Tiefer anhaltender Schmerz

  • Hallo zusammen,

    mein Vater ist an den Folgen seines Alkoholkonsums gestorben als ich 17 war - das ist nun locker 30 Jahre her und obwohl ich all die Jahre an mir gearbeitet habe und auch besser klar komme mit meiner Vergangenheit und mir, wollen die Wunden irgendwie nicht wirklich heilen. Ständig gerate ich in Situationen und an Menschen, die mich in meinem Schmerz triggern. Und irgendwie ist es, als würde das Fundament noch immer auf wackligen Beinen stehen. Zumindest sobald jemand an meinen Grundfesten rüttelt. Manchmal denke ich, ich bekomme vom Universum so lang die selbe Aufgabe gestellt, bis ich kapiert habe, wie ich sie löse - aber ich verstehe sie nicht! Ich hab keine Ahnung, was ich tun kann, damit der Spuk endlich vorbei ist. Aktuell lässt mich das wieder fast verzweifeln. Ich fühle mich so unbeschreiblich verletzt. Kennt ihr das? Kann es sein, dass man in dem Gefühl, nicht geliebt und gewollt zu sein, stecken bleibt? Was kann ich tun? Wer hat einen Tipp?

  • Hallo Lanananana,

    ich kenne das Gefühl insofern, als dass Anerkennung und Annahme an bestimmtes Verhalten gebunden war.

    Mein Vater war funktionierender Alkoholiker.

    Die Kindheit oder Jugend hinterlässt einen Wachsabruck, weil sie die Prägephasen sind.

    Ich glaube nicht, dass man darin steckenbleibt, bzw. stecken bleiben muss, sondern sich von diesem Wachsabdruck lösen muss und sich selbst neu so getsalten muss, dass man in den Wachsabdruck nicht mehr hineinpasst.

    Ich kenne Deine Geschichte nicht. Hast Du professionelle Hilfe?

  • Ich habe schon auf unterschiedliche Hilfsangebote gesetzt, um an der offenen Wunde in mir zu arbeiten. In einer Angehörigenberatung, mit einem Verhaltenstherapeuten, mit einer klassischen Psychotherapeutin, mit Meditation…. - aber ich schaffe es nicht mich von diesem wie du sagst „Wachsabdruck“ zu lösen. Ich war ungeliebt … und irgendwie fühle ich mich bis heute so …

  • Ich war ungeliebt … und irgendwie fühle ich mich bis heute so …

    Genau das ist der Wachsabdruck. Du fühlst Dich ungeliebt, weil Du es nicht anders gelernt hast.

    Du spürst aber doch selbst, dass der Wachsabdruck Dich ziemlich drückt, oder? Und das ist ein sehr, sehr gutes Zeichen. Damit bringst Du doch zum Ausdruck, dass Du es wert bist, geliebt zu werden.

    Wie stehst Du zu einer Tiefenanalyse?

  • Müsste ich nochmal genauer schauen, wie sich das von der psychoanalytischen Behandlung unterscheidet, die ich über einige Jahre gemacht habe. Das recherchiere ich gleich morgen. Danke, dass du geantwortet hast. Und gute Nacht!

  • Ich habe die vergangenen Monate versucht, mich umzuprogrammieren: Liebevoller und wertschätzender mit mir selbst zu sprechen, destruktive Glaubenssätze umzuformulieren und ins Konstruktive zu wenden, mir eine gute Zeit zu machen, schöne Aktivitäten zu planen etcpp. Ich würde auch sagen, all das durchaus mit Erfolg … und trotzdem bleibt diese bodenlose Traurigkeit, dieses Gefühl, niemanden zu haben und auch nicht zu finden, dem ich etwas bedeute... Ich versuche dem nicht zu viel Raum zu geben, damit es nicht zu groß wird - aber ich kann auch nicht so tun, als wenn es nicht da wäre. Vielleicht kennt ihr das? Ich suche noch immer nach Inspiration.

  • Liebe Lanananana,

    hast du es schon mal mit EMDR versucht? Das kommt aus der Traumatherapie.

