• Hallo zusammen,

    und danke fürs Freischalten! Da der Vorstellungsthread ja schnell wieder geschlossen wird, wenn ich das richtig verstanden habe, kopiere ich hier noch mal meine Vorstellung hinein. Ich hoffe nämlich, dass das hier ein sehr langer Thread wird und möchte dann auch den Anfang hier stehen haben.


    Ich fange einfach mal damit an, warum ich aufgehört habe - mit dem Trinken natürlich. Bin ich Alkoholiker? Vor fünf Wochen hätte ich das vielleicht noch nicht von mir behauptet, jetzt allerdings wird es mir immer klarer. Das ist ganz seltsam, schließlich hat Alkohol ein gutes Vierteljahrhundert eine enorm wichtige Rolle in meinem Leben gespielt, vielleicht sogar die Hauptrolle. Und trotzdem kommt die Erkenntnis erst - und auch dann nur schleichend - wenn ich eben nichts mehr trinke.

    Noch mal zurück, ich wollte ja erzählen, warum ich überhaupt aufgehört habe. Vor fünf Wochen war einer meiner ältesten Freunde übers Wochenende zu Besuch. Wir haben schon zu Schulzeiten mit allen Arten von Betäubungsmitteln herumexperimentiert, später, in der Studenten-WG ist es eigentlich nur ärger geworden. Irgendwann haben sich unsere Wege getrennt, weil ich weggezogen bin. Seither sehen wir uns aber in regelmäßigen Abständen, gut zweimal pro Jahr. Und kaum sehen wir uns, ist alles wie immer. Nicht nur verstehen wir uns wie gehabt wunderbar, auch unser Konsummuster ist so, als hätten wir in zwei Jahrzehnten nichts dazugelernt. Saufen bis zum Umfallen. Diesmal waren es zwei Tage und Nächte mehr oder weniger durch, zwei Filmrisse inklusive. Danach der für mich wahrscheinlich längste Kater bislang, der fast eine Woche gedauert hat. Und die Erkenntnis: Es geht so nicht mehr weiter.

    Mir war schon vorher klar, dass ein kalter Entzug lebensgefährlich sein kann, aber da mir nicht klar war, dass ich Alkoholiker bin, hätte ich das nie auf mich selbst bezogen. Ging ja dann auch, ich konnte zwar nicht schlafen, aber das kann ich schon seit Jahren nicht besonders. Während des Katers/Entzugs habe ich dann gleich "Nüchtern" von Daniel Schreiber gelesen und hatte sofort das Gefühl: "Das bin ja ich!" Wie ihr ja alle wisst, neigt man als Alkoholiker dazu, sich mit denen zu vergleichen, die noch tiefer drinstecken. Nur um sich selbst sagen zu können, dass es so schlimm ja längst nicht sei. Super Selbstbetrug, das habe ich inzwischen schon verstanden. Dabei waren die Anzeichen seit vielen Jahren unübersehbar:

    - Filmriss sicher zweimal im Monat
    - sehr oft verkatert ins Büro, machmal auch krankgemeldet
    - zuletzt auch immer mal wieder aggressiv geworden, wenn auch nur mit Worten (das will ich aber gar nicht kleinreden, ist schrecklich und beschämend genug, vor allem, weil ich genau den Menschen weh getan habe, die mir am wichtigsten sind)
    - nasses Planverhalten (mit wem kann ich diese Woche noch was trinken gehen? wann kann ich mir unter der Woche trinken erlauben? etc.)

    Ich war sogar vor mehr als zehn Jahren mal bei den AA, hab damit aber gar nichts anfangen können. Die Einsicht war also tatsächlich schon einmal da, aber anscheinend hat der Selbstbetrug das Match damals für sich entschieden... Wenn ich so zurückdenke, fällt mir auch auf, in wie unterschiedlichen Gewändern sich der Alkoholismus zeigen kann. Damals hatte ich eine Phase, wo ich fast jeden Abend getrunken habe und sicher immer 3-6 Halbe Bier. Danach kamen dann aber immer wieder Phasen, wo ich - sogar halbwegs problemlos - nicht mehr jeden Tag getrunken, mich dafür aber regelmäßig richtig abgeschossen habe. In einer solchen Phase bin ich jetzt auch wieder ein paar Jahre, wobei zuletzt die Filmrisse deutlich zugenommen haben (und am Anfang des Trinkens das unbedingte Gefühl, mich abschießen zu wollen). Was ich ganz sicher sagen kann: Ein Glas Wien oder Bier interessieren mich nicht, interessant wird es ab Glas 3. Auch der Geschmack ist mir mehr oder weniger wurscht, Hauptsache, es fährt. Von Schnaps habe ich dennoch fast immer die Finger gelassen, eher habe ich mit anderen Substanzen kombiniert.

