unsicherheit - wird man durch abstinenz selbstsicherer?

  • Hallo,

    meine Erfahrung ist die, daß meine Selbstsicherheit in der Zeit in der ich getrunken habe extrem im Keller war. Das lag daran, daß ich ein Doppelleben geführt habe - ich soff und das sollte / durfte ja keiner mitkriegen, wenigstens nicht das Ausmaß. Ich hatte also in einem Lügengebäude gelebt. Wenn man so lebt - Lügen, Schuldgefühle, die letzte Kraft brauchend um eine Fassade aufrechtzuerhalten - woher soll ein intaktes Selbstwertgefühl dann kommen, woraus soll es sich speisen?

    Das heißt nun aber nicht, daß sich das mit oder durch die Trockenheit alles normalisiert hat. Denn mein Selbstwertgefühl ist, bedingt durch meine individuelle Lebensgeschichte, seit frühester Zeit nicht so stabil wie es gesund wäre: das ist einer der Gründe warum ich in meiner Persönlichkeit überhaupt süchtige Strukturen entwickelt habe, eben als Ausgleich für ein durch Verletzungen in der Kindheit angeschlagenes Selbstbewußtsein.

    Dies allmählich heilen zu lassen erfordert mehr als Trockenheit allein. Aber ohne Trockenheit geht es gar nicht. Ohne Trockenheit gibt es nur eine Abwärtsspirale, die alles immer auswegsloser macht. Trocken wird das Hirn gesünder und die Lebensumstände werden stabiler. Und auf der Grundlage kann man anfangen zu arbeiten...

    LG Frank

  • Guten Tag Markus,

    erst einmal willkommen im Forum. Frank hat es m.E. sehr treffend beschrieben. Das Wort "Selbstbewusstsein" kann man ja auch umdeuten in "sich selbst bewusst werden". Und wie soll man sich selbst bewusst werden, wenn man ständig benebelt ist und sich und seinem Umfeld dauernd etwas vormacht?

    Ich trinke jetzt ein gutes halbes Jahr nichts mehr, und meine speziellen Erfahrungen sind:

    Ich fühle mich rundum besser, bin mir sicher die richtige Entscheidung getroffen zu haben und dies auch so beizubehalten. Dadurch werde ich automatisch selbstbewusster.

    Mein Gesundheitszustand hat sich schnell und stark verbessert, auch das stärkt und bestätigt.

    Ich bekomme viel Bestätigung aus meinem Umfeld (privat, Verein, Beruf), dass ich mich positiv verändert hätte. (ohne teilweise zu wissen, dass ich keinen Alkohol mehr trinke!) Diese Bestätigungen sind ganz wichtig für mein Selbstbewusstsein, ich selbst kann mir ja viel erzählen.

    So, das viel mir mal auf die Schnelle ein,

    noch einen schönen Tag

    Volkmar

  • Hallo,

    Selbstbewußtsein ist was anderes als Selbstwertgefühl.
    Bekanntermaßen trinken Menschen, um Ihr Selbstbewußtsein in einer aktuellen Situation mit anderen Menschen zu heben und das scheint in Maßen ja auch zu funktionieren.
    Das Selbstwertgefühl ist das, was überbleibt, wenn ich mich und mein eigenes Leben allein und in aller Stille reflektiere.
    Nach meiner Erfahrung schaffen es aktive Alkoholiker bestens, hohes Selbstbewußtsein mit geringem Selbstwertgefühl zu paaren.

    Als abstinenter Alkoholiker liegen Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein idealerweise in Waage.

    LG Jürgen

  • Hallo Markus,


    mein Selbstbewußtsein ist nach fast elf Monaten ohne Alkohol noch immer ziemlich weit unten. Ich habe sehr viele Dinge verändert und meine Lebensweise umgestellt, aber zwei Dinge die mir jetzt erstmal gleich nach dem "ohne Alkohol leben" am wichtigsten sind, werden noch einiges an Zeit in anspruch nehmen (abnehmen&Führerschein).

