Hallo zusammen,
mein Vater ist vor ein paar Tagen gestorben.
Er war Alkoholiker. Meine Mutter hat sich vor zehn Jahren von ihm getrennt. Da waren sie bereits 40 Jahre verheiratet.
Danach konnte er seiner Sucht unbegrenzt nachgehen. Sein körperlicher Verfall muss drastisch gewesen sein. Ich habe zwei Fotos mit einem Abstand von ein paar Jahren gesehen, die darauf schließen lassen.
An seinem neuen Wohnort habe ich ihn einmal besucht, und es hat mich fertig gemacht, ihn so leben zu sehen.
Das letzte Mal habe ich ihn im Jahr 2015 gesehen, als er meine Schwester besucht hat. Seitdem haben wir nur noch zu Geburtstagen telefoniert und seit 2018 nur noch Grußkarten verschickt, weil er keinen Telefonvertrag mehr hatte, nachdem er beim Telefonanbieter Schulden gemacht hat.
Nun ist er tot, und ich habe seine Wohnung aufgesucht. Das macht mich schier fertig zu sehen, wie einsam er die letzten Jahre gelebt hat. Seine Nachbarn haben sich um ihn gekümmert. Sie berichteten, dass er seit vier Jahren nicht mehr getrunken hat. Sein Körper hat es einfach nicht mehr zugelassen und war schon so zerstört. Die letzte Zeit muss er nur noch vor sich hin vegetiert haben, kaum was gegessen, kaum getrunken, aber ganz viel geraucht. Er sei nur noch Haut und Knochen gewesen und hat sich nur noch wacklig fortbewegt. Er wäre demnächst 73 Jahre alt geworden.
Ich bin so traurig, dass ich ihn nicht besucht und ermöglicht habe, würdig zu leben. Ich hatte immer Angst, was mich erwartet. Niemals hätte ich gedacht, dass er das Trinken aufgibt.
Leider kann ich nicht sagen, dass er ein guter Mensch war. An erster Stelle stand immer er. Er hat gelogen, er hat betrogen, ist betrunken Auto gefahren, hat finanziell über seinen Verhältnissen gelebt, er hat Gewalt gegenüber meiner Mutter ausgeübt. Es war so schlimm. Und ich bewundere meine Mutter, dass sie es nach so langer Zeit geschafft hat, sich von ihm zu trennen und sich ein neues Leben aufzubauen.
Meine gesamte Kindheit, Jugend und Leben als junge Frau war geprägt von den Exzessen meines Vaters. Gefühlsschwankungen, wie Wut, Hass, Enttäuschung und Mitleid aufgrund der Unberechenbarkeit seiner Gefühlslage, seiner Stimmung sind mir ein Leben lang bekannt gewesen. Die letzten zehn Jahre waren so ruhig und erholsam für mich, meine Schwester und meine Mutter.
Und nun treffen mich die Trauer, das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle so hart.
Mir vorzustellen, wie einsam er in seiner Wohnung tagein, tagaus saß, zum Geburtstag, an Feiertagen, zu Weihnachten und dass er gewartet hat, dass wir ihn besuchen, bricht mir das Herz.
Ich weiß, dass es dafür jetzt zu spät ist, trotzdem fühle ich mich schlecht.
Viele Grüße
J.