    Von außen betrachtet gibt es übrigens keinen Grund zu saufen (angenehmer Job, nette Menschen um mich (auch solche, die relativ wenig Alkohol konsumieren), weitgehend gesund), also muss es wohl die Sucht sein. Natürlich ist mir bewusst, dass es in mir genug gibt, was den Alkohol so unwiderstehlich macht (Versagensängste, Schüchternheit, Traurigkeit, Langeweile und sicher noch mehr), nicht umsonst ist er mir schon ab dem ersten Rausch mit 15 vorgekommen wie eine Offenbarung. Wie der endgültige Problemlöser. Nun, das dicke Ende kommt anscheinend wirklich zum Schluss. Das weiß ich jetzt, obwohl ich gleichzeitig das Gefühl habe, dass ich gerade erst die Spitze des Eisbergs gesehen habe und da noch sehr viel mehr kommen wird. Das beunruhigt mich ziemlich, auch wenn ich kaum echten Saufdruck habe. Ich habe sogar vor Kurzem einen einwöchigen Urlaub mit meiner Partnerin ohne Alkohol "überstanden", und das ging ziemlich problemlos.

    Was erhoffe ich mir von hier? Ich habe in den vergangenen Tagen recht viel mitgelesen und mir scheint, dass ihr ein ganz freundliches - und kritisch-aufmerksames - Grüppchen seid. Ich freue mich also, wenn wir uns austauschen können!


    Ich möchte auch gleich einmal mit einem Thema anfangen, das mir gerade auf der Seele brennt. Und zwar hat ein weiterer langjähriger Freund, der ebenfalls nicht in meiner Gegend lebt, auch vor zwei Wochen mit dem Trinken aufgehört. Wir telefonieren/skypen in der Regel einmal im Monat. Gestern fragte er auch an, ob wir telefonieren könnten, ich habe aber erst mal abgelehnt, weil ich mich diesbezüglich sehr unsicher fühle. Er hat wesentlich mehr getrunken als ich (jeden Tag über zig Jahre mehrere Liter Bier, dazu auch härtere Sachen). Er sagt seit Jahren von sich, er sei Alkoholiker, er hat auch immer mal wieder Trinkpausen von mehreren Wochen eingelegt, sich aber niemals Hilfe von außen geholt oder sich anderweitig wirklich ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt, also z.B. Fachbücher oder Foren wie dieses gelesen.

    Ich fühle mich jetzt hin- und hergerissen. Einerseits ist es schön, wenn noch jemand, den ich lange kenne und mag, sich auf denselben Weg begeben hat wie ich. Andererseits habe ich Angst, dass er es wieder nicht wirklich ernsthaft meint und der Kontakt mit ihm mir nicht gut tut. Nicht mit ihm zu reden oder den Kontakt abzubrechen macht mir aber wiederum ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl habe, ihn im Stich zu lassen.

    Wie würdet ihr mit dieser Situation umgehen? Habt ihr schon mal mit einem euch Nahestehenden aufgehört und kennt diese Ängste?

    Danke fürs Zuhören und lieben Gruß an alle :)

  • Hallo Horizont,

    herzlich willkommen hier im Forum, und Glückwunsch zu deinem Entschluss, trocken zu werden und zu den ersten Wochen ohne Alkohol!

    Zu mir: Ich bin seit viereinhalb Jahren trocken und seit vier Jahren hier im Forum aktiv (mal mehr, mal weniger). Außerdem habe ich mir vor drei Jahren noch eine „reale“ Selbsthilfegruppe gesucht. Den Austausch über unsere Krankheit - und über vieles andere auch - finde ich tatsächlich sehr wichtig für mich und meine stabile Trockenheit.

    Zu deinem konkreten Anliegen hab ich eine Rückfrage:

    Was genau befürchtest du denn, wenn du darüber nachdenkst, ob du mit deinem Freund telefonieren solltest?
    Kannst du das benennen?

    Ansonsten fiel mir noch ein, als ich deinen Bericht las, dass es für dich vielleicht sinnvoll sein könnte, dich mal bei einer Suchtberatung über Therapiemöglichkeiten zu informieren. Es gibt sehr unterschiedliche Angebote, wie wir Alkoholkranke uns neben einer SHG noch weitere Unterstützung holen können für diese einschneidende Lebensveränderung, die das Trockenwerden bedeutet.

