihnen, ihre Mama ist alkoholkrank, die Krankheit liegt in ihr selber begründet und macht Verhaltensveränderungen. Und sag ihnen, daß selbst wenn ihre Mutter oder andere Verwandte sowas behaupten, sie nie und nimmer einen Anteil an ihrem Trinken haben. Sag ihnen, daß sie recht haben mit ihren Gefühlen, daß alle ihre Gefühle in Ordnung sind, egal ob Wut, Trauer, Angst, Ohnmacht. Sag ihnen, daß sie dich jederzeit alles fragen und dir alles sagen dürfen. Sag ihnen, daß es für dich selber auch eine schwierige Situation ist, aber du dir externe Hilfe mit ins Boot nimmst. Heul dich auf gar keinem Fall bei ihnen (dem/r Ältesten) aus. Damit würdest du ihn/sie zum Co heranziehen. Ich würde auf jeden Fall die Klassenlehrer informieren und mit ins Boot nehmen.

    Eines der schlimmsten Erlebnisse für mich als Kind war, daß mein Vater mir mit ca. 12 J. gesagt hat, mit todernster Miene: Du bist Schuld daß die Mutter trinkt, wenn du nicht immer so schlau daherschwätzen würdest, dann müsste sie nicht trinken. :shock: Das Gespräch fand im Auto statt, auf einem Feldweg. Ich wollte flüchten, aber wohin... :cry:

    Ich war 12. Ich wußte in der hintersten Ecke meines Hirns, daß das Blödsinn ist. Aber da ich schon 11 Jahre lang darauf konditioniert worden bin, an meiner gesunden Wahrnehmung zu zweifeln, hat sich seine Aussage in mich reingefressen wie Säure. Ich bin hochbegabt. Ich hatte immer nur Einser und Zweier. Und heute bin ich Frührentnerin wegen PTBS und hatte zum Schluß nur Hilfsarbeiterjobs. Ich habe damals, nach diesem Gespräch, aufgehört "schlau daherzuschwätzen" = eine gute Schulausbildung, später Berufsausbildung u. Karriere anzustreben. Ich habe Schulklassen wiederholt, mit Absicht 4er, 5er, 6er geschrieben, obwohl ich alles kapiert habe, habe nix aus meinem Abi gemacht, habe nicht studiert und nur schlechtbezahlte Jobs angenommen. Diese Bürde, die mir mein Vater damals aufgepackt hat, zu allem, was er sonst noch an mir verbrochen hat, hat mich damals gebrochen. Ich habe nie wieder an mich glauben können, keinen Sinn darin gesehen, um etwas oder um mich zu kämpfen. Es gab ja noch andere Vorfälle, alles in allem war ich mit 12 schon lange resigniert, depressiv und dissoziiert.

    Wenn ein Kind, so war das damals bei mir auch, die Schuld des Trinkens bei sich selber annimmt, dann ist das der ungelenke Versuch, aus dem Ohnmachtsgefühl rauszukommen. Man kann leichter damit leben, wenn man selber schuld ist, wie wenn man ohnmächtig ist. Das ist so eine verquere Hilfskonstruktion des traumatisierten Menschen, um ein Stück weit die Kontrolle wiederzuerlangen. In dem Sinne: Nicht die Mama ist schuld, sondern ich bin schuld, weil ich dies oder jenes falsch mache. Also muß ich nur alles alles alles perfekt und richtig machen, dann muß die Mama nicht mehr trinken... Und dann tun und machen sie, richten ihr kleines Leben nach dem Alkoholiker aus, vergessen daß sie Kinder sind und irgendwann ist die Kindheit unwiederbringlich um und sie sind prima Co's geworden. Man hat auf einmal die Illusion von Handlungsfähigkeit. Das erscheint allemal "besser" als das furchtbare Ohnmachtsgefühl gegenüber der Sucht des trinkenden Elternteils.

    Als Erwachsene docken sie beim nächsten Patienten an, den sie zu "retten" versuchen, einem suchtkranken Partner/in. Es ist zwar nicht gelungen, die Mama trockenzulegen, aber wenn ich mich noch noch noch mehr anstrenge, dann bekomme ich meinen Partner/in trocken...