    Traumatische Erfahrungen können, nachdem EMDR (das sind bestimmte, gelenkte Augenbewegungen) angewendet wurde, leichter empfunden werden. Außerdem sind durch deine alten (unerwünschten) Denkmuster im Gehirn quasi Autobahnen entstanden, die immer und immer wieder "befahren" werden. Nach EMDR-Behandlungen können leichter und sehr schnell neue Denkmuster und somit neue, positivere Glaubenssätze entstehen. Meditation und Affirmationen sind zwar auch toll, mit EMDR geht es wesentlich schneller, mit Affirmationen kann hinterher noch unterstützt werden. EMDR ist eine kurzzeittherapeutische Intervention, d.h. du brauchst nicht 100e Sitzungen wie bei der Psychoanalyse.

    LG, Saphira

  • Ich empfehle dir die Arbeit mit dem "Inneren Kind", eine sehr gute Methode,

    um an diesen tiefen Schmerz heranzukommen. Ich habe jahrelang so eine

    Art Tagebuch- Dialog mit dem Kind geschrieben, um es besser kennenzulernen.

    Überhaupt ist Schreiben sehr gut, um sich immer wieder bestimmte

    Dinge festzuhalten und in Erinnerung zu rufen, Dankbarkeit zu empfinden.

    Als Kinder alkoholkranker Eltern wurden wir nicht gesehen und nur beachtet,

    wenn wir im Sinne des Familiensystems funktionierten.

    Wir wurden gelebt und unseren Grenzen wurden oft überschritten oder nicht wahrgenommen.

    Das gab uns das Gefühl, nicht so sein zu dürfen, wie wir sind, als Kind schon hab ich

    geglaubt in der falschen Familie zu sein, vertauscht worden zu sein.

    Aber es gibt einen Weg da raus, fühle dein inneres Kind, umarme es , nimm es an die Hand

    und führe es heraus aus dem Schatten ins Licht - werde sichtbar!

    Liebe Grüße Indiana :wink:

  • Ich habe die vergangenen Monate versucht, mich umzuprogrammieren: Liebevoller und wertschätzender mit mir selbst zu sprechen, destruktive Glaubenssätze umzuformulieren und ins Konstruktive zu wenden, mir eine gute Zeit zu machen, schöne Aktivitäten zu planen etcpp. Ich würde auch sagen, all das durchaus mit Erfolg … und trotzdem bleibt diese bodenlose Traurigkeit, dieses Gefühl, niemanden zu haben und auch nicht zu finden, dem ich etwas bedeute... Ich versuche dem nicht zu viel Raum zu geben, damit es nicht zu groß wird - aber ich kann auch nicht so tun, als wenn es nicht da wäre. Vielleicht kennt ihr das? Ich suche noch immer nach Inspiration.

    Liebe Lanananana,

    ich kenne dieses Gefühl sehr gut, mir geht es ganz genau so. Ich habe irgendwann nachgegeben und es angenommen, habe mir eingestanden, dass es nicht für alle und jeden jemanden geben kann. Versuche aber trotzdem, wie du, ein positiver Mensch zu sein und es mir gutgehen zu lassen.

    Wenn man genau drüber nachdenkt, kann diese traurige Lücke auch niemand mehr schließen, niemand kann einem die Kindheit zurückbringen und liebende Eltern dazu.

    Und warst du es nicht, die geschrieben hat, früher schwankte meine Gefühlswelt zwischen Ohnmacht und Entsetzen, da empfinde ich Einsamkeit als Fortschritt? Das hat mir gut gefallen und damit kann ich mich anfreunden.

    Ich habe auch Zeit meines Lebens versucht mich zu lieben, das ist mir bisher nicht gelungen, aber ich kann mir eine gute Freundin sein.

    Und ich denke, es ist vielleicht nicht so wichtig geliebt zu werden, aber sehr wichtig, Liebe zu geben. Ich hatte lange Zeit ein Ehrenamt in dem ich das gelebt habe, jetzt habe ich einen Beruf in dem es sehr liebevoll und umsichtig zugeht.

    Allerdings habe ich auch keine depressive Verstimmungen oder Depressionen, da kann ich vielleicht gut reden...

    Ich finde, wir haben es geschafft zu überleben, ohne Zuwendung, Fürsorge oder Geborgenheit, da ist Traurigkeit, auch bodenlose, ein annehmbarer Preis für ein fast normales Leben, oder?

  • Ja, wir haben überlebt. Das stimmt. Aber ich sehne mich wirklich sehr danach, von jemandem geliebt zu werden.