    Viele Grüße
    Thalia

  • Hallo Horizont & Willkommen im Forum! :D

    Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob ihr euch beim skypen zugeprostet habt.
    Oder anders: Was war bisher der wesentliche Inhalt eurer Gespräche?

    Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns.
    Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. (Bert Brecht) 8)

  • Hallo Horizont,
    ich schließe mich Thalias und Dantes Worten an und willkommen auf deinem neuen Weg.

    Mein stärkstes Gefühl war anfangs Erschütterung, dass ich es überhaupt soweit habe kommen lassen.
    Das forum hatte einen sehr großen Anteil daran, dass ich aus der Sucht herausgefunden habe.
    Sowohl hier digital, als auch draußen analog, kam ständig die Erkenntnis "das ist ja wie bei mir".
    Und dann ist Platz für Fragen.

    Zu deiner Überlegung zu dem Freund:
    Du könntest ihm genau das sagen, was du in deinem letzten Absatz für dich festgestellt hast.
    Einen Austausch zum Thema habt ihr ja bereits schon länger.

    Bist du eigentlich traurig, oder vielleicht schockiert, wohin dein Weg dich nun gebracht hat?
    Du liest dich so aufgeräumt.

    Gruß taxi

  • Hallo ihr, danke für eure lieben Worte! Heute gehts mir ziemlich gut, die Sonne scheint, ich war zwei Stunden radeln und freue mich, dass ich nicht verkatert bin (heute wäre entweder Tag1 oder Tag2 vom Wochenendkater) :)

    Thalia: Gehört die reale Gruppe zu den AA? Siehst du für dich einen Unterschied zwischen der "realen" und der "virtuellen" hier? Ich bin ja damals gleich zu den AA gegangen, auf die Idee, im Internet zu suchen, wäre ich gar nicht gekommen. Aber derzeit fühlt sich diese hier genau richtig an.

    Die Frage mit meinem Freund ist nicht so leicht zu beantworten, da es mehr ein schlechtes Gefühl ist als etwas, was ich rational durchdacht habe. Er hat schon relativ viele Trinkpausen hinter sich, alle haben maximal ein paar Wochen gedauert. Er meinte auch vor einiger Zeit einmal, er könne sich eben nicht mehr vorstellen, nie mehr zu trinken. Er ist außerdem nicht bereit, sich Hilfe in irgendeiner Form zu holen. Ich glaube, mit ihm zu reden, wird mich ziemlich runterziehen. Auch und vor allem, weil er so ein hoffnungsloser Fall ist. Ich könnte mir vorstellen, dass es Co-Abhängigen so gehen muss. Und schlechte Gefühle kann ich gerade gar nicht brauchen, so egoistisch das klingt.

    Danke für den Tipp, ich hatte mir selbst schon überlegt, einmal mit einer Psychiaterin zu reden. Einen Hausarzt habe ich gar nicht, weil ich nicht so oft krank bin und wenn, dann gleich zum Fachmann gegangen bin. Wollte . ich aber eh schon seit Längerem mal ändern.

    Dante: Wir haben uns in der Tat ziemlich oft zugeprostet, ob beim Skypen oder früher beim Telefonieren. "Telefonsaufen" hab ich eh gern gemacht, immerhin trinkt man dann nicht alleine und kann sich dadurch einreden, dass eh alles paletti ist. Das Ausmaß des Selbstbetrugs ist schon arg! Wir haben über alles mögliche geredet, wobei es meist an der Oberfläche bleibt. Ich habe andere Menschen, mit denen ich richtig in die Tiefe gehen kann. Das ist bei ihm kaum möglich, weil er fast immer abblockt. Das macht die Gespräche schon bisher oft schwierig, weil er sich eben so kaputtmacht. Deshalb hab ich auch schon länger nichts mehr getrunken, wenn wir geredet haben. Einfach um zu zeigen, dass ich nicht mehr mitmache. Von außen betrachtet könnte man wahrscheinlich einfach sagen, ich soll auf den Kontakt verzichten. Aber wir kennen uns schon ziemlich lange und ich mag ihn gern.

    Taxi: Deine Worte machen mir Mut! Die Erschütterung kann ich ganz gut nachvollziehen, wobei sich die schon etwas länger hinzieht. Vor allem die Male, wo ich aggressiv geworden bin (und mich dann nicht einmal mehr daran erinnern konnte) waren sehr schockierend. "Aufgeräumt", naja. Ich habe ziemliche Stimmungsschwankungen, aber andererseits bin ich auch stolz, bis hierhin gekommen zu sein. Außerdem habe ich in den letzten Wochen wirklich sehr viel über meinen Konsum und Leben generell nachgedacht und ein paar Bücher zum Thema gelesen, dadurch kommt vielleicht auch der aufgeräumte Eindruck. Aber ja, auch traurig. Und zwar zu den seltsamsten Gelegenheiten. Am Freitag z.B. hatte ich bis Mittags eigentlich nur positive Erlebnisse. Und plötzlich: das Loch. Ich hätte weinen können und wusste überhaupt nicht, warum. Danach dann den ganzen Tag emotional total wackelig. Das hat dann auch den Ausschlag gegeben, mich hier anzumelden und zu schreiben.