    Funktioniert nicht.

    Ich wollte, auch nur einer in meiner Herkunftsfamilie hätte damals die Wahrheit gesagt und sich um mich gekümmert.

    Lieber Gruß, Linde


    P.S. Habe in meinem ersten Beitrag oben noch paar Sätze ergänzt.

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

    8 Mal editiert, zuletzt von Linde66 (12. November 2013 um 09:21)

  • Puh...
    Linde, da läuft mir eine Gänshaut den Rücken runter.

    Einerseits habe ich in den letzten Tagen Gespräche gesucht, in denen ich klar zum Ausdruck gebracht habe, dass Sie allein für Ihren Zustand verantwortlich ist. Auf der anderen Seite ist meine Frau diejenige, die immer wieder klar macht, wie anstrengend ihre Familie ist, und dass sie uns nicht ertragen kann. Da liegt die Schlussfolgerung: "Die säuft, weil wir so anstrengend sind." sehr nah.

    Und ich muss gestehen, ich habe vor zwei Wochen einen ähnlichen Ausspruch gebracht, wie du ihn mit 12 gehört hast: "Könnt ihr endlich mal mit dem Zanken aufhören, es ist ja kein Wunder, dass Mama schon wieder trinkt."

    Je länger ich lese, je länger ich schreibe, desto klarer wird mir, dass Bleiben nur Schaden anrichten kann.

    VG
    Karl

  • Hallo!

    Linde, ich habs auch gehasst wie man bei mir daheim gegessen hat. Andere Parallelen hab ich auch gefunden.

    Gefühlt hab ich mich kurzgefasst so, dass ich bei meiner Geburt das Leben meiner Eltern endgültig ruiniert habe.
    Ich hab alles kaputt gemacht und musste meine Existenz immer rechtfertigen.
    Wie konnte meine Mutter nur mit so einem trinkenden Versager noch ein Kind bekommen? Jetzt hat sie es, jetzt kann sie nicht mehr gehen.
    Jetzt muss sie bleiben, denn so ein Kind braucht ja so viel Geld. Usw, usf...

    Just, du kannst doch deinem Kleinen auch ne "Uniaufgabe " machen.
    Druck ihm was aus, lass ihn was malen o.ä. und schau das nachher an.
    Schon habt ihr was gemeinsam.

    Und Karl, könnte sein, dass deine Kinder wenn sie groß sind nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, wenn sie dann durchschaut haben, dass du sie mit dem Zimmer aufräumen und dem Trinken belogen hast und dass du sie vielleicht noch öfter belogen hast oder sie benutzt hast um nichts ändern zu müssen.
    Mein Bruder redet kein Wort mit meiner Mutter und ich nur Sachen, die heute passiert sind und das auch nicht immer.

  • schnuffig
    So wie Du wurde mir das auch von meiner Mutter mitgeteilt: wenn das Kind mal groß geworden ist, dann verlasse ich Dich ...so waren immer ihre Aussagen zu meinem Vater. Ich habe das alles mitbekommen ....meine größte Angst war nach nem Streit zwischen meinen Eltern immer, ob denn wieder alles "in Ordnung sei" ...

  • Just, in Ordnung, hat das bei dir auch bedeutet, dass beide noch leben? Also ich habs oft für möglich gehalten,dass die sich umbringen.
    Vorwiegend um die Weihnachtszeit, wenn man überall Kinder mit roten Backen und materiellen Wunschzetteln sah und ich aufgeweckt wurde durch Streit, mir ne Bratpfanne schnappte um damit zuzuschlagen, doch dann plötzlich nicht mehr wusste, wen ich damit schlagen sollte. Ihn oder sie. Also hab ich's gelassen. Bin gegangen um dann sowas aus der Küche zu hören wie: Du ich glaub das Kind bekommt schon was mit.
    Ach ne, glaub ich nicht, die ist ja noch viel zu klein.
    Argh***

  • An Gewalt kann ich mich nicht erinnern ...mein Vater war eher ein Mensch, der mit "Worten" einen psychisch fertig gemacht hat ...und im betrunkenen Zustand war er wohl unausstehlich. Ich kann mich immer nur an Situationen erinnern, wo wir "geflüchtet" sind ...und wie "peinlich" er im besoffenen Kopf gewesen ist ...er hat sich dann als der tolle "Hecht" gesehen und war einfach nur peinlich ...mir war das vor meinen Freunden immer sehr unangenehm.