    Ich liebe mich selbst - und ich kann auch gut alleine sein - aber es schmerzt mich sehr, dass da niemand war und ist, der in einer echten und anhaltenden Beziehung mit mir war und ist. Jemand der mich sieht und liebt, wie ich bin. Für mich ist das tatsächlich bodenlos traurig. Die Lücke aus der Kindheit kann vielleicht niemand schließen - aber eine echte Verbindung/ein Partner, eine treue beste Freundin z.B. wären schon sehr tröstlich.

    Danke für das Teilen Deiner Gedanken, liebe Sare!

  • Ja, ich bin auch bodenlos traurig. Aber es belastet mich heute nicht mehr so dolle, das ist wohl unser Unterschied. Bis dahin war der Weg sehr schmerzhaft, aber ich bin auch ein sehr pragmatischer Mensch und "es ist wie es ist" ist wohl mein Mantra. Und damit lässt es sich aushalten. Außer Nachts, manchmal. Ich bin halt ein Mädchen der traurigen Gestalt.

    Ich drück dich!

  • Liebe Lanananana,

    auch ich kenne diesen durchdringenden Schmerz. Trauer begleitet mich in meinem Leben oft und leider halten die alten Gefühle von Scham und Schuld mich auch immer noch oft gefangen. Ich liebe meinen Mann und fühle mich sehr von ihm gesehen und geliebt. Aber auch mein Mann kann die Leerstelle und Wunde nicht füllen. Wir kennen uns bald dreißig Jahre und sind lange verheiratet. Ich habe auch eine langjährige Psychoanalyse gemacht und dennoch ist es so. Ich hoffe bald eine weitere (wohl Trauma-)Therapie zu beginnen, sobald ich einen Platz gefunden habe. Doch wie Du, denke ich, dass da wohl immer etwas von bleiben wird.

    Mit welcher Klarheit Du Deine Liebe zu Dir selbst aussprichst, berührt mich sehr. Das ist so schön und wichtig. Ich wünsche Dir von Herzen, dass das immer weiter wächst <3 !

    Liebe Grüsse

    Siri

  • Liebe Siri,

    über deine Nachricht freue ich mich besonders, weil ich auch deine Geschichte mit sehr großem Interesse verfolgt habe! On meiner Familie war zwar mein Vater der Trinker aber meine Mutter ist Narzisstin (wie aus dem Lehrbuch) und verhält sich genauso wie Deine - nur ohne dass sie trinkt (zumindest offiziell. Meine Mutter hat immer ein Doppelleben geführt insofern weiß ich es eigentlich gar nicht so genau). Ich denke oft darüber nach, was ich tue, wenn sie nicht mehr allein wohnen kann. Sie ist so böse und gemein - umso mehr, wenn die auf Hilfe angewiesen ist, dass ich mir nicht vorstellen kann, mich intensiver um die zu kümmern. Meinen größten Respekt, wie du es trotzdem versuchst. Eine meiner Therapeutinnen hat mir mal gesagt: Sie können nicht heilen, wenn sie auf dem Schlachtfeld stehen bleiben und rechts und links die Streifschüsse abbekommen, bevor die alten Wunden Schorf haben. Ich fand das ein starkes Bild.

    Es tut so gut, zu lesen dass ich doch nicht ganz allein bin mit meinen Problemen. Ich wünsche Dir auch von Herzen Kraft, Stärke und Klarheit! Vielleicht können wir uns hier gegenseitig unterstützen! Liebe Grüße!

  • Liebe Lanananana,

    ja, das denke ich auch, dass wir uns gegenseitig unterstützen können, auch wenn die Wege verschieden sind. Dem Bild Deiner Therapeutin stimme ich voll und ganz zu. Es ist ein sehr hilfreiches Bild, das ich mir auch selbst zu Herzen nehmen werde. Hab vielen Dank! Es ist wichtig, auf die eigenen Gefühle und Kraft zu hören und sie unbedingt ernst zu nehmen. Wenn sich hier etwas gegen den Kontakt regt, dann ist das ganz sicher richtig so.

    Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die Betreuung/Vorsorge für meine Mutter tatsächlich dauerhaft übernehmen kann. Es geht nur, wenn ich wieder zu meinen eigenen Dingen komme und konzentriert arbeiten kann und zudem nur aus der Ferne mit möglichst wenig Kontakt. Die Pflege selbst könnte ich niemals übernehmen.