    Vielleicht sage ich ihm das so, das ist eine gute Idee. Vielleicht schreibe ich es ihm auch, mal sehen. Bislang bin ich dem Gespräch aus dem Weg gegangen. Wie ich mich überhaupt eher zurückgezogen habe in den letzten Wochen. Also nicht komplett, aber zumindest von eher schwierigen Menschen. Ich frag mich nur: Was ist, wenn er wieder anfängt zu saufen? Aber die Frage werde ich wohl dann beantworten.

    Danke euch nochmal, der Austausch tut mir sehr gut :)

  • Da schreibst du ja schon eine Menge:
    Du hast Angst, ein Gespräch würde dich herunter ziehen. Die Gespräche bleiben an der Oberfläche. Ihr habt "Telefonsaufen" gemacht.
    Da stellt sich die Frage nach dem Inhalt dieser Freundfschaft.
    Du kannst getrost davon ausgehen, dass er beim nächsten Anruf, sollte er sich wieder in einer nassen Phase befinden, dich zum mittrinken animieren wird.
    & spätestens dann hast du eine Entscheidung zu treffen.

    Ich persönlich würde jetzt nicht den Kontakt zu ihm suchen.

    Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns.
    Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. (Bert Brecht) 8)

  • Dante, genau diese Frage stelle ich mir ja auch. Und sie ist gar nicht leicht zu beantworten. Das Telefonsaufen ist allerdings ziemlich lange her, bestimmt ein bis zwei Jahre. In der Zeit hat er mich nicht animiert, sondern einfach in Ruhe seine paar Bier während des Gesprächs getrunken. Aber kann natürlich sein, dass er mich zu animieren versucht, wenn seine Trockenheit vorbei ist. Den Kontakt suche ich gerade sicher nicht.

    Gerade lese ich "This naked mind", ein in den USA ziemlich gehypetes Anti-Alk-Buch. Hat das jemand hier schon gelesen? Ich hab gerade einmal die Suchfunktion verwendet, aber es scheint nirgendwo besprochen worden zu sein. Ich finde es teilweise schwierig zu verdauen, weil es typisch amerikanisch übertrieben geschrieben ist. Aber es macht trotzdem sehr gut auf die Gehirnwäsche aufmerksam, mit der die Werbung (und Gesellschaft) ein bestimmtes - positives - Bild vom Alkoholkonsum in unseren Köpfen verankert hat. Wer Interesse hat, das Buch aber nicht kaufen mag, kann sich auch den Podcast anhören oder sich das bei Youtube reinziehen.

    Muss jetzt arbeiten, schönen Tag euch!

  • Hallo Horizint!
    willkommen hier.
    Ich denke, Du solltest Deinen Freund fragen. Sonst wirst du es nicht wissen. Es ist eben die Frage, ob sich jemand selbst als Alkoholiker sieht oder nicht. Wenn nicht, dann ist es nicht ungewöhnlich, dass jemand eine Trinkpause einlegt und dann wieder trinkt. Er ist eben nicht Du. Vielleicht hört er aber auch für immer auf. Warum solltest nur Du das tun?
    Ich persönlich habe mich Alkohol nicht ausgestezt, als ich trocken wurde. Ich konnte das nicht sofort jedem erzählen und habe manches dann einfach "vermieden" - nach und nach hab ich es meinen Freunden erzählt. Und heut hab ich kein Problem, wenn irgendwo jemand am Nebentisch Wein trinkt. Ich bin für mich froh, dass mein Mann nichts trinkt, wenn ich da bin. Und auch meine wichtigsten Freund würden nie in meiner Anwesenheiten trinken.
    Von daher ist Dein schlechtes Gefühl bzgl. Deines evtl. wieder trinkenden Freundes absolut verständlich. Das wirst Du aber nur lösen können, indem Du offen bist.
    Viele Grüße
    Calida

  • Hallo Calida,

    danke für das nette Willkommen! Der Freund von mir sieht sich durchaus als Alkoholiker, jedenfalls im privaten Gespräch. Fremden gegenüber hält er das aber natürlich unter Verschluss. Ich habe jetzt für mich entscheiden, das Gespräch zu ihm nicht zu suchen, mich dem aber auszusetzen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Zumindest gebe ich ihm so die Chance, meine Einstellung dazu überhaupt wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Ich hab ein bisschen Bammel vor dem Gespräch, aber nachher wird es sich sicher gelohnt haben.