    Kleine Erfolge im Alltag und vor allem der Sport heben aber meine Stimmung etwas und machen die Zeit erträglicher. Der offene Umgang mit meiner Krankheit erleichtert vieles, aber nagt auch etwas an meinem Selbstbewußtsein, aber ich schätze das legt sich mit der Zeit.

    Ich denke je mehr positive Erlebnisse ich habe und je kleiner die Baustellen werden, an denen ich arbeite, desto größer wird auch das Selbstbewußtsein, oder das Selbstwertgefühl, wie Jürgen es so schön gesagt hat.

    Das dauert aber, je nach Baustellengröße, seine Zeit. Aber je mehr Zeit verstreicht, umso klarer wird der neue Weg.


    lg Maik

  • Hallo Markus,

    ich erleb(t)e es so: In meiner nassen Zeit versuchte ich meine Unsicherheit mit einer gewissen Lautstärke zu kompensieren.
    Ängste und alles andere was ich für "schwach" hielt, habe ich mir nicht eingestanden und bin drüber weggangen & habe es mit Hilfe vom Alkohol ausgeblendet.

    Was ich als erleichternd und hilfreich empfinde ist, dass dieser Selbstbetrug, der zu nassen Zeiten an der Tagesordnung war, entfällt. Ich muss mir nicht mehr Gedanken darüber machen, was ich gesagt habe obwohl ich das nicht so meinte, wo ich mich wie verstellt habe, damit meine Ängste nicht auffallen.

    Zu meinem Ernüchterungsprozeß gehörte, mich meinen Unsicherheiten zu stellen. Ich bin dadurch "sicherer" geworden, weil ich heute versuche, ehrlich zu mir zu sein... und dies jeden Tag weiter übe. Eben zu meinen Ängsten und Unsicherheiten zu stehen. Ich versuche, meine eigene Meßlatte nicht zu hoch zu legen. Und stelle fest, dass dies "menschlicher" macht. Unsicherheiten werden mir so verziehen.

    Grüße
    Maria

  • Hallo Markus,

    mir waren in meiner nassen Zeit Unsicherheiten überwiegend gleichgültig, solange der Alkoholpegel stimmte. Es war eine Erleichterung, diese Gleichgültigkeit zu spüren, da ich dann aufhören konnte, anderen Menschen Grenzverletzungen ständig durchgehen zu lassen und/oder ihnen mit endloser Geduld und Verständnis zu begegnen oder sie ständig unterstützen zu müssen. Dann war ich für mich allein und hatte endlich Ruhe.
    Ich erinnere mich aber auch sehr gut an die Situationen, in denen ich mit zitternden Händen kaum den Kreditkartenbeleg an der Tankstelle unterschreiben konnte, um Nachschub zu holen oder Fragebögen bei Behörden ausfüllen musste. An Tage, wo ich bei 28 °C strahlendem Sonnenschein als Einzige im Supermarkt mit Regenjacke unterwegs war, um möglichst viel von mir zu verbergen. Sicherheit und Unsicherheit also in gleichem Maße.

    Deine Frage bringt mich in erster Linie zurück an die Anfänge meiner Abstinenz, die ersten Tage: Das Körperempfinden. Auch hier die Schwäche, der Gang wie auf rohen Eiern, den Kopf ständig gesenkt, die Unfähigkeit, in Mahlzeiten mehr zu sehen als notwendige Nahrungsaufnahme, diese Unsicherheit vor Situationen und Menschen und der damit verbundenen Ängste.
    Ich habe die Veränderungen in dieser Hinsicht mit jedem weiteren Tag der Abstinenz bei mir ganz bewusst erlebt. Dadurch, dass ich körperlich nicht mehr so verwackelt war, entstand auch eine neue Sicherheit im Umgang mit Menschen und Situationen.
    Ich grübele jetzt nicht mehr so häufig vorher darüber nach, sondern ziehe oft los und mache einfach. Dazu wäre ich noch vor Wochen nicht auf diese Weise fähig gewesen, weder nass noch trocken.

