Liebe Wegbegleiter,
heute möchte ich darüber schreiben, wie ich Alkoholikerin geworden bin:
Die ersten 29 Jahre meines Lebens habe ich nahezu alkoholfrei verbracht. Ich habe zwar einiges probiert - in jungen Jahren beim Ausgehen auch Bier bestellt, weil es das billigste Getränk war - aber wirklich geschmeckt hat mir kein alkoholisches Getränk.
Ich habe eine lange Ausbildung gehabt und viele Prüfungen abgelegt. Im ersten Teil dieser Ausbildung habe ich wegen des Prüfungsdrucks Einschlafschwierigkeiten gehabt. Ich habe teilweise stundenlang wachgelegen und dabei auch unter Herzklopfen gelitten. Ich bin aber nie auf die Idee gekommen, Alkohol als Einschlafhilfe zu benutzen. Ganz einfach, weil er mir nicht schmeckte. Deshalb habe ich nicht mal an ihn gedacht.
Dann habe ich mit 29 Jahren das erste Mal einen Martini Bianco getrunken. Und den fand ich so lecker, dass ich ihn öfter trinken wollte. So geht es mir auch mit anderen Getränken oder Lebensmitteln. Wenn ich eine neue leckere Schokolade entdecke, möchte ich gerne am Anfang öfter davon naschen.
Mit dem Martini war das genauso - alles im Rahmen und übersichtlich. Ca. drei Monate später begann aber die zweite „heiße“ Ausbildungsphase, die drei Jahre andauerte. Der Druck kam wieder und ich stellte fest, dass ich den Martini ganz wunderbar zwischen mich und den Druck stellen konnte. Einschlafen war kein Problem und ich fühlte mich abends wunderbar entspannt. Dass es keine Entspannung, sondern Betäubung war, war mir nicht klar.
Ich sorgte mich auch nicht, denn ich brauchte ja nicht viel, um die Wirkung einsetzen zu lassen. Ein Getränk hat gereicht.
Aber diese funktionale Verknüpfung von Druck, Einschlafschwierigkeiten und der Wirkung von Alkohol war fatal. Heute ist mir klar, dass ich unbedarft mit beiden Beinen in den Alkoholismus sprang.
Am Ende der Ausbildung hatte ich mich dann an das regelmäßige (noch maßvolle) Trinken gewöhnt. Leider wurde der Druck nach dem Examen nicht weniger. Ich habe als 32-jährige Berufsanfängerin über lange Zeit ca. 60 Stunden in der Woche gearbeitet und trotzdem einen Berg an Arbeit vor mir hergeschoben. Dies lag nicht an mir, sondern an der völligen Fehlplanung meines Arbeitgebers. Es war eine sehr belastende Situation, in der der abendliche Alkoholgenuss mich schnell „entspannte“ und auf andere Gedanken brachte.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich nach ungefähr zwei Jahren Berufstätigkeit (und damit gut 5 Jahren maßvollen, aber regelmäßigen Trinkens) in einer Buchhandlung auf ein Buch über Alkoholismus stieß. Es zog mich an (na klar, insgeheim wusste ich schon, dass ich Grund hatte, besorgt zu sein), ich kaufte und las es. Ich weiß noch, dass es mich beim Lesen der Stichworte „regelmäßig“, „täglich“, „kein Tag ohne“ durchzuckte: Das passt auf mich! Ich bin Alkoholikerin!!!!
Aber dann kamen ganz schnell beschwichtigende Gedankten: Quatsch! Doch nicht bei so „kleinen“ Mengen! Das würde ja bedeuten, dass du nie wieder Alkohol zu dir nehmen dürftest! Nein, das passt gar nicht auf dich! Du trinkst wenig, machst Karriere, bist diszipliniert und verlierst nicht die Kontrolle beim Trinken.
Der Kontrollverlust war ein anderes wichtiges Thema im Buch. Das findet sich ja auch in vielen Fragebögen: „Kippen Sie das erste Glas schnell hinunter?“
Heute weiß ich, dass ich damals tatsächlich bereits Alkoholikerin war. Der Kontrollverlust lag nicht im schnellen Runterkippen oder dem Trinken bis zum Blackout, sondern in der Regelmäßigkeit des Konsums. Darüber hatte ich nämlich schon viel früher die Kontrolle verloren. Und dann steigerte sich mit den Jahren die Menge und die Kontrolle darüber.
Rückblickend würde ich sagen, dass ich noch während der Ausbildung alkoholkrank geworden bin. Also relativ kurz nach dem regelmäßigen Konsum.
Seitdem ich mich so intensiv mit Alkoholismus beschäftige - also seit drei Monaten - fällt mir immer wieder auf, dass vielfach erst Alkoholkranke, die schon fast alles verloren haben oder auf der Intensivstation liegen - als erkrankt beschrieben werden. Selbst heute erkenne ich mich in einigen Berichten / Büchern / Filmen über Alkoholismus
nicht wieder. Ohne meine Erfahrungen der letzten Jahre würde ich mich - wenn ich diese Quellen als Maßstab nehme - immer noch als gefährdet, aber nicht erkrankt einschätzen. Aber das ist totaler Quatsch.
Als ich angefangen habe, Alkohol zu funktionalisieren, hatte ich bereits ein heftiges Problem.
Ich wünsche euch ein schönes trockenes Wochenende!
Viele Grüße,
MieLa