    Mir geht es ein bisschen wie dir, ich habe das anfangs auch niemandem erzählt und bin jetzt dabei, meine Freunde einzuweihen. Dem Alkohol setze ich mich definitiv weniger aus, wobei ich gestern Abend ein sehr erstaunliches Erlebnis hatte. Ich war zu einem Rockkonzert eingeladen, vorher gab es dort noch ein Essen. Alles war gratis, die Getränke logischerweise auch. Dabei waren zwei Freunde und ein paar Leute, die ich entfernt kenne. Kurz gesagt, ein Abend, wo ich unter 4 Litern Bier nicht nach Hause gegangen wäre. Zwei von den Anwesenden (die Freunde) wussten Bescheid, die anderen nicht. Und coolerweise hat mich niemand zum Trinken animieren wollen. Wobei die Leute alle vergleichsweise wenig getrunken haben. Ich war vorher ein bisschen unsicher wegen des Abends und hab mir vorgenommen, dass ich mich der Situation sofort entziehe, wenn es in irgendeiner Form brenzlig wird. Aber stattdessen war es ein total schöner und lustiger Abend. Seltsam war es nur zu Beginn, als der Sekt ausgeschenkt wurde und stattdessen einen Erdbeersaft geordert habe. Aber weder gab es seltsame Blicke noch irgendwelche Kommentare.

    All das heißt nicht, dass ich jetzt ständig auf Konzerte oder andere alkoholgeschwängerte Events gehen werde. Reinen Kneipenabenden möchte ich mich weiterhin entziehen. Aber ich freu mich trotzdem wie ein Schneekönig, dass der gestrige Abend so schön war, obwohl ich meine Krücke nicht dabei hatte. Oder vielleicht sogar, WEIL ich sie nicht dabei hatte.

    Lieben Gruß
    Horizont

  • Hallo Horizont!
    Du schreibst, Du suchst das Gespräch nicht, aber Du hast Bammel vor dem Gespräch. Das klingt für mich etwas unentschlossen.
    Ich habe in den letzten Jahren gelernt, wie wichtig es ist, möglichst immer über alles zu reden. Ich habe gemerkt, dass ich Leuten so oft Dinge unterstellt habe oder sie missverstanden habe, weil ich nicht nachgefragt habe. Als ich mit dem Nachfragen begonnen habe, habe ich gemerkt, dass es ganz oft ganz anders ist, als ich das vermutet oder mir aus Unwissenheit zusammengereimt habe.
    Was Alkohol und Veranstaltungen angeht - ich mache es so, dass ich Veranstaltungen oder Orte, an denen es mir nur um das Trinken ging, komplett meide. Und dazu muss ich mich noch nicht mal zwingen. Mit Kollegen in die Kneipe gehen - da hab ich gar keine Lust mehr zu. Ich habe neue Interessen entwickelt und hab eben jetzt Spaß an anderen Dingen.
    Das Rockkonzert.... für mich klingt das gefährlich, weil um Dich herum so viel getrunken wurde. Du hast jetzt eine gute Erfahrung gemacht und ich finde es auch gut von den Leuten, dass sie akzeptieren, dass Du nicht trinkst und Dich nicht auffordern zu trinken. Ganz ehrlich: mir wär's trotzdem zu gefährlich, v.a. am Anfang. Aber bin eben Ich und Du bis Du.
    Viele Grüße
    Calida

  • Hallo Horizont!

    Das war schon eine heikle Nummer für einen frisch Abstinenten, die Du da hingelegt hast. Das drumherum kann das Suchtgedächtnis enorm provozieren, bis man plötzlich doch bei einem Sekt/Wein/Bier... zugreift.

    Bild dir bloß nichts darauf ein, das es gestern gut gegangen ist.

    Du bist noch viel zu frisch im Geschäft, um die tatsächliche Gefahrenlage zutreffend einordnen zu können.

    Mein Therapeut pflegte stets zu sagen, so was geht ein paar Male gut, dann kommt der Rückfall (nicht für alle, jedoch für viele).

    Lies dich mal hier bei den Leuten ein, die lange Zeit trocken sind. Bis eine gewisse Festigung eingetreten ist, wäre jeder Neuanfänger gut beraten, dem Alkohol so gut es eben geht, aus dem Weg zu gehen. Das nennt sich Risikominimierung.