  • Das sind die, denen man so schwer was nachweisen kann.
    Keine blauen Flecken vorzuweisen? Na dann ist ja wohl alles gut.
    Dabei zerbröselt dich die Sorte von innen heraus und man verbringt dann Jahre damit, aus den Bröseln wieder was zu machen ohne zu wissen ob das je gelingen wird.
    Psychisch fertig gemacht zu werden ist furchtbar.

  • Guten Abend!

    Ich lese hier schon ein paar Tage mit, aber fühle mich jetzt gerade erst einigermaßen in der Lage, hier schreiben zu können. Vorher hatte ich ein Entspannungsbad.

    Meine Therapie ist gestartet und ich möchte nun versuchen, über meine Gefühle zu schreiben. Bisher ging es nicht.

    Also, wie fühlte ich mich damals?

    In erster Linie schuldig und schlecht. Solche Sätze, wie Karl sie zu seinen Kindern sagte, habe ich auch von meinem Vater gehört. Es hat mich fertig gemacht- obwohl ich wusste, dass das Quatsch ist und mein Vater, im Grunde genommen, was die Situation mit Mutter betrifft, ein Versager.
    Dennoch war da manchmal doch so ein kleines Stimmchen, welches mich fragte, ob ich nicht doch etwas dazu beitrage. Auch wenn ich prinzipiell wusste, dass das nicht stimmt.
    Aber dennoch- wenn das der eigene Vater sagt, dann hat das eine andere Qualität.
    Als ich kleiner war, schloss ich meine Schuld auch aus der Situation- Mutter gehts schlecht- ich bin Schuld:
    - weil ich nicht gut genug bin
    - nicht lieb genug bin
    - nicht aufmerksam genug bin
    - schlecht bin
    - nicht aufräume
    - nicht so toll wie andere bin

    Ich fühlte mich ständig hilflos, verzweifelt. Mir fehlten Halt, Aufmerksamkeit, Bestätigung und Sicherheit. Es drehte sich nichts um mich- immer um Mutter. Wir Kinder liefen nebenbei mit.
    Was macht sie, in welchem Zustand ist sie? Wie wirkt sich das auf die Stimmung zu Hause auf? Wenn Vater nach Hause kam, fragte er nie, wie der Tag in der Schule war, sondern nur "Hat sie getrunken?".

    Ich wurde auch sozial isoliert. Wenn ich früher auch Freundinnen hatte- es waren keine guten Freundinnen. "Nur" diese psychogesprächsfähigen, wie Linde es beschrieb. Die mir aber wohl das gaben, was ich damals brauchte. Besuch hatte ich ohnehin nie- ich konnte und durfte ja mit niemandem drüber reden und einfach so, auf gut Glück, jemanden mitbringen, ging gar nicht. Man wusste nie, welchen Anblick der Besuch ertragen musste, welches Essen oder welche Stimmung. Ging nicht.
    Als Kindergartenkind hab ich auch mal gesagt, dass Mama so komisch sei und ich nicht wüsste, was los wäre- oha, das gab Ärger und ich war noch eingeschüchterter, als ich ohnehin schon war.