    Natürlich ist es ein weiter Weg, denn wie Frank bereits erwähnt hat: Wir haben nicht aus lauter Jux und Dollerei süchtige Tendenzen entwickelt und Trockenheit ist für mich nur die notwendige Basis um an meinen Schwachstellen zu arbeiten.
    Neulich bin ich z.B. aufgebrochen um zur Müllkippe zu fahren, die gerade mal sechs Kilometer entfernt ist hier auf dem platten Land. Trotz allem für mich eine Herausforderung, da ich noch nie dagewesen war: Unbekanntes Terrain. Mit Navi und Landkarte bewaffnet habe ich mich auf den Weg gemacht, als wollte ich zu einer Expedition an den Südpol aufbrechen. Ich habe mich – wie üblich – erstmal verfahren, da ich zuviel nachgedacht hatte vor dieser verhältnismäßig einfachen Operation. Dann gurke ich halt solange herum, bis ich das Ziel gefunden habe, auch wenn Andere mich nachsichtig belächeln. Ich war da, es hat mich wieder einen kleinen Schritt weitergebracht und nur das zählt für mich :) .

    Unsicherheiten werden weniger und die Erfahrungen mache ich zwangsläufig.
    Ich finde es interessant, was Jürgen zu Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl schreibt.
    Für mich bedeutet Selbstbewusstsein nur eines: Sich selbst bewusst zu sein, in erster Linie über die eigenen Schwächen und Stärken, sich selbst zu kennen. Ebenfalls nur die Basis für eine Menge Arbeit für mich und an mir ;) um zum Selbstwertgefühl zu gelangen und damit zu Stabilität. Wo die Meßlatte liegt, muss Jeder für sich bestimmen. Ich denke, ich kann nicht alles können und ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken, dass ich manches auch nicht können will.

    Gruß
    Katharsis

  • Hallo Markus

    Zitat

    Frage an alle. Wie habt ihr das erlebt, man kennt es ja das in nassen Zeiten man unsicher ist. Wird es wirklich mit der Zeit immer weniger, und man bekommt Selbstbewusstsein? Erfahrungen?

    für mich war es scheinbar so aber nur weil ich nass dachte. Heute bringe ich ein mangelte es, gesundes , gut oder schlechtes Selbstbewusstsein / Selbstwertgefühl nicht mehr mit Alkohol in Verbindung . So entferne ich mich auch geistig davon das Alkohol irgendwelchen Stellenwert hat, außer das er mich umbringt.

    Gruß Hartmut

    Gruß Hartmut

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    Wer will, findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe!

  • Hallo Markus,


    diese Unruhe und Unsicherheit nachdem Du getrunken hast, hängt zum größten Teil auch mit dem Entzug zusammen.

    Dein Körper produziert beim Trinken eine vielzahl von Hormonen, die Dich vorrübergehend z.B. glücklich machen und Dir Selbstbewußtsein geben. Ziemlich komplizierte Vorgänge im Körper.

    Je länger die Phase in der Du trinkst andauert desto mehr Hormone und Vorgänge in Deinem Körper werden aktiviert die irgendwie ausgeglichen werden müssen. Dein Körper produziert wieder andere Hormone die diesen Prozessen entgegenwirken.

    Lässt Du den Alkohol nun plötzlich weg sind diese Prozesse die dem Alkohol entgegenwirken aber immer noch aktiv und das bedeutet absolutes Chaos im Kopf. Zittern, Unruhe, unsicheres Gehen, Schwitzen, Panikattacken bis hin zu epileptischen Anfällen können die Folge davon sein, je nachdem wieviel und wie lange Du getrunken hast.

    Es dauert bis zu einer Woche bis der Körper das wieder ausgeglichen hat, deshalb sollte man auch immer mit seinem Arzt absprechen wenn man mit dem Trinken aufhört und den Entzug in einer Klinik machen wo man Medikamente gegen diese Entzugserscheinungen bekommt.