    Die Leute, die Du evt. "eingeweiht" hast sind nicht für die verantwortlich. Das bist Du allein. Die Leute halten dich nicht vom Trinken ab. Sie sind nicht deine Erziehungsberechtigten. Du musst schon selbst auf dich aufpassen, Risiken erkennen und sodann zu umschiffen.

    Gruß
    Carl Friedrich

  • Hallo Calida!

    Du triffst den Nagel auf den Kopf, ich bin diesbezüglich wirklich sehr unentschlossen. Ich habe lange viel heruntergeschluckt in Beziehungen, wahrscheinlich war das auch ein Grund dafür, viel in Alkohol zu ertränken. Ich arbeite schon länger daran, mehr zu mir zu stehen und klarer und vor allem direkter zu äußern, wenn mir etwas nicht passt. Dein Hinweis ist Bestärkung für mich, dies noch intensiver zu praktizieren. Ich merke zum Glück auch, dass mir die Abstinenz dabei hilft, weil ich nicht nur viel klarer wahrnehme, wie es mir geht, sondern mir schlicht der alkoholische Ausweg fehlt.

    Hallo Carl Friedrich, danke für die Kopfwäsche ;) Ich geb dir (und Calida) ja vollkommen recht: Risikominimierung ist das A und O. Genau deshalb habe ich eben auch keinerlei Kneipen aufgesucht, seit ich nüchtern bin und habe mit den Leuten, mit denen ich hauptsächlich getrunken habe, andere Aktivitäten unternommen. Fürs Konzert habe ich mir explizit vorgenommen, die Veranstaltung zu verlassen, wenn ich Lust auf Alkohol bekommen sollte. Da ich die Band nicht kannte (und deshalb auch unbedingt dort hätte bleiben wollen), wäre das auch nicht schwer gewesen. Ich gehe sehr selten auf Konzerte, insofern wirken diese auch nicht per se als starker Trigger. Aus meiner Sicht war das Risiko in diesem speziellen Fall also überschaubar.

    Hinzu kommt, dass ich es gerade richtiggehend genieße, nichts trinken zu müssen. Ich habe bei dem Konzert nicht den geringsten Saufdruck verspürt, sondern immer nur Erleichterung und Staunen, wie gut sich das "ohne" anfühlt. Wenn es eine "pinke Phase" am Beginn der Trockenheit gibt: Ich habe sie anscheinend... Sorgen macht mir eher der Winter, weil dann der Reiz des Neuen weg ist und die Jahreszeit natürlich auch nicht gerade die Stimmung hebt. Dafür ist es gut, vorbereitet zu sein, und harte Worte wie deine helfen mir dabei.

    Keine Ahnung, ob das oben so rübergekommen ist, aber logischerweise ist kein anderer für mich verantwortlich. Aber in den ganzen anderen Threads hier liest man sehr häufig, dass das Umfeld Nüchterne oft dazu nötigt, mitzutrinken. Und ich freue mich gerade, dass ich davon an diesem Abend NICHT betroffen war.

    Hi Karsten, danke für die Erinnerung. Die Schritte sind mir eh schon bewusst. Ich habe jetzt offen mit einer Psychiaterin geredet, die früher selbst im Entzugsbereich gearbeitet hat und mir deshalb gute Tipps geben konnte und mich an andere Einrichtungen weiterverwiesen hat. Das werde ich jetzt angehen. Außerdem beginne ich jetzt, meine restlichen Weinflaschen zu verschenken, die noch im Keller liegen. Heute kommt Besuch, denen gebe ich gleich ein paar Flaschen mit. Ich bin schon gespannt, ob das einen Trennungsschmerz auslösen wird.

    Danke euch noch mal und einen schönen Tag!

  • Hallo Horizont!
    Mir ging es wie Dir. Ich hab auch viel geschluckt in Beziehungen und dann Alkohol geschluckt. Mich entfalten und kennen lernen wie ich bin und lernen, zu meinem Ich zu stehen, dafür war Nüchternheit die absolute Voraussetzung bei mir. Es ging Schritt für Schritt und ich bin immer noch im Lernprozess. Man braucht also Geduld. Noch heute stelle ich fest: wenn ich irgendwo unauthentisch bin, weil es im Moment vielleicht bequemer ist als irgendwo möglicherweise anzuecken, dann kotzt mich das nicht nur selber an, sondern es passiert tatsächlich, dass mein Suchtgedächtnis aktiviert wird und der Gedanke kommt: mann, ich würd' jetzt gern was trinken. Das merke ich aber heute sofort und kann dann gegensteuern.
    Und dann fällt mir noch was ein: Sich vornehmen, wegzugehen, wenn die Lust auf Alkohol kommt..... Ja - was aber, wenn die Lust so stark ist, dass es Dir egal wird und Du dann trinkst? Was meinst Du, wie es zu Rückfällen kommt? Manchesmal sicher in solchen Situationen. Ich würd mich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass ich als suchtkranker Mensch immer rational handeln kann.
    Viele Grüße
    Calida