    Ich glaube, ich habe es auch nur dadurch überstanden, weil ich mich total zurückgezogen habe, die Nachmittage verschlief und mich gedanklich in meine Welt verkrümelte. Dissoziation passt wohl auch. Zwar ging vieles den Bach runter, ich konnte nicht die Leistung bringen, zu der ich im Stande war- auch mein IQ ist wohl nicht der niedrigste.. Aber letztlich langte es "nur" zu einem schlechten Abi und einem Studiengang ohne NC- der zu meinem Traumjob führte und mich durch selbstgewählte Schwerpunktsetzung im Bereich Psychologie auch ein Stück weit selbst therapierte.
    Ich sprach mit meiner Therapeutin drüber und sie meinte nur, dass normalerweise Kinder aus "solchen" Familien nie an der Uni landen, weil sie vor lauter psychischer Belastung nicht mehr so leistungsfähig seien. Ja, Ressourcen hatte ich, die mir halfen. Meine Großeltern, die nun schon Jahre tot sind. Meine Therapeutin sagte mir auch auf den Kopf zu, dass ich in katastrophalen Verhältnissen groß geworden bin, auch wenn meine Eltern natürlich den ekelhaften Schein einer sorgenlosen Familie des Mittelstandes mit großem Auto und Eigenheim aufrecht erhalten.
    Nur was nützt das, wenn sich hinter der Fassade die Mutter zu Tode säuft?

    Mir tat es so gut, endlich jemanden zu haben, der einem im Gespräch hilft, das Häßliche anzugucken und "die Hand hält", damit man nicht wegschaut.
    Vor allem war es ja schwierig, dass eben diese Verhältnisse da waren- aber mein Vater alles schön redete, das vermeintlich Gute hervorholte und alles miese unter den Teppich kehrte bzw mir als Einbildung ausredete. Man wird verdreht.

    Seit diesem Gespräch kann ich sogar etwas weinen. Gerade habe ich Tränen in den Augen- vorher hätte ich mich kalt gegeben und alles an mir abprallen lassen.

    Nunja. So sieht es aus. Manchen Themen kann ich mich immer noch nicht annähern; ich hoffe, dass es sich gibt.

    Letztlich hat alles dazu geführt, wie andere es schon beschrieben. Eine Familie, in der es so viel Gewalt, Belastung und Streit gibt, bringt keine gesunden Eltern-Kind-Beziehungen hervor. Ich hasse meine Eltern zum Teil für das, was sie mir antaten. Sowohl durch aktives Handeln, als auch durch passives Nichtsunternehmen. Ich hasse sie für diese erbärmlichen Versuche, mir eine Schuld anzudrehen. Früher habe ich mich für diese Gedanken auch geschämt- aber seit der Sitzung weiß ich, dass diese Gedanken mich vor weiterem Schaden schützten, da ich mich besser distanzieren konnte.

    Schönen Abend zusammen,
    Zimttee

  • Und zusätlich:
    Ich kann nicht mehr mit meinen Eltern sprechen- zu einer "normalen" Kommunikation mit ihnen bin ich nicht mehr in der Lage. AUch, wenn ich das bei anderen gerne höre- aber es geht nicht mit meinen. Gemeinsame Essen habe ich seit jeher gemieden- ich kann Mutter nicht beim Essen gegenüber sitzen und habe dadurch nie ein vernünftiges Essverhalten gelernt.
    Mir kommts hoch, wenn ich an ihren Gesichtsausdruck beim Essen denke, oder die Art, wie sie ist (Kopf zur Gabel und nicht umgekehrt), weil ihr sonst alles von der Gabel fällt.

    Gemeinsame Mahlzeiten gab es kaum- wohl auch, weil damit in den 15 Minuten das Elend nicht mehr zu leugnen war. Während des Essens wurde und wird geschwiegen.
    Und eigentlich möchte ich nie mehr mit meinen Eltern am Tisch sitzen und ihre Stimmen nicht mehr am Telefon hören. Es widert mich an- meine Mutter (ich schrieb gerade statt des Wortes "Mutter" das Wort "Oma") klingt wie eine 90-Jährige und nicht wie 50.

  • Du hasst deine Eltern zum Teil Zimttee?
    Ich kann, die Zeit über die ich hasse, nur mit jeder Faser meines Seins hassen.
    Ich hasse sie nicht durchgehend, aber wenn dann sicher nicht zum Teil.
    Ich hab mich auch nie dafür geschämt auf Misshandlung mit den entsprechenden Gefühlen zu reagieren.
    So ab 16 hab ich dann auch voll sichtbar rebelliert.

    Liebe Grüße

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