    Es kommt darauf an, wie ich es schaffen werde mit der Art meiner Mutter umzugehen. Falls ich gleichsam auf dem Schlachtfeld erstarren und stehenbleiben sollte, wird es nicht gehen. Diese Gefahr ist da. So war es teilweise beim ersten Besuch Anfang des Jahres bei ihr. Beim letzten Besuch ging es besser. Und jetzt bei den Telefonaten geht es noch ein wenig besser, weil ich mich auf nichts Privates einlasse und nur Organisationsthemen, Notwendiges mit ihr bespreche. Da sie diese Dinge tendenziell überfordern, will sie die Gespräche immer kurz halten. Das kommt mir im Moment zu Gute. Sie versucht meist auch Privates von mir zu erfahren (wie es mir geht). Darauf gehe ich aber nicht ein. Denn sie hat solche persönlichen Informationen zu oft gegen mich gewendet.

    Es ist dennoch eine Herausforderung und ich werde oft nach solchen Telefonaten von schmerzhaften Gefühlen überwältigt und muss weinen. Wenn er da ist, nimmt mich mein Mann dann tröstend in den Arm, was mir sehr hilft.

    Ohne die Unterstützung meines Mannes, würde ich die Konfrontation mit der Situation meiner Mutter wohl eher nicht wagen. Ich bin froh, dass er mir die Federführung überlässt, mich aber zugleich tatkräftig unterstützt. Auch ist mir seine Sicht der Dinge wichtig. Er sieht anderes und reagiert anders. Ihre Angriffe hat sie bei den Besuchen auch gegen ihn gerichtet. Aufgrund der Distanz machen ihm die Angriffe nicht so viel aus, auch wenn er empört ist, sich ärgert und sich entschieden wehrt. Auch wenn ich so viele Jahre im Zentrum ihrer Angriffe stand und es für mich als Kind und später unsäglich schlimme Folgen hatte, erkenne ich die Muster nun besser. Das hilft mir.

    Was ich noch sagen möchte: Bei mir ist es so, dass ich in den letzten Jahren auch ohne Kontakt zu meiner Mutter innerlich mehr und mehr erstarrt bin. Ich habe mich vollkommen zurückgezogen. Das fiel mit der Pandemie zusammen, hat sicher aber auch mit beruflichen Problemen zu tun, über die ich hier nicht ausführlich sprechen möchte. Ich möchte aber nun kämpfen und meine Stimme wieder finden. Es ist mir beim ersten Besuch bei meiner Mutter klar geworden, dass mein berufliches Verschwinden und der Verlust meiner Stimmer sehr viel mit meiner Kindheit zu tun haben. Sie hat mir tatsächlich immer vorgehalten, ich spreche zu laut, zu leise, so schrill, ich sei hysterisch, solle nicht so schreien (obwohl nicht ich, sondern sie mich angeschrien hat). Dasselbe Spiel mit meiner Handschrift. Es ging darum, mich mundtot zu machen und das möchte ich nun überwinden, um wieder im Leben Fuss zu fassen.

    Ich hoffe, Du nimmst mir nicht übel, dass ich in Deinem Faden nun so viel von mir berichtet habe. Vielleicht ist meine Hoffnung, dass die Konfrontation mit meiner Mutter und meiner Kindheit mich weiterbringt, auch eine Illusion. Wenn ich merke, dass ich meine eigenen Dinge weiterhin nicht voranbringen kann, es zu viel Zeit und Kraft kostet, werde ich mir eingestehen müssen, dass es nicht geht.

    Hab nochmals vielen Dank für das hilfreiche Bild, das Du mir mitgegeben hast.

    Liebe Grüße

    Siri

  • Ich hoffe, Du nimmst mir nicht übel, dass ich in Deinem Faden nun so viel von mir berichtet habe.

    Nein! Ich freu mich sehr über den Austausch! Deine Gedanken sind hier jederzeit sehr willkommen! Ich bin überzeugt, dass das ein wertvoller Austausch für uns beide ist/ wird. Wann immer Du magst - schreibt gern. Ich wünsche Die für heute eine gute Nacht!

  • Meine Mutter ist im Januar gestorben und ich habe jetzt die absolute Gewissheit, dass sie sich niemals bei mir entschuldigen wird. Das hat den Schmerz erst tiefer gemacht, aber dann auch ruhiger. Vielleicht kann euch das etwas trösten. Also die Aussicht auf ein ruhiges Schlachtfeld.

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