  • Und dann fällt mir noch was ein: Sich vornehmen, wegzugehen, wenn die Lust auf Alkohol kommt..... Ja - was aber, wenn die Lust so stark ist, dass es Dir egal wird und Du dann trinkst? Was meinst Du, wie es zu Rückfällen kommt? Manchesmal sicher in solchen Situationen. Ich würd mich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass ich als suchtkranker Mensch immer rational handeln kann.


    Hallo!

    Das sehe ich genau so.

    In meiner ambulanten Therapie waren die Ausführungen der Rückfälligen am interessantesten. Genau in so einer Atmosphäre der trinkenden Umgebung und den Fallstricken des Suchtgedächtnisses ist ein Neuanfänger, und nicht nur der, gerne mal überfordert und greift dann doch zu, weil der innere Schweinehund stärker als der Vorsatz sein kann, zu gehen, wenn es unangenehm wird.

    Gerade im ersten Jahr der Abstinenz, in dem man noch sehr wackelig und unsicher unterwegs ist, hat ein frisch Abstinenter nichts und zwar gar nichts auf Konzerten, in Fankurven von Stadien oder in der Fußballkneipe sowie auf Betriebsfeiern oder anderen von Alkohol untermalten Veranstaltungen verloren. So meine Sicht der Dinge.

    Gruß
    Carl Friedrich

  • Hallo Calida, dein Frühwarnsystem klingt ziemlich interessant. Ich könnte mir vorstellen, dass mir das ziemlich weiterhelfen wird. Ich hatte vor zwei Tagen eine ähnliche Erfahrung. Wie oben geschrieben hatte ich über Nacht Besuch von einer guten Freundin und ihrem Freund. Beide sehe ich eher selten, zusätzlich läuft die Kommunikation teilweise auf Englisch (wegen ihrs Freundes). Weil wir uns selten sehen und Kommunikation auf Englisch mir auch nicht so leicht fällt, weil ich eine starke perfektionistische Ader habe und Englisch eben nicht perfekt spreche, fühle ich mich oft ein bisschen unrund, wenn wir uns das erste Mal nach längerer Zeit wiedersehen. Und in der Tat hatte ich dann auch ständig Gedanken an Alkohol bzw. daran, wie mich dieser in der Situation entspannen könnte. Irgendwann habe ich das Thema angesprochen und ihnen meine neue Situation geschildert. Und erst dann - als sie Bescheid wussten, ich also ganz authentisch sein konnte - ließen die nassen Gedanken nach. Das heißt für mich nicht, dass ich ab jetzt jedem meine Lage schildern werde. Aber es ist ein gutes Warnsystem. Ich werde das weiter beobachten.

    Carl Friedrich, ich habe einen großen Teil deines eigenen Threads gelesen und gesehen, dass dir anfangs auch ganz schön der Kopf gewaschen wurde ;) Das war ganz lehrreich für mich. Ich werde mich definitiv intensiver mit dem Thema Rückfall befassen. Bei der Recherche dazu habe hier ziemlich viel lernen können: edit Moderation - bitte keine Links einstellen - edit

    Wie gesagt gehe ich solchen Situationen sonst aus dem Weg. Es gab z.b. schon drei Betriebsfeiern in meiner trockenen Zeit (dabei arbeitet bei uns abgesehen von mir definitiv kein einziger Alkoholiker). Zu keiner davon bin ich hingegangen. Gesten Abend war auch ein Freund bei uns zu Besuch. Alkohol gab es keinen, wurde nicht einmal thematisiert. Ihn werde ich auch noch einweihen, gestern hatte ich aber keinen Bedarf, schon wieder über das Thema zu sprechen.

    Ach ja, und meine ersten drei Weinflaschen habe ich gestern auch weggegeben. Das war eigentlich gar nicht schwierig. Bin schon gespannt, wie sich das anfühlt, wenn ich die letzte Flache herschenke...

    Noch was ganz Interessantes, das ich eben in "This Naked Mind" gelesen habe: Angeblich kommt das Rauschgefühl des ersten Getränks vor allem daher, dass Glukose durch die Magenwand direkt ins Blut gelangt. Nach 20 Minuten lässt der "Zuckerschock" nach und der Körper giert nach mehr. Das finde ich spannend, weil es erklärt, warum so viele frische Abstinenzler so gerne Süßigkeiten essen. Ich zum Beispiel habe derzeit erstaunlich oft Lust auf Eis, das kenne ich so gar nicht von mir. Und ich gebe diesem Drang gern und ohne schlechtes Gewissen nach. Ist doch was Schönes, sich was zu gönnen. Vor allem, wenn man weiß, dass man sonst zum Alk gegriffen hätte.

    Lieben Gruß
    Horizont

  • PS: Arg ist, dass die Bannerwerbung auf der "Grundbausteine"-Seite ausgerechnet ein Event anpreist, zu dessen Sponsoren mehrere Alkoholhersteller gehören. Fuck Google!


  • Das finde ich spannend, weil es erklärt, warum so viele frische Abstinenzler so gerne Süßigkeiten essen. Ich zum Beispiel habe derzeit erstaunlich oft Lust auf Eis, das kenne ich so gar nicht von mir. Und ich gebe diesem Drang gern und ohne schlechtes Gewissen nach. Ist doch was Schönes, sich was zu gönnen. Vor allem, wenn man weiß, dass man sonst zum Alk gegriffen hätte.

    Hallo!

    Das legt sich mit der Zeit wieder, so wurde es mir mehrfach berichtet.

    Ich bin dafür kein Maßstab, weil ich vor meiner Sauferei gerne Süßes verspeist habe und genau dort habe ich gleich zu Beginn meiner Abstinenz wieder angeknüpft. Nur in meiner Saufperiode bin ich bei Süßigkeiten kürzer getreten, denn Bier und Süßes passen nicht zusammen.

    Übrigens: Meine Kopfwäscher hatten recht. Nur erschloss sich mir das erst mit voranschreitender Zeit.

    Gruß
    Carl Friedrich

  • Hallo Carl Friedrich,

    das kann gut sein, ich habe es auch schon mehrfach gelesen. Ich esse auch gern Süßes, insofern passt das, egal ob es bleibt oder wieder geht.

    Das mit der Kopfwäsche glaube ich gern. Man wächst halt langsam in die neue Situation hinein, so kommt es mir jedenfalls vor. Heute habe ich besagtem Freund ein langes Mail geschrieben, in dem ich ganz klar gemacht habe, warum ich derzeit nicht mit ihm sprechen will. So etwas habe ich in der Form auch noch nicht gemacht. Es fühlt sich aber richtig an und ich bin es jetzt losgeworden, das ist die Hauptsache.

    Schönen Sonntag
    Horizont

  • Liebes Tagebuch ;)

    heute hatte ich mehrfach eine ganz seltsame Wahrnehmung: Mir war, als sei ich aufgewacht. Als könnte ich zum ersten Mal seit langem wieder klar und scharf denken. Vielleicht wie Neo in Matrix, als er sich für die richtige Pille entscheidet. Ich will damit gar nicht andeuten, dass ich jetzt geheilt bin, das wäre vermessen und dumm. Und ich bin auch nicht euphorisch und damit kurz vor dem Rückfall. Eher ist es so, als wäre jetzt, nach sechs Wochen, endlich der ganze Alkohol aus meinem Körper draußen. So, als sei ich viele Jahre ununterbrochen entweder drauf oder verkatert gewesen, aber nie ohne alkoholische Beeinflussung. Immer gab es eine Art von Schleier über allen Wahrnehmungen, selbst wenn ich zwischendurch zwei oder drei Tage nicht getrunken habe. Heute war dieser Schleier mehrfach weg, was sich sehr ungewohnt, aber auch ganz ruhig und klar angefühlt hat.

    Guter Zeitpunkt, mich mit dem Alan Carr-Hörbuch ins Bett zu legen. Gestern habe ich schon ein bisschen reingehört und finde es äußerst selbstverliebt, aber es waren auch ein paar Punkte dabei, die genau ins Schwarze treffen. Seinen Vergleich mit der Venusfliegenfalle zum Beispiel finde ich ziemlich treffend.

    Lieben Gruß
    Horizont

  • Hallo Horizont,

    das ist doch eine interessante Beobachtung und hoffentlich war sie nicht nur seltsam sondern auch schön.
    Wahrnehmung abspeichern und merken.
    Ein klarer Horizont, ahoi.

    Ich will ja nichts herbeireden und schon garnicht im öffentlichen Teil herauslocken, aber kratzt dich so gar nichts im Moment?
    Damals war es im ersten 3/4 Jahr 2mal ganz haarscharf. Ich war mir keines Auslösers bewußt. Meine ausgeprägte Angst hat mich geschützt.
    Fühlst Du Dich geschützt?
    taxi

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