    Bei mir war es manchmal so schlimm dass ich wenn ich mir am nächsten Morgen "Nachschub" aus dem Supermarkt holen wollte, ich die ganze Zeit mit Panik durch die Stadt fuhr. Die pure Angst, bin fast über meine eigenen Füße gestolpert, habe geschwitzt und konnte im Supermarkt keinen ins Gesicht sehen.

    Ein Alptraum wenn ich in einem Supermarkt war, wo ich an der Kasse unterschreiben musste und hinter mir stand jemand. Einmal bin ich einfach rausgerannt aus dem Supermarkt und hab alles an der Kasse stehengelassen, weil ich dachte mein Herz bleibt gleich stehen. Erst wenn der "Pegel" wieder ausgeglichen war, ging es mir langsam besser.


    lg Maik

  • Hallo Markus,

    ein schlechtes Gewissen kann schon auch dafür sorgen, dass Du Dich in Deiner Haut unwohl fühlst, klar.

    Zwei Bier sind ein Rückfall. Was hast Du denn gedacht, was ein Rückfall ist? Drei oder Vier? Alkohol ist Alkohol und das erste Glas ist eins zuviel.

    lg Maik

  • Hallo Markus,

    zu dem Thema, wie der Alkohol im Körper wirkt und was er damit verursacht, gibt es eine Menge Bücher. z.b. "Jetzt ist es genug" oder auch "Alk. Fast ein medizinisches Sachbuch".

    Ich finde, das sind zwei sehr gute Bücher für den Einstieg. Sind auch sehr schnell zu lesen, da sie nur so 130 und 180 Seiten haben, im Taschenbuchformat.

    Danach würdest du nicht mehr fragen, ob zwei Bier ein Rückfall sind.

    Um es mal ganz kurz zu sagen: Alkohol ist Suchtmittel. Auch kleine Mengen verursachen den Drang nach mehr.
    Deshalb funktioniert ja auch das kontrollierte Trinken nicht!

    Deine Selbstsicherheit, kommt recht schnell zurück, wenn du mit dem Alkohol komplett abgeschlossen hast! Kramfhaft nur nicht trinken, reicht da aber nicht, es muss auch im Kopf stimmen.

    Viele Grüsse
    Zotti

  • glück auf markus

    Zitat von meteora006

    ... sind zwei Flaschen Bier schon ein rueckfall?

    sogar 2 flaschen "alkoholfreies bier" sind für mich n rückfall - weil schon der geschmak, appetit auf "richtiges bier" macht.

    schöne zeit

    :D
    matthias

    trocken seit 25.4.1987 - glücklich liiert - 7 Kinder - 17 Enkel

  • Also ein schlechtes Gewissen hatte ich selten, aber Entzugserscheinungen nach dem Saufen hatte ich natürlich.
    Dopamin vs Glutamat
    Das Zeug macht ja nicht nur die Psyche sondern auch den Körper kaputt. Was deutlich zu merken ist.
    Die Frage mit den 2 Bieren finde ich eigenartig.
    Beschäftigst du dich mit deinem zukünftigen Alkoholkonsum?

  • Hallo zusammen,

    in Sachen Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit hat sich bei mir ziemlich schnell einiges zum Positiven entwickelt. Der Hauptgrund dafür ist bei mir die Tatsache, dass ich mich selbst "ausstehen" kann und ehrlich mir gegenüber bin. Ich kann mich nüchtern oft ganz gut leiden, weil ich stolz darauf bin, was ich seit Ende Januar mir und meinen Mitmenschen geben kann. Dadurch kann ich wieder in den Spiegel gucken und mich selbst annehmen.

    Natürlich gibt es Situationen, in denen mein Selbstbewusstsein angekratzt ist - vor allem solche, in denen selbstsicheres Auftreten oder Sprechen vor Anderen gefragt ist. Das empfinde ich aber als normal - ich hab jahrelang mein Ich weggesoffen, da kann ich ja nicht erwarten, dass sofort alles fluppt. :roll:

    Ich glaube aber, dass die Basis meines Selbstbewusstseins eine gute ist, an der ich weiter arbeiten kann.

    LG